01.05.2003FDP

Rede DR. GUIDO WESTERWELLE beim 1. bundesweiten Neumitglieder-Kongress der FDP

REDE

von

DR. GUIDO WESTERWELLE, MdB
FDP-Bundesvorsitzender,

beim 1. bundesweiten Neumitglieder-Kongress der FDP

am 1. Mai 2003 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Rede Dr. Guido Westerwelle, Bundesvorsitzender der FDP zum 1. Mai 2003 auf dem Neumitglieder-Kongress in Berlin

Anrede,

das ist ein beeindruckendes Bild hier heute. Ich freue mich auch ganz persönlich, über die unerwartet große Resonanz auf unsere Einladung. Ich freue mich, dass Sie den Weg nach Berlin angetreten sind, um sich zu informieren, um sich kennenzulernen, aber auch um ein Zeichen zu setzen: ein Zeichen, dass der Tag der Arbeit nicht den Gewerkschaftsfunktionären gehört. Die roten Fahnen da draußen symbolisieren den Stillstand. Wir Freien Demokraten hier sind die Reformbewegung für mehr Arbeit. Unsere Politik für den Mittelstand, unser Programm für weniger Steuern und weniger Bürokratie ist bessere Arbeitnehmerinteressenvertretung. Es ist kein Zufall, dass wir uns heute am 1. Mai treffen. Der Tag der Arbeit muss zum Tag der Reformen werden. Nur die marktwirtschaftliche Erneuerung Deutschlands schafft Arbeitsplätze. Liberaler ist sozialer.

Der Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften - übrigens gilt das zum Teil auch für Arbeitgeberorganisationen ist eine Abstimmung mit den Füßen gegen eine Tarifpolitik, die oft genug zu Lasten der Arbeitsplätze gegangen ist. Erinnern Sie sich noch an den Fall Viessmann: damals hat die Belegschaft mit der Unternehmensleitung eine Vereinbarung ausgearbeitet, damit das neue Werk nicht im Ausland entsteht. Alle waren sich einig, bis das Veto aus der Gewerkschaftszentrale kam. Erinnern Sie sich noch an den Vorschlag von VW unter der Formel 5.000 x 5.000 ? 5.000 neue Jobs mit der Bezahlung von 5.000 DM im Monat. Auch hier als erste Reaktion ein Nein der Gewerkschaftsfunktionäre. Liberale sind natürlich für Mitbestimmung. Aber Mitbestimmung gehört zuerst in die Betriebe. Genau so wenig wie der Staat alles zentral regeln soll, genau so wenig sollen Flächentarifverträge und Manteltarifverträge alles zentral festlegen. Nur mit mehr Flexibilität und Reaktionsmöglichkeiten auf die Konjunktur und die Verhältnisse vor Ort kann gerade in schwierigen Zeiten ein Betrieb am Leben gehalten werden. Deswegen sind wir Liberale dafür: wenn 75 % der Belegschaft einer Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung zustimmen, dann soll auch diese Vereinbarung gelten, gleichgültig was die Gewerkschaften oder die Arbeitgeberorganisationen sagen.

Wir hören das doch immer: ganz besonderer Erfolg seien die überproportionalen Lohnsteigerungen in den unteren Lohngruppen. Ein Erfolg im Namen der sozialen Gerechtigkeit, so heißt es. Jeder weiß es, dann werden nämlich die unteren Lohngruppen zu teuer und als Erste Opfer von Entlassungen. Dass es heute keinen wirklichen Niedriglohnsektor in Deutschland gibt, hat zur Folge, dass diejenigen, die keine besonderen Qualifikationen haben, auf der Straße sitzen. Und so manche Lohnsteigerung -sagen wir bei den Metallern - hat sich eher an den Möglichkeiten von Daimler in Stuttgart orientiert. Und Eisenkarl in Haselünne ist an diesen Löhnen Pleite gegangen.

Jede der roten Fahnen, die da auf den Straßen von Berlin heute weht, ist ein Symbol für die Mitschuld am Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen.

