01.05.2003FDP

WESTERWELLE-Interview für den "Weser-Kurier"

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab dem Bremer "Weser-Kurier" (heutige Ausgabe) das folgende Interview, vor allem zu den Themen "1. Mai" und "Bürgerschaftswahlen Bremen". Die Fragen stellten HARTMUT FRITZ und HANS-GÜNTHER THIELE:

Frage: Wie viel Prozent der Stimmen hatte die FDP bei der letzten Wahl in Bremen?

WESTERWELLE: Zu wenig.

Frage: Wissen Sie es genau?

WESTERWELLE: Ja, ich weiß es genau. Die Zahl ist so unerfreulich, dass ich sie nicht mehr nenne. Aber in den letzten beiden Jahren haben wir zehn Wahlen gehabt und bei jeder gewinnen können. Zum Teil mit spektakulären Zuwächsen. Die Zahl unserer Landtagsabgeordneten haben wir von 55 auf 110 verdoppeln können.

Frage: Was ist der Grund dieser Erfolge?

WESTERWELLE: Die Gesellschaft bewegt sich auf die Themen der FDP zu. Was an marktwirtschaftlicher Erneuerung noch vor kurzem als neoliberaler Turbokapitalismus beschimpft wurde, gilt heute als gesunder Menschenverstand.

Frage: Wird die FDP die fünf-Prozent-Hürde in Bremen überspringen?

WESTERWELLE: Ich rechne damit, dass wir ungefähr beim gleichen Ergebnis landen wie in Niedersachsen: Um neun Prozent, vielleicht sogar zehn.

Frage: Die Gesellschaft bewegt sich auf die FDP zu, die anderen Parteien übernehmen Ihre Thesen zum Teil. Weshalb noch FDP wählen, wenn Sie dem zustimmen, was Bundeskanzler GERHARD SCHRÖDER will?

WESTERWELLE: Wenn Sie nach dem fragen, was Herr Schröder vorgelegt hat, sage ich, er darf sich von den Linken in seiner Koalition und von den Gewerkschaftsfunktionären nicht erpressen lassen. Den vernünftigen Vorschlägen werden wir als konstruktive Oppositionspartei auch zur Mehrheit im Deutschen Bundestag verhelfen. Die Arbeitslosen haben keine Zeit zu warten, bis diese Regierung tatsächlich gefallen ist. Diese Haltung unterscheidet uns eindeutig von der Union.

Frage: Sie haben einen Aufstand der Anständigen gegen die Gewerkschaften verlangt. Was ist unanständig an dem, was die Gewerkschaften verlangen?

WESTERWELLE: Ich finde es geradezu unanständig, dass Gewerkschaftsvertreter wie Frau ENGELEN-KEFER oder Herr BSIRSKE nur noch an ihre Ledersessel denken und ihre Arbeit nur noch als Dienstwagen-Verteidigungsprogramm verstehen. Ich finde es unanständig, dass diese Gewerkschaftsbosse überhaupt kein Herz mehr haben für Arbeitslose, die Arbeit suchen. In Bremerhaven sind es immerhin 19 Prozent, die arbeitslos sind. Unanständig ist, dass diese Gewerkschaftsfunktionäre sogar das Minimalprogramm des Bundeskanzlers blockieren wollen. Denn nötig wäre viel mehr, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren.

Frage: Was wäre mehr notwendig?

WESTERWELLE: Es wäre notwendig, dass wir ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem angehen. Das ist ein entscheidender Wettbewerbsnachteil Deutschlands in Europa und in der Welt. Und es ist mir völlig egal, ob Frau ENGELEN-KEFER einen Kopfstand macht und mit den Ohren wackelt und behauptet, die soziale Gerechtigkeit in Deutschland werde durch mich gefährdet ? solche Leute müssen weg. Frau ENGELEN-KEFER hat erst im Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit dem früheren Präsidenten Herrn JAGODA es unmöglich gemacht, die Behörde zu reformieren. Jetzt macht sie dort dem neuen Chef, Herrn GERSTER, das Leben schwer. Diese Frau ist eine Inkarnation des Klassenkampfes. Über Marx und Lenin ist sie nicht wesentlich hinausgekommen.

Frage: Was sagen Sie denn zu der Wirtschaft, zu den Vertretern der Arbeitgeberverbände?

WESTERWELLE: Auch dort muss die Kraft für Reformen noch wachsen. Allerdings sehe ich erste hoffnungsvolle Ansätze. Die Arbeitgeberfunktionäre sind wenigsten gesprächsbereit. Sehr viel mehr Reformkraft wünsche ich mir bei der Liberalisierung der starren Flächentarifvertragssysteme.

Frage: Steuern senken sagt sich so einfach, aber wir müssen auch noch Ostdeutschland finanzieren. Können wir da so einfach mit der ausländischen Konkurrenz mithalten?

WESTERWELLE: Wir werden wohl müssen. Es ist doch sonderbar, dass sich derjenige wie ein Exot rechtfertigen muss, der in Deutschland Steuersenkungen fordert. In anderen Ländern werden die Steuern gesenkt ? mit dem Ergebnis, dass in ganz Europa das Wirtschaftswachstum besser ist als bei uns in Deutschland.

Frage: Und wo bleibt die liberale Sozialpolitik?

WESTERWELLE: Wir sind gegen den Wohlfahrtsstaat, der an alle ein wenig verteilt. Wir wollen den Sozialstaat, der mit Treffsicherheit seine Leistung an die wirklich Bedürftigen verteilt. Der Staat ist nicht eine soziale Hängematte, sondern ein soziales Trampolin. Wenn jemand fällt, gibt er ihm die Chance, wieder nach oben zu kommen.

Frage: Und wie soll Bremen nach oben kommen?

WESTERWELLE: Bremen hat die höchste Arbeitslosigkeit, die kaputtesten Staatsfinanzen und laut der PISA-Studie das mit Abstand schlechteste Bildungssystem. Das ist wirklich ein Grund, mit der großen Koalition ins Gericht zu gehen ? mit der SPD und der CDU. Aber die CDU will diese Koalition fortsetzen. Ich werfe ihr vor, dass sie überhaupt kein Interesse mehr daran hat, die Lage Bremens zu verbessern, sondern sich in persönlich bequemen Umständen eingerichtet hat.

Frage: Oder ist die CDU nur realistisch?

WESTERWELLE: Wenn CHRISTIAN WULFF so hasenfüßig und mit so wenig Mumm in die Wahl in Niedersachsen gegangen wäre, wie Herr NEUMANN hier in Bremen, wäre er heute nicht Ministerpräsident, und wir hätten keine schwarz-gelbe Koalition in Hannover. Drei Parteien in Bremen wollen die SPD an der Regierung haben: Die CDU, die Grünen, und naturgemäß die SPD selbst. Und es gibt nur eine Partei, die sagt, ein Wechsel ist in Bremen fällig, und das ist die FDP. Wenn die FDP ihr Ziel erreicht, dann sind die Wahllokale keine fünf Minuten geschlossen, und die Herrschaften von der CDU klingeln bei CLAUS JÄGER an. Ob Herrn NEUMANN das gefällt oder nicht.

Social Media Button