NIEBEL-Interview für das "Jahrbuch Unternehmertum"
Berlin. Das FDP-Präsidiumsmitglied Bundesentwicklungsminister DIRK NIEBEL gab dem "Jahrbuch Unternehmertum" das folgende Interview. Die Fragen stellten LISA HILBERG und BENJAMIN CLAPHAM:
Frage: Herr Niebel, Sie verbrachten Schulferien und später ein gesamtes Jahr in einem Kibbuz in Israel. Wie kam es dazu?
NIEBEL: Ich habe mich schon lange für Israel interessiert, die Geschichte des Landes und das Judentum. Während der Schulferien war ich in einem Kibbuz nahe der libanesischen Grenze und dann ging plötzlich der erste Libanonkrieg los. Wenn Sie die ersten Nächte im Bunker verbringen, solidarisiert das sehr. Es hat mich motiviert, wiederzukommen.
Frage: Sie haben dort auch als freiwilliger Helfer in der Landwirtschaft und der Fischerei gearbeitet. Wie hat diese Erfahrung Sie mit Blick auf Ihr Amt geprägt?
NIEBEL: Ich möchte die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel stärken. Wir haben in dieser Legislaturperiode schon drei trilaterale Projekte gestartet: In Äthiopien existiert ein deutsch-israelisch-äthiopisches Projekt zur Nutzung einfachster Technologien der Tröpfchenbewässerung. In diesem Projekt werden Bauern zwei Tage in der technischen Anwendung geschult, damit die Produktivität erhöht und die knappen Wasserressourcen geschützt werden können. In Ghana haben wir ein derartiges Bewässerungsprojekt für Landwirte, die Zitrusfrüchte produzieren. Und in Kenia eröffnet ein Projekt im Bereich Fischzucht und Renaturierung des Viktoriasees. Der See ist maßlos überfischt und sehr verschmutzt. Das Projekt dient der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlage für die Bevölkerung. In Teichen werden Fische für den Export oder die Eigenernährung der Bevölkerung gezüchtet. Hier haben die Israelis enorme Expertise, während wir Spezialisten bei Wasser und Abwasser sind.
Frage: Welche weiteren zentralen Ziele verfolgen sie als Minister?
NIEBEL: Wir wollen weg von der Input-Orientierung und der Fragestellung: Wie viel Geld gibt jemand aus? Natürlich brauchen wir finanzielle Mittel, um erfolgreich arbeiten zu können. Aber die Frage ist: Was bewirken wir mit den Maßnahmen? Deswegen habe ich eine Reform der deutschen Entwicklungszusammenarbeit angestoßen, auch mit der Eröffnung eines unabhängigen Evaluierungsinstituts im November 2012. Damit bekommen wir erstmals auf wissenschaftlicher Basis Erkenntnisse über die Wirksamkeit unserer Arbeit. Wir wollen die Gelder der Steuerzahler effizient einsetzen und bessere Ergebnisse mit unseren Partnern erzielen.
Frage: In der Plenarsitzung vom 12. September 2012 haben Sie gesagt: "Mit mir hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit den Aufstieg in die oberste Spielklasse geschafft." Was meinten Sie damit?
NIEBEL: Das schließt an meine Antwort von eben an. Wir haben eine Wirksamkeitsagenda geschaffen, die mittlerweile von der Weltbank und der Europäischen Union übernommen wurde. Auch in anderen multilateralen Bereichen sind wir Trendsetter, zum Beispiel bei der werteorientierten Vergabe allgemeiner Budgethilfen. Wir haben die politische Steuerungsfähigkeit für diese und jede kommende Bundesregierung erhöht: Denn mit Gründung der GIZ haben wir die größte Strukturreform in 50 Jahren bundesdeutscher Entwicklungspolitik durchgesetzt. So kommen wir vom Hilfsgedanken weg. Bei Katastrophen muss man helfen, aber Strukturveränderungen gelingen nur über partnerschaftliche Zusammenarbeit. Die klassische Entwicklungshilfe der Vergangenheit führte zu Abhängigkeiten und weniger dazu, dass sich Strukturen von den Menschen vor Ort selbst verändern lassen. Die beste Entwicklungszusammenarbeit ist die, die sich selbst überflüssig macht.