Viele Gewerkschaftsfunktionäre vertreten doch nicht mehr die Interessen ihrer Mitglieder. Sie vertreten die Organisationsinteressen zu Lasten der Arbeitsplätze in Deutschland. All das wäre ja noch nicht so schlimm, wenn die Gewerkschaften nicht auf unerträgliche Weise mit der Sozialdemokratie verflochten wäre. 75% der Abgeordneten der SPD-Bundestagsfraktion sind gleichzeitig Mitglieder der Gewerkschaften. Die Initiatoren des SPD- Mitgliederbegehrens werden angeführt vom Gewerkschaftschef Klaus Wiesehügel, gleichzeitig Mitglied des Deutschen Bundestages. Er unterschreibt das SPD"Mitgliederbegehren mit seiner Gewerkschaftsfunktion, genauso ein VER.DI- Landesvorsitzender.

Hier findet eine unerträgliche Unterwanderung von Verfassungsorganen wie Partei und Fraktion durch eine Interessenorganisation statt. Das hat nichts mehr mit Konsens mit den Gewerkschaften zu tun. Das ist die Fesselung der deutschen Sozialdemokratie durch die Verflechtung mit dem DGB.

Das sehen auch immer mehr Arbeitnehmer so. Ich freue mich darüber, dass immer mehr unabhängige Betriebsräte Arbeitnehmerinteressen vertreten.

Eine besondere Stilblüte des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses war die Reaktion auf eine Forderung des Hauptverbandes des deutschen Einzelhandels, die Geschäfte am 1. Mai zu öffnen. Die offizielle Reaktion des DGB: "das wäre ungefähr so, als wenn man Weihnachten die Läden aufmachte". Also ich finde, einen religiösen Stand hat der Tag der Arbeit noch nicht. Und im übrigen bleiben wir unverändert bei der Auffassung, dass es nicht Sache des Staates ist, Läden zu öffnen oder zu schließen. Ladenbesitzer sollen entscheiden, wann sie aufmachen und Kunden sollen entscheiden können, wann sie einkaufen wollen. Deswegen sind wir für die Abschaffung des Ladenschlussgesetzes. Was der Staat nicht regeln muss, das soll er auch nicht regeln.

Anrede,

wir haben uns in Deutschland in den Zeiten von Zuwächsen eine Verteilungsdemokratie angewöhnt. Da kamen irgendwelche Runden zusammen, mal nennt man das Arbeitsgruppe, mal Runder Tisch im Kanzleramt. Dann wurden den anwesenden Interessenvertretern Summen zugeteilt. Das konnte so lange gut gehen, wie es etwas zu verteilen gab. Inzwischen wird aus dieser Art Konsensdemokratie eine Konkursdemokratie. Irgendwann, wenn es so weitergeht, führt die Zerrüttung der Wirtschaftskraft zur Zerrüttung unseres demokratischen Gemeinwesens.
Wir haben viele Jahre verloren bei der Modernisierung Deutschlands. Ich sage bewusst: das galt auch schon für die 90er Jahre. Aber die letzten Jahre von Rot/Grün sind an Strategie- und Konzeptlosigkeit kaum noch zu überbieten. Kurz nach der ersten Wahl von Rot/Grün wurden Eigenbeteiligungen im Gesundheitswesen wieder abgeschafft. Es wurden die sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse abgeschafft. Es wurde die frisch eingeführte demographische Formel im Rentensystem abgeschafft. Vier Jahre später wird das alles nach und nach wieder eingeführt. Diese Regierung taumelt von Notoperation zu Notoperation, aber sie hat keinen Kurs.

Tony Blair hat erst seine Labour-Partei modernisiert und dann die Modernisierung des Landes in Angriff genommen. Das ist das Versäumnis von Gerhard Schröder: er hat keine reformfähige Sozialdemokratie. Und wer nicht reformfähig ist, ist heute auch nicht regierungsfähig.

Seine sogenannte Agenda 2010 ist sozusagen aus dem Nichts gekommen. Wir wollen weitergehende, sehr viel konzeptionellere Reformen.
Es geht um weniger Staat durch Privatisierung und Deregulierung. Es geht uns um einen flexiblen Arbeitsmarkt. Für eine Rentenreform brauchen wir auch keine neue Kommission mehr. Wir können heute jeden Tag darüber entscheiden. Die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur in Deutschland ist auch wirklich kein neues Ereignis.

