07.05.2003FDP

WESTERWELLE-Interview für "General-Anzeiger"

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende Dr. GUIDO WESTERWELLE gab dem
"General-Anzeiger" (Mittwoch-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten DR. THOMAS WITTKE und DR. HELMUT HERLES:

Frage: MÖLLEMANN ist weg, und schon hat die FDP Schwierigkeiten, in die Schlagzeilen zu kommen.

WESTERWELLE: Die besten Schlagzeilen machen wir mit guten Wahlergebnissen. Wir haben auch dieses Jahr bei den Landtags- und Kommunalwahlen in Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein vorzüglich abgeschnitten. Augenscheinlich wird unsere solide Sacharbeit sehr geschätzt.

Frage: Wie einschneidend waren die Vorkommnisse um MÖLLEMANN für Ihre erste Amtsperiode als FDP-Chef?

WESTERWELLE: Das war sehr belastend, auch persönlich, aber das ist Vergangenheit. Wenn man in jungen Jahren Parteichef wird, zahlt man auch Lehrgeld. Gleichwohl waren die letzten zwei Jahre die erfolgreichsten Jahre der FDP seit der Deutschen Einheit.

Frage: Manchmal hatte man den Eindruck, das "F" im Parteinamen stehe für Firlefanz.

WESTERWELLE: Das war nie der Fall. Unsere Strategie bestand und besteht aus drei Schwerpunkten, die über den Parteitag in Bremen hinaus Gültigkeit behalten werden: Die FDP hat sich von dem Image, sie sei eine Partei nur für die feine Etage der Gesellschaft, verabschiedet. Wir haben daneben als Partei für das ganze Volk die Eigenständigkeit der FDP wieder ins Bewusstsein gerufen: Das heißt, dass wir uns nicht zuerst über Koalitionen definieren, sondern über unsere Inhalte. Schließlich: Wir wenden uns auch mit unkonventionellen Methoden an die Bürger, besonders an junge Menschen, die sich sonst nicht für Politik interessieren.

Frage: Bleibt es bei der Äquidistanz zwischen Union und SPD?

WESTERWELLE: Wir sind unabhängig, aber die Lage hat sich nach den Bundestagswahlen deutlich verändert. Rot-Grün fährt mit Steuer- und Abgabenerhöhungen bislang ein wirtschaftliches Hinrichtungsprogramm für Deutschland...

Frage: Sie haben doch gerade Unterstützung für SCHRÖDER angeboten!

WESTERWELLE: Das sollten Sie nicht missverstehen. Wir stehen in Opposition zur Regierung. Insbesondere zu diesem Bundeskanzler. Aber wenn es jetzt endlich erste neue Einsichten geben sollte, werden wir das unterstützen.

Frage: Wäre ein anderer SPD-Kanzlerkandidat besser?

WESTERWELLE: Es gibt Sozialdemokraten, die mehr für marktwirtschaftliche Erneuerung stehen als Herr SCHRÖDER. WOLFGANG CLEMENT müsste seine ursprüngliche Statur behalten. Aber das ist leider Theorie.

Frage: Aber biedern Sie sich mit dem Toleranzangebot nicht an?

WESTERWELLE: Die FDP ist nicht das Reserverad der Regierung. Wenn Rot-Grün platzt, setzen wir auf Neuwahlen. Und zwar schnellstmöglich.

Frage: Unterstützen Sie SCHRÖDERS Agenda, wenn er die Vertrauensfrage mit ihrer Durchsetzung verbindet?

WESTERWELLE: Nein. Wir unterstützen, was vernünftig ist, damit die Regierung sich nicht von den Linken und den Gewerkschaftsfunktionären erpressen lassen muss. Aber das war es dann auch.

Frage: Und in der Sache?

WESTERWELLE: In den einigen Punkten der Agenda, die gut sind, hat der Kanzler unseren Rückhalt. Aber wir übersehen nicht die Dutzenden falschen Maßnahmen und Drohungen in dem SCHRÖDER-Katalog. Wir sind zu keiner Duldungsampel bereit. Aber nochmals: Was in der Sache vernünftig ist, werden wir mittragen. Ich kann doch einem 16-Jährigen auf Lehrstellensuche oder 56-jährigen Arbeitslosen nicht erklären, er möge 2006 wiederkommen, wenn es eine bessere Regierung gibt. Die zeigen mir heute ´nen Vogel. Deutschland hat keine Zeit zu verlieren.

Frage: Sie zeigen also inhaltliche Milde.

WESTERWELLE: Davon kann keine Rede sein. Aber: Jahrelang forderten wir beispielsweise die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe oder das Prinzip "keine staatliche Leistung ohne die Bereitschaft zur Gegenleistung". Das sind Originalforderungen der Liberalen. Wenn der Kanzler das jetzt übernimmt, leide ich doch nicht plötzlich an Amnesie und vergesse unsere eigenen Forderungen.

Frage: Und die Union?

WESTERWELLE: Die FDP begrüßt, dass in beiden größeren Parteien ein Stückchen Bewegung stattfindet, wenn auch zaghaft! Die Union übernimmt jetzt ebenfalls FDP-Forderungen, für die wir noch im Sommer als Turbo-Kapitalisten in einer Ellbogen-Gesellschaft beschimpft worden sind. Die FDP hat Recht behalten. Es besteht jetzt eine Chance für eine überparteiliche Mehrheit der Vernunft zur marktwirtschaftlichen Erneuerung und der Reform des Sozialstaates.

Frage: Sie verstehen sich als Partei des ganzen Volkes: auch der Mitglieder im DGB?

WESTERWELLE: Ja sicher, die Arbeitnehmerinteressen werden in der FDP besser wahrgenommen als durch die verkrusteten DGB-Funktionäre. Unsere Mittelstandspolitik schafft Arbeitsplätze. Wir müssen soziale und wirtschaftliche Vernunft gegen die roten Gewerkschaftsfahnen setzen.