Frage: Statt Gelder in die armen Länder zu bringen, wollen Sie Partnerschaften entwickeln
NIEBEL: Eine sogenannte Ersatzvornahme, bei der wohlmeinende Geber die Arbeit für die Entwicklungsländer übernehmen, hilft niemandem. Die Ertüchtigung unserer Partner ist das Ziel, damit sie ihre Probleme selbst lösen können. Kapazitätsaufbau, Know-how-Transfer und Kooperation auf Augenhöhe, in Wirtschaft, Bildung, im Gesundheitswesen. Es geht ja um souveräne Staaten, mit denen wir zusammenarbeiten, nicht um Taschengeldempfänger.
Frage: Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie, anders als Ihre Vorgängerin Frau Wieczorek-Zeul, Entwicklungszusammenarbeit nicht primär für das Wohl der Armen einsetzen, sondern auch wirtschaftliche Interessen deutscher Unternehmen verfolgen. Was erwidern Sie?
NIEBEL: Dass das nicht stimmt, denn die Kooperation mit der Wirtschaft - der deutschen und der in den Kooperationsländern - dient dazu, Armut zu bekämpfen. Die beste Armutsbekämpfung ist ein Arbeitsplatz, mit dem Sie ihren Lebensunterhalt verdienen können. Das gilt in unseren Kooperationsländern genauso. Und ein Arbeitsplatz ist die beste Voraussetzung dafür, dass Staaten mit Steuereinnahmen Dienstleistungen wie Gesundheit, Infrastruktur oder Bildung finanzieren können. Nachhaltige Armutsbekämpfung ohne nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum ist nicht möglich.
Frage: Trotzdem gilt: Wenn Sie deutsche Unternehmen bei Aufträgen in der Regionen bedenken, steht dahinter ein wirtschaftlicher Anreiz.
NIEBEL: Es gibt keine Lieferbindungen, das wäre OECD-widrig. Deutsche Unternehmen benötigen so etwas auch nicht, sie brauchen lediglich einen fairen Wettbewerb, in dem sie gut bestehen können. Wenn dann durch Aufträge Erträge aus der Entwicklungsarbeit in die deutsche Wirtschaft zurückfließen, ist das durchaus in unserem Interesse. Die Erfahrung zeigt, dass deutsche Unternehmen in den Kooperationsländern oft weit höhere Umwelt- und Sozialstandards anwenden als gesetzlich gefordert. Deswegen ist es gut, wenn das Know-how und Engagement dieser Firmen in die Kooperation mit einfließen. Auch die Ansiedlung deutscher Firmen in Entwicklungs- oder Schwellenländern unterstützen wir gerne, vorausgesetzt, dass ein zusätzlicher entwicklungspolitischer Mehrwert entsteht.
Frage: Ländern wie China wird häufig vorgeworfen, ihre Entwicklungspolitik vor Ort für Wirtschaftszwecke oder Ressourcengewinnung zu nutzen. Geht es mittlerweile um einen globalen Wettbewerb zur Sicherung nationaler Interessen?
NIEBEL: Die Entwicklungszusammenarbeit ist Bestandteil deutscher internationaler Politik und deshalb ganz natürlich auch interessengeleitet! Das hat sich die frühere Entwicklungsministerin offenbar nicht zu sagen getraut, aber unsere Partner als souveräne Staaten haben ja eben auch eigene Interessen. Die würden mir gar nicht glauben, wenn ich erzählen würde, wir hätten keine. Das Ziel besteht darin, die Interessen unter einen Hut zu bringen und gemeinsam Win-Win-Situationen zu schaffen. Die Zusammenarbeit ist natürlich in der Qualität sehr unterschiedlich. Die traditionellen Geber orientieren sich an den OECD-Standards, die neuen Geber bringen ihre eigenen Fortschrittserfahrungen mit. Am besten wäre es, in trilateralen Projekten - wie wir sie mit vielen Gebern durchführen, die Schwellenländer, aber nicht mehr klassische Entwicklungsländer sind - Kompetenzen auszutauschen, um eine gemeinsame Linie zu finden: eine Kombination jahrzehntelanger Erfahrung traditioneller Geber und der eigenen Entwicklungserfahrung ehemaliger Entwicklungsländer.
Frage: In welchen Wirtschaftssegmenten ist deutsches Know-how bei Entwicklungsprojekten besonders gefragt?
NIEBEL: Wir sind in vielen Bereichen Weltmarktführer, ob in Medizintechnik, Umwelttechnologien oder erneuerbaren Energien. Gerade viele Mittelständler haben den entscheidenden Vorteil, dass sie ihre Produkte und Dienstleistungen an die Bedürfnisse von Entwicklungsländern anpassen können. Am liebsten ist es mir, wenn man vor Ort Arbeitsplätze schafft und durch die Art des Handelns Standards setzt.