Die FDP macht das Angebot, die vernünftigen Reformvorschläge des Kanzlers zu unterstützen. Da ist viel Stückwerk in der sogenannten Reformagenda 2010. Aber besser einige Schritte in die richtige Richtung als Stillstand. Wenn der Bundeskanzler sich aber von den Gewerkschaftsfunktionären und den Arbeitsgruppen erpressen läßt, dann gilt dieses Angebot nicht mehr.

Die IG Metall hat zum Beispiel Vorschläge zur Gesundheitsreform vorgelegt: Die wollen. Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze, Zwangsbeiträge auch für Freiberufler und Selbstständige, eine Gesundheitsabgabe der Arbeitgeber in Höhe von 2, 5 Mrd. Euro, Steuerzuschüsse für die Krankenversicherung.
Das ist die Linie, mehr Belastung für Bürger und Betriebe anstelle von Reformen. Frisches Geld in nicht mehr funktionierende Systeme, damit alles beim Alten bleiben kann.
Wenn wir diese Politik der Besitzstandswahrer betreiben, werden in unserem Land immer weniger Bürger etwas besitzen.

Die FDP hat schon vor Jahren in ihrem Programm öffentlich verkündet, was wir zur marktwirtschaftlichen Modernisierung Deutschlands brauchen. Wir sind dafür am Anfang gebrandmarkt worden als Vertreter des Ellenbogenkapitalismus. Die Themen unserer Zeit bewegen sich auf unsere Programme zu. Es dauert manchmal Jahrzehnte bis unsere Vorschläge zur Mehrheitsmeinung werden. Aber wir können mit Meinungsmacht Druck mobilisieren. Wir haben in den letzten Jahren viele hundert neue kommunale Mandatsträger hinzugewonnen.
Wir haben die Zahl unserer Landtagsabgeordneten in den letzten zwei Jahren von 55 auf 110 verdoppelt. Die fünf Landesregierungen der FDP haben im Bundesrat Einfluss auf 23 der 69 Stimmen.
In den beiden vergangenen Jahren sind mehr als 14.000 neue Mitglieder in die FDP eingetreten. In den ersten drei Monaten dieses Jahres waren es mehr als 1500.

Die FDP ist eine Bürgerbewegung. Sie vertritt die Interessen von den Menschen, die etwas leisten wollen. Sie vertritt die Interessen von den Menschen, die auf Freiheit und Verantwortung setzen. Wir haben schon viel zu viele Interessengruppen, die, wenn sie von Freiheit reden, Freiheit von Verantwortung meinen. Die FDP ist die Partei für die, die wollen.

Wir setzen zuerst auf die Kraft der Bürger und rufen erst dann nach dem Staat. Alle anderen Parteien setzen zuerst auf den Staat und dann erst auf den Bürger. Wir sagen: der Staat , das sind wir alle. Nicht der Staat gewährt den Bürgern Freiheit, sondern die Bürger gewähren dem Staat Einschränkungen ihrer Freiheit. Wir wollen weder die Staatskundengesellschaft noch die
Funktionärsherrschaft. Die liberale Bürgergesellschaft ist eine Teilhabergesellschaft.

Und wenn wir unser Credo von Freiheit und Verantwortung auf die einzelnen Politikfelder konkret anwenden, dann haben wir die modernsten Lösungen der Zeit.

Wir wollen nicht für Mehrheiten für irgendwelche anderen Parteien kämpfen, wir wollen uns für Mehrheiten für unsere politischen Angebote einsetzen. Wir sind eine unabhängige Partei mit einer eigenen geistigen Strömung. Koalitionen sind für uns Koalitionen in der Sache. Eine Koalitionsaussage ist keine Strategie, sondern ein Instrument. Wir werden von Fall zu Fall entscheiden, wer für liberale Politik der beste Partner ist. Unser Koalitionspartner sind die Bürgerinnen und Bürger. Die FDP ist die einzige liberale Partei in Deutschland.

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