05.05.2003FDP

REDE von DR. GUIDO WESTERWELLE, auf dem Mannheimer Maimarkt am 4. Mai 2003

Anrede,

ich bedanke mich bei der Mittelstandsvereinigung der CDU für die Einladung. Ich möchte aus einem historischen Anlass heute einen großen Mann der Union würdigen. Heute vor genau 20 Jahren, am 4. Mai 1983, hat Helmut Kohl seine Regierungserklärung als neugewählter Bundeskanzler abgegeben. Die Regierung der Wende Kohl/Genscher war bei der Bundestagswahl am 6. März 1983 vom Wähler bestätigt worden. Die Regierungserklärung selbst war damals eher sachlich. Aber Helmut Kohl hatte mit seinem Wort von der "geistig-moralischen Wende" schon zuvor die Gemüter erhitzt. Heute, 20 Jahre nach der Regierungserklärung der Regierung Kohl/Genscher, greife ich diese Wort bewusst wieder auf. Deutschland 2003 braucht eine "geistig-moralische Wende."

Wir brauchen eine Wende in der Politik hin zu einer marktwirtschaftlichen Erneuerung unseres Landes. Wir brauchen neuen Mut für Reformen in der Politik. Wenn die jetzigen Regierungsmehrheiten diesen Mut nicht aufbringen, dann brauchen wir neue Regierungsmehrheiten. Neue Mehrheiten werden wir erhalten, wenn es Neuwahlen gibt. Neuwahlen wären das beste für unser Land.

Anrede,

Zum 1. Mai haben verschiedene führende Gewerkschaftsfunktionäre unglaubliche
Vergleiche angestellt: Herr SOMMER vom DGB hat in Neu-Anspach gesagt, die
Gewerkschaftsfunktionäre würden "verteufelt wie weiland in der Sterbephase
der Weimarer Republik". Herr HANSEN von der Gewerkschaft Transnet hat in
Stuttgart gesagt, unsere kritischen Worte gegenüber Gewerkschaftsfunktionären seien "zutiefst menschenfeindlich und würdelos" und "ganz eng bei denen", die am selben Tag in Berlin "ihren braunen
Schmutz ausspucken". Herr PETERS von der IG-Metall hat in Hannover in
Anspielung auf den Umgang der Nazis mit den deutschen Gewerkschaften
gesagt: "Sprache und Stoßrichtung von damals haben eine verblüffende
Ähnlichkeit zu dem, was wir heute von einigen hören." Und ein südpfälzischer DGB-Kreisvorsitzender hat uns sogar einen "Angriff auf die Demokratie" vorgeworfen.

Solche Nazi-Vergleiche und Vergleiche mit dem Ende der ersten deutschen
Demokratie weisen wir Liberalen auf das schärfste zurück. Solche Vergleiche
sind unhistorisch und absurd. Der DGB-Bundesvorstand muss sich von den
unglaublichen Äußerungen dieser Gewerkschaftsfunktionäre distanzieren. Wer Verfechter der sozialen Marktwirtschaft, die Arbeitnehmerinteressen vertreten, mit Nazis und anderen Gegnern der Demokratie vergleicht, greift
zu einer der übelsten Keulen der politischen Auseinandersetzung. Wer sich so daneben benimmt, verliert seine politische Gesprächsfähigkeit."

- Zu nötigen Sozialreformen:

Deutschland braucht mutige Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen.

Deshalb muss auch unser Rentensystem gründlich reformiert werden. Aber die
Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters auf 70 Jahre, wie es heute aus der
Union gefordert wird, ist ein Irrweg. Die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters ist mit der Realität der modernen Arbeitswelt unserer Informationsgesellschaft nicht zu vereinbaren. Wir müssen statt dessen für
ein früheres Berufseinstiegsalter der jungen Generation sorgen. Jedes Jahr, das die junge Generation im Schnitt früher in den Beruf kommt, macht rund einen Prozentpunkt niedrigeren Rentenbeitragssatz aus. Schaffen wir doch Möglichkeiten zu einer früheren Einschulung in die Grundschule. Führen wir doch endlich das Abitur nach zwölf statt 13 Schuljahren in ganz Deutschland ein. Sorgen wir dafür, dass die Wehrpflicht ausgesetzt wird, wo die Wehrgerechtigkeit doch ohnehin schon nicht mehr gegeben ist, weil nur noch ein kleiner Teil jedes Jahrgangs tatsächlich eingezogen wird. Verbessern wir die Studienbedingungen an den Hochschulen durch mehr Wettbewerb. Das alles sind wichtige Beiträge, um die jungen Menschen in Deutschland nicht unnötig lange auf den Berufseintritt warten zu lassen und unser Rentensystem durch mehr und motiviertere Beitragszahler auf sichere Grundlagen zu stellen.

- Zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes:

Am 1. Mai hat der DGB seine Hauptveranstaltung in einem Freilichtmuseum abgehalten. Wenn es nach den DGB-Funktionären geht, ist bald ganz Deutschland ein Freilichtmuseum. Das wollen wir Liberale mit marktwirtschaftlichen Reformen verhindern. Der Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften - übrigens gilt das zum Teil auch für Arbeitgeberorganisationen - ist eine Abstimmung mit den Füßen gegen eine Tarifpolitik, die oft genug zu Lasten der Arbeitsplätze gegangen ist.

Erinnern Sie sich noch an den Fall Viessmann: damals hat die Belegschaft mit der Unternehmensleitung eine Vereinbarung ausgearbeitet, damit das neue Werk nicht im Ausland entsteht. Alle waren sich einig, bis das Veto aus der Gewerkschaftszentrale kam. Erinnern Sie sich noch an den Vorschlag von VW unter der Formel 5.000 x 5.000 ? 5.000 neue Jobs mit der Bezahlung von 5.000 DM im Monat. Auch hier als erste Reaktion ein Nein der Gewerkschaftsfunktionäre. Liberale sind natürlich für Mitbestimmung. Aber Mitbestimmung gehört zuerst in die Betriebe. Genau so wenig wie der Staat alles zentral regeln soll, genau so wenig sollen Flächentarifverträge und Manteltarifverträge alles zentral festlegen. Nur mit mehr Flexibilität und
Reaktionsmöglichkeiten auf die Konjunktur und die Verhältnisse vor Ort kann
gerade in schwierigen Zeiten ein Betrieb am Leben gehalten werden. Deswegen
sind wir Liberale dafür: wenn 75 % der Belegschaft einer Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung zustimmen, dann soll auch diese Vereinbarung gelten, gleichgültig was die Gewerkschaften oder die Arbeitgeberorganisationen sagen.

Viele Gewerkschaftsfunktionäre vertreten nicht mehr die Interessen ihrer Mitglieder. Sie vertreten ihre eigenen Funktionärsinteressen zu Lasten der Arbeitsplätze in Deutschland. All das wäre ja noch nicht so schlimm, wenn die Gewerkschaften nicht auf unerträgliche Weise mit der Sozialdemokratie verflochten wäre. 75% der Abgeordneten der SPD-Bundestagsfraktion sind gleichzeitig Mitglieder der Gewerkschaften. Die Initiatoren des SPD-Mitgliederbegehrens werden angeführt vom Gewerkschaftschef Klaus Wiesehügel, gleichzeitig Mitglied des Deutschen Bundestages. Er unterschreibt das SPD-Mitgliederbegehren mit seiner Gewerkschaftsfunktion, genauso ein ver.di-Landesvorsitzender.

Hier findet eine unerträgliche Unterwanderung von Verfassungsorganen wie Partei und Fraktion durch eine Interessenorganisation statt. Das hat nichts mehr mit Konsens mit den Gewerkschaften zu tun. Das ist die Fesselung der deutschen Sozialdemokratie durch die Verflechtung mit dem DGB.

Die IG Metall hat Vorschläge zur Gesundheitsreform vorgelegt: Die IG Metall schlägt ein gewaltiges Steuer- und Abgabenerhöhungsprogramm vor: Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze, Zwangsbeiträge auch für Freiberufler und Selbstständige, eine Gesundheitsabgabe der Arbeitgeber in Höhe von 2, 5 Mrd. Euro, Steuerzuschüsse für die Krankenversicherung.
Das ist die Linie, mehr Belastung für Bürger und Betriebe anstelle von Reformen. Frisches Geld in nicht mehr funktionierende Systeme, damit alles beim Alten bleiben kann.
Wenn wir diese Politik der Besitzstandswahrer betreiben, werden in unserem Land immer weniger Bürger etwas besitzen.

Das sehen auch immer mehr Arbeitnehmer so. Ich freue mich darüber, dass immer mehr unabhängige Betriebsräte Arbeitnehmerinteressen vertreten.

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