Frage: Ohne vor Ort sozial aktiv zu sein, treffen deutsche Unternehmen teilweise gar nicht auf die Akzeptanz, um sich wirtschaftlich einzubringen...
NIEBEL: Ja, nehmen Sie das größte weltweit bekannte Aidsbekämpfungsprogramm. Das ist durch einen deutschen Autokonzern in Südafrika geboren worden, weil die hohe Aidsrate zu hohen Fehlzeiten geführt hat. Daher hat das Unternehmen dieses Programm entwickelt, das mittlerweile in der ganzen Welt kopiert worden ist. Auch so kann Entwicklungszusammenarbeit entstehen, zunächst ohne einen Cent Steuergeld. Als der Konzern irgendwann mit Bussen und Impfstationen unterwegs war, um Prävention und Aufklärung zu betreiben, sind wir mit eingestiegen.
Frage: Ursprünglich wollten Sie das Ministerium BMZ abschaffen. Wie lässt sich das mit Ihrem heutigen Ministerposten vereinbaren?
NIEBEL: Wir hatten im Wahlkampf gefordert, die Aufgaben des BMZ in das Auswärtige Amt einzugliedern. Diese Forderung ist nicht ungewöhnlich: Die Hälfte der europäischen Länder hält die Entwicklungsaufgaben im Außenministerium. Das ist eine Organisationsstruktur, die wir vor dem Hintergrund mangelnder Kohärenz in der Vergangenheit für klug befunden haben. Dafür gibt es aber keine politische Mehrheit in Deutschland. Deswegen haben wir entschieden, die organisatorischen Reformen im Ministerium selbst durchzuführen.
Frage: Hat sich die Wahrnehmung Europas in den Entwicklungsländern durch die
europäische Schuldenkrise verändert?
NIEBEL: Ich glaube schon, aber es ist ja keine europäische Schuldenkrise. Schauen Sie sich die Haushalte der USA oder von Japan an. Manche Entwicklungsländer sind davon betroffen, weil die Leistungsfähigkeit der Geberländer eingeschränkt ist. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, den Wert unserer Währung stabil zu halten. Sonst können wir auch weniger Entwicklungskooperation betreiben. Die aktuelle Unterstützung des Internationalen Währungsfonds in Europa ist ein Anachronismus, denn der IWF ist für das Engagement in den ärmsten Regionen dieser Welt gedacht. Europa ist nach wie vor eine der reichsten Regionen. So etwas kann man nur einen gewissen Zeitraum lang akzeptieren, dann muss man andere Wege finden, seine Probleme zu lösen.
Frage: Fehlt es der deutschen Entwicklungskooperation bereits an Mitteln?
NIEBEL: Nein, die Bundesregierung und das Parlament haben in den drei letzten Jahren den Etat erhöht. Das ist eine enorme Leistung der deutschen Steuerzahler.
Frage: Können Länder wie Spanien und Griechenland noch Entwicklungshilfe leisten?
NIEBEL: Der Anteil der offiziellen Entwicklungsleistung am Gesamtbruttonationaleinkommen beider Länder - die sogenannte "ODA-Quote" - war immer niedriger als in Deutschland.
Frage: Sollte man nicht eher in Griechenland Entwicklungshilfe leisten?
NIEBEL: Ich glaube, dass die Freunde in Griechenland ähnliche Probleme haben wie klassische Entwicklungsländer, aber sie sind natürlich nach OECD-Standards wohlhabender. Allerdings können sie gegen Geld oder als nicht-monetären Bestandteil von Hilfspaketen auf unsere Expertise zurückgreifen. In vielen Ländern der Welt tragen wir dazu bei Steuersysteme zu implementieren, Finanzverwaltungen aufzubauen, Korruption zu bekämpfen - Kompetenzen, die man auch in Griechenland gebrauchen könnte.
Frage: Bis 2010 empfing China von Deutschland noch Entwicklungsgelder. Nun bittet Europa China, europäische Schuldenpapiere aufzukaufen. Wie erklären Sie diese Situation?
NIEBEL: Ich habe die klassische Entwicklungszusammenarbeit mit China zum 1. Januar 2010 beendet. Wir führen lediglich laufende Projekte zu Ende, damit hier keine Ruinen entstehen. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie Entwicklungszusammenarbeit zu positiven Ergebnissen führen kann. China, das über viele Jahrzehnte Empfänger von Leistungen war, ist jetzt einer der großen Geber geworden - das ist das Ziel der ganzen Veranstaltung.
Frage: Wie gehen Sie mit hilfsbedürftigen Ländern um, die ein autoritäres Regime an der Spitze haben?
NIEBEL: Ungefähr die Hälfte unserer Kooperationsländer sind sogenannte fragile oder Konfliktstaaten. Wir entscheiden hier im Einzelfall. Es gibt kein Schwarz oder Weiß, sondern viele Grauschattierungen. Befindet sich ein Land mit schlechten Governance-Strukturen auf einem positiven Entwicklungspfad, ist das ein guter Grund, mit dieser Regierung zusammenzuarbeiten. Ein Land mit sich verschlechternden Strukturen gibt eher Anreiz, mehr für zivilgesellschaftliche Gruppen zu tun. Wirkliche Veränderungen kommen immer aus der Mitte der Gesellschaft und werden in aller Regel nicht top-down verordnet.
Frage: Wie stellt man in "fragilen Ländern" sicher, dass deutsche Steuergelder an der richtige Stelle landen?
NIEBEL: Indem die sogenannte allgemeine Budgethilfe absolute Ausnahme ist. Die gibt es von Deutschland nur in sieben Staaten dieser Welt. Da sind wir sehr skeptisch, haben aber Rechtsverpflichtungen früherer Bundesregierungen übernommen. Normalerweise finanzieren wir Projekte entsprechend des Fortschritts und nutzen alle Möglichkeiten der Korruptionsbekämpfung, auch durch Kontrolle unserer Durchführungsorganisationen und Partnern aus der Zivilgesellschaft. In Afghanistan machen wir seit zwei Jahren eine Tranchierung aller Leistungen. Das heißt, bestimmte Kriterien müssen erfüllt werden, bevor Gelder ausgezahlt werden.
Frage: Verschärft sich mit dem Kampf um knapper werdende Rohstoffe auch die Bedrohung der Menschenrechte in Entwicklungsländern?
NIEBEL: Wir haben einen Menschenrechts-TÜV eingeführt, um sicherzustellen, dass die Wahrung der Menschenrechte immer gewährleistet ist. Wir sind allerdings auch an Rohstoffpartnerschaften interessiert. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Land Rohstoffe abbauen und verkaufen möchte oder ob man daraus auch noch einen Entwicklungsmehrwert schöpft, indem der Wert der Rohstoffe auch der Bevölkerung zu Gute kommt. Hier wollen wir uns als Rohstoffpartner beteiligen, zum Beispiel mit einem Fonds in Nordafrika, der Regierungen durch die Expertise von Fachanwälten unterstützt, wenn ein internationaler Konzern oder eine andere Nation Interesse an bestimmten Rohstoffen hat. Wir finanzieren die rechtliche Unterstützung, damit gute Verträge ausgehandelt werden und das Land nicht ausgebeutet wird. Wir glauben, dass wir auf diese Weise als faire Partner akzeptiert werden und bei der Implementierung von Wertschöpfungsketten eventuell deutsche Unternehmen zum Zuge kommen. Das ist eine gewollte, aber keine notwendige Folge aus diesen Partnerschaften.
Frage: Welche Rolle spielt die Implementierung eines Internet- oder Telefonnetzes, um Kommunikations- und Bildungsmöglichkeiten zu generieren?
NIEBEL: Moderne Technologien ermöglichen eine besser Kommunikation und Qualifikation, ohne vor Ort sein zu müssen. Ein Bauer in Afrika hat heute die Möglichkeit, über sein Handy die Preise der ihn umgebenden Märkte abzufragen. Auch Handy-Banking ist in Afrika weitaus verbreiteter als in Europa, da es kein flächendeckendes Bankennetz gibt.
Frage: Das heißt, Digitalisierung steht auf der Agenda der Entwicklungskooperation?
NIEBEL: Ausdrücklich, allein wenn es um Fernkurse geht oder um medizinische Ferndiagnosen in entlegenen Gebieten. Die Digitalisierung trägt dazu bei, Armut zu mindern.
Frage: In Ihrem Zehn-Punkte-Programm zur ländlichen Entwicklung und Ernährungssicherung steht die Abschaffung von EU-Agrarexportsubventionen ganz oben. Finden Sie dafür eine Mehrheit?
NIEBEL: Es ist ein großer Erfolg, dass sich die Landwirtschaftsministerin und der Entwicklungsminister mit der gesamten Regierung auf diese Position geeinigt haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein Ende der Agrarexportsubventionen und eine Reform aller Agrarsubventionen der EU brauchen, wenn wir Entwicklungsfortschritte haben wollen - auch unter finanziellen Gesichtspunkten. Es würde uns gut tun, die Welthandelsrunde entwicklungsorientiert abzuschließen, also auch nicht-monetäre Handelshemmnisse abzubauen, weil das als Europäische Union in unserem Interesse ist. Wir sind als weltweit aktive Handelsnationen auf wirtschaftlichen Ausgleich angewiesen. Wir brauchen offene Märkte und stabile Weltregionen. Deswegen ist Entwicklungszusammenarbeit auch ein Beitrag zur Bekämpfung von Fragilität, Extremismus und Terrorismus.
Frage: In puncto Ernährungssicherung in der dritten Welt wird häufig die Debatte um "Tank oder Teller" geführt. Wie ist Ihre Meinung zu E10?
NIEBEL: Verpflichtende, starre Beimengungsquoten sind nicht nur bei E10 ein großes Problem in Dürrezeiten. In den USA sind 40 Prozent der Maisernte durch Dürre ausgefallen, gleichzeitig müssen genau 40 Prozent jährlich zu Benzin verarbeitet werden. Das führt zu höheren Preisen auf den Weltmärkten und dazu, dass gerade die Ärmsten immer weniger Möglichkeiten haben, Nahrungsmittel zu kaufen. Deswegen freue ich mich über die Entscheidung der EU, schneller zur Marktreife der Bioenergieträger der zweiten Generation zu kommen, um diesen Flächenkonflikt zwischen Tank, Teller und Trog aufzulösen. Die entscheidende Frage ist, wofür werden die vorhandenen Flächen genutzt? Bei Bioenergieträgern der zweiten Generation ist die Frucht für die Nahrungsmittelsicherheit und sind die Abfallstoffe für die Energieversorgung bestimmt. So könnten wir auch mit einer wachsenden Weltbevölkerung von neun Milliarden Menschen 2050 sicherstellen, dass genügend Nahrungsmittel auf der Welt vorhanden sind. Wir müssen nur schauen, dass die Nutzung von Bioenergie nicht dazu führt, dass zum Beispiel Urwälder abgeholzt werden. Dann entfällt der gewünschte Erfolg bei der CO2-Bilanz. Aber ganz klar: Biomasse wird ein Energieträger der Zukunft sein, allerdings erst die Energieträger der zweiten Generation.
Frage: Banken und Versicherungen wird vorgeworfen, durch Spekulationen die Preise für Lebensmittel in die Höhe zu treiben, zu Lasten der Ärmsten der Welt. Sind diese Vorwürfe berechtigt?
NIEBEL: Studien haben gezeigt, dass Spekulationen mit Lebensmitteln keine wesentlichen Auswirkungen auf die Preisentwicklung haben. Auf der anderen Seite: Für Produzenten und Verarbeiter ist der Handel von Agrarrohstoffen wichtig, aber mit einer Börsenpflicht hätte man Transparenz und könnte feststellen, ob der Handel nur der Spekulation dient. Es muss aber auch deutlich gesagt werden: Steigende Preise für Lebensmittel sind ausdrücklich gewünscht. Preise müssen moderat und kontinuierlich steigen, damit sich Investitionen in ländliche Räume lohnen. Das große Problem sind die starken Preissprünge, die wir seit 2008 immer wieder erleben. Dafür gibt es mehrere Gründe, zum Beispiel dass Flächen für die Energieerzeugung genutzt werden oder nach Katastrophen keine Landwirtschaft betrieben werden kann.
Frage: Wird die globale Ernährungssituation bereits durch zunehmende Klimakatastrophen verschärft?
NIEBEL: Klimaveränderungen sind ein Hauptgrund dafür, dass in manchen Teilen der Welt Landwirtschaft nicht mehr produktiv betrieben werden kann. Hier geht es darum, dazu beizutragen, dass die nächste Dürreperiode nicht automatisch zu einer Hungerkatastrophe führt. Wir tun das in vielen Teilen der Welt, wie in der Sahelzone oder in Ostafrika, wo wir einen ländlichen Raum ganzheitlich betrachten: Gibt es eine Infrastruktur, um die Produkte vom Feld zum Markt zu bringen? Gibt es Lagerhaltungsmöglichkeiten? 40 Prozent Nachernteverlust ist eins der großen Probleme. Wir investieren ungefähr 700 Millionen Euro im Jahr in die Entwicklung ländlicher Räume weltweit. Das ist mehr als 10 Prozent meines gesamten Etats.
Frage: Wie oft sind Sie vor Ort bei Ihren Projekten?
NIEBEL: 2011 habe ich 38 Länder besucht.