LINDNER-Interview: Wir wollen die Menschen nicht einzäunen
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten RALPH BOLLMANN und INGE KLOEPFER:
Frage: Herr Lindner, vorige Woche wurden Sie zum Youtube-Star – mit einer unterhaltsamen Wuteinlage im Düsseldorfer Landtag.
LINDNER: Ich habe mich über einen SPD-Kollegen geärgert. Ausgerechnet in einer Debatte über Gründerkultur machte er sich darüber lustig, dass ich als Gründer vor fünfzehn Jahren gescheitert bin.
Frage: Seien Sie ihm dankbar. Wenigstens spricht man deshalb wieder über die FDP.
LINDNER: Es geht um Wichtigeres. Deutschland braucht in der Politik und in der Wirtschaft Gründergeist. Im Status quo können wir uns nicht einrichten. Wenn wir zu Risikobereitschaft ermutigen, dann muss es auch eine Kultur der zweiten Chance geben. Übrigens habe ich aus der Resonanz selbst etwas gelernt.
Frage: Was denn?
LINDNER: Dass nicht nur ich allein, sondern viele Menschen Häme und Neid satt haben. Sonst hätten sich nicht über drei Millionen Menschen das Video angeschaut.
Frage: Sie selbst waren allerdings ein Gründer auf fremdes Risiko: Das Geld stammte zu zwei Dritteln von einer staatlichen Förderbank.
LINDNER: Ich war sieben Jahre persönlich haftend und erfolgreich mit einer Werbeagentur tätig. Im Jahr 2000 war ich zudem an einem Internet-Unternehmen beteiligt, in das ein privater Risiko-Kapitalgeber investiert hat. Dieser hat sich bei der KfW refinanziert und arbeitet bis heute mit der Bank zusammen. Ich selbst hatte mit ihr keine Geschäftsbeziehung.
Frage: Grundsätzlich hat die FDP aber kein Problem damit, dass es für Gründungen hierzulande Staatsgeld gibt?
LINDNER: Heute gibt es genug privates Kapital. Der Staat muss es aber Investoren leichter machen. Die steuerlichen Bedingungen sind nicht wettbewerbsfähig. Und jetzt denkt Andrea Nahles noch darüber nach, die Fenstergröße in der Teeküche festzulegen. Das ist kein Beitrag für eine Gründungskultur.
Frage: Auch mit Ihren Vorschlägen machen Sie aus Deutschland noch kein Silicon Valley.
LINDNER: Ansätze dafür haben wir, etwa in Berlin. Aus der ganzen Welt kommen gut ausgebildete Leute mit Ideen in die Stadt. Auch das Kapital ist da. Es gibt einen riesigen Anlagenotstand. Was aber fehlt, sind Mut, Optimismus und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.
Frage: Daran haperte es zuletzt bei der FDP. Fordern Sie die zweite Chance auch für die eigene Partei?
LINDNER: In Hamburg erarbeiten wir uns gerade selbst eine neue Chance.
Frage: Zuletzt haben Sie ein Jahr lang Marktforschung betrieben. Wo sehen Sie Ihre neue Kundschaft?
LINDNER: Wir haben uns selbst befreit – von Ängstlichkeit und altem Denken. Wir glauben, dass Deutschlands beste Tage noch kommen. Deshalb wollen wir die Stimme derjenigen sein, die den Fortschritt nicht fürchten und ihre Freiheit lieben. Denen sagen wir: Dich wollen wir groß machen, nicht den Staat.
Frage: Wem wollen Sie denn Stimmen abjagen?
LINDNER: Wir wollen eine Politik, die rechnen kann, die für die weltbeste Bildung für den Einzelnen kämpft und den Staat so organisiert, dass er den Menschen das Leben einfacher macht – nicht komplizierter. Viele, die das teilen, wählten zuletzt die CDU. Das ist aber sicher auch für den einen oder anderen Sozialdemokraten attraktiv, der näher bei Wolfgang Clement und Klaus von Dohnanyi ist als bei Andrea Nahles und Ralf Stegner.
Frage: Als Generalsekretär haben Sie den „mitfühlenden Liberalismus“ propagiert. Jetzt geht es wieder um klassische Wirtschaftsthemen?
LINDNER: Mir ging es nie um eine Sozialdemokratisierung der FDP. Der Begriff, den Sie zitieren, stammt aus meiner Rede auf dem Dreikönigstreffen 2010. Meine Rede 2015 liegt damit auf einer Linie. Das Wort selbst verwende ich nicht mehr, weil die ursprüngliche Bedeutung ins Gegenteil verkehrt wurde. Wir wollen die Voraussetzungen für Marktwirtschaft und offene Gesellschaft sichern – durch echte Bildungschancen, damit die Menschen gerüstet sind für das Spiel des Wettbewerbs in Wirtschaft und Gesellschaft. Schon Theodor Heuss hat gesagt: Wir müssen den Einzelnen stark machen, damit er aus eigener Kraft etwas erreichen kann. Das ist etwas anderes, als wenn Sigmar Gabriel herablassend von den „kleinen Leuten“ spricht.
Frage: Trotzdem mögen viele Deutsche das Wort Liberalismus nicht, es wirkt auf sie sehr kalt.
LINDNER: Jeder „-ismus“ klingt nach Ideologie. Wir haben unseren Traditionsnamen wiederbelebt, ebenfalls aus der Zeit von Heuss: „Freie Demokraten“. Damit bleiben wir die einzige Partei, die in der großartigen Geistesgeschichte des Liberalismus steht. Alle anderen setzen auf Kollektive: Die CDU denkt an Staat und Kirche, die SPD an die Arbeiterklasse, die Grünen an die Umwelt, die AfD an Völkisches. Da kommt der Einzelne nicht vor.
Frage: Vielleicht, weil die Mehrheit es gar nicht anders will?
LINDNER: Mir hat man erzählt, dass Zoo-Tiere in größeren Freigehegen trotzdem die Nähe des Zauns suchen, weil sie es gewöhnt sind. Manchmal ist das im Staat ähnlich. Wir wollen das Gegenteil: die Menschen nicht einzäunen, sondern Neugier auf Freiraum wecken.
Frage: Viele Leute fühlen sich von ihren Wahlmöglichkeiten jetzt schon überfordert – gerade in der Generation zwischen 30 und 50.
LINDNER: Ja, Liberalismus ist keine bequeme Mode. Er stellt auch Forderungen, zum Beispiel Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Wir wollen kein Volk von Delegationskünstlern. Die FDP würde gerne wieder mehr an die Bürger zurückgeben. Im Ergebnis führt das zu einem erfüllteren Leben – und zu mehr Wohlstand.
Frage: Es fällt auf, dass Sie gar nicht mehr