Frage: Die FDP war stets für die zusammengelegte Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Wie steht es mit den in der Regierung angedachten Leistungssätzen?

WESTERWELLE: Ich kann nicht kommentieren, was der Regierung vage vorschwebt, sondern nur was sie tatsächlich vorlegt. Der Kanzler hat davon gesprochen, das Niveau soll "etwa" in der Höhe der bisherigen Sozialhilfe sein. Konkreteres gibt es nicht - bis auf die Gewissheit, dass die Antragskommission für den SPD-Sonderparteitag noch kräftige Änderungen vorhat. Ich hoffe, die Regierung lässt sich nicht weich kochen.

Frage: Wie sollen die Reformen funktionieren, wenn es so wenig offene Stellen wie zur Zeit gibt?

WESTERWELLE: Mit unserem Angebot einer Mehrheit der Vernunft leisten wir eine Anschubhilfe in Sachen Reformen. In Wahrheit muss noch viel mehr Eis gebrochen werden. Nur dann haben wir eine Chance, zu Wachstum, neuen Investitionen und neuen Arbeitsplätzen zu kommen. Die so genannten HARTZ-Reformen hatten das Ziel, Arbeitslosigkeit effizienter zu verwalten. Das bringt uns - wie man sieht - aber nicht weiter. Nur bei mehr Investitionen und Konsum durch Vertrauen entstehen neue Arbeitsplätze.

Frage: Wie steht es mit der RÜRUP-Forderung, das Renteneintrittsalter auf 67 heraufzusetzen?

WESTERWELLE: Das lehnen wir ab. In der modernen Arbeitswelt einer globalisierten Informationsgesellschaft kann man nicht ernsthaft die These vertreten, das gesetzliche Renteneintrittsalter auf 67 Jahre oder - wie aus der Union jetzt gefordert - auf 70 Jahre zu setzen. Wir müssen die durchschnittliche tatsächliche Lebensarbeitszeit verlängern. Ein Jahr längere durchschnittliche Lebensarbeitszeit bedeutet die Senkung der Rentenbeiträge um etwa ein Prozent. Deswegen muss durch eine Bildungsreform das Berufseintrittsalter jünger werden. Unsere junge Generation kommt zu spät in den Beruf.

Frage: Die Regierung will die Senkung des Rentenbeitrags durch die Kürzung der Arbeitslosengeldbezugsdauer auf 18 Monate für über 55jährige erreichen. Ein geeigneter Weg?

WESTERWELLE: Es darf nicht sein, dass sich Unternehmen auf Kosten der Allgemeinheit ihrer Beschäftigten durch Frühpensionierung entledigen. Auch der "Goldene Handschlag" im Öffentlichen Dienst gehört gestoppt. Die Kosten dafür zahlt der Steuerzahler und nicht zuletzt der Mittelstand in Gestalt von höheren Abgaben.

Frage: Wie steht es mit der Unionsforderung, Rentenhöhe nach Beitragsjahren zu bemessen?

WESTERWELLE: Das ist grundsätzlich vernünftig.

Frage: Wie kann aus Sicht der FDP die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen gewendet werden?

WESTERWELLE: Durch eine konsequente Abschaffung von Budgetierung und Rationierung. Planwirtschaft hat im Gesundheitswesen nichts zu suchen. Wir müssen Anreize einbauen, beispielsweise Bonus-Systeme. Warum bieten private Kassen den Anreiz von Beitragsrückerstattung an, Ortskrankenkassen aber nicht? Das ist ein Strukturfehler. Einige AOK haben das versucht und sind von der rot-grünen Planwirtschaft sabotiert worden.

Frage: Gibt es eine Zumutbarkeitsgrenze für Selbstversicherung?

WESTERWELLE: Ja, das ist eine ordentliche Grundversorgung für alle.

Frage: Und die Politiker gehen mit schlechtem Beispiel voran.

WESTERWELLE: Wir verlangen, dass die Politiker mit den Reformen bei sich selbst anfangen. Die Politiker dürfen sich jetzt nicht schonen. Schauen Sie nur auf den Kieler Diätenskandal von Union und SPD. Wir haben Änderungen im Bundestag beantragt und suchen noch nach Verbündeten. Künftig sollen sich die Abgeordneten nicht selbst die Erhöhung bewilligen, sondern eine unabhängige Kommission soll darüber entscheiden. Und Politiker sollten künftig für ihr Alter selbst vorsorgen wie andere Freiberufler auch.

Frage: Sie machen einen gelösten Eindruck?

WESTERWELLE: Das hängt einfach damit zusammen, dass viele Themen, die jetzt diskutiert werden, von Liberalen angestoßen worden sind. Die Politik läuft in vielen Bereichen auf uns zu.

Frage: Welches Signal soll vom Bremer Parteitag in der kommenden Woche ausgehen?

WESTERWELLE: Die Botschaft lautet: Die FDP hat die Antworten auf die Fragen der Zeit, sie hat sich neu aufgestellt, wieder Tritt gefasst und setzt die Serie der Wahlerfolge fort.

Frage: In Bremen kämpfen Sie am 25. Mai mit der Fünf-Prozent-Hürde.

WESTERWELLE: Da sind ähnlich wie in Niedersachsen neun bis zehn Prozent drin, weil es viele Wähler gibt, die weder Rot-Grün wollen noch eine Große Koalition, die Bremen zum Schlusslicht bei der Bildung und der wirtschaftlichen Entwicklung gemacht hat.

Frage: Unterstützen Sie ANDREAS PINKWART als FDP-Vize?

WESTERWELLE: Meine Stimme hat er.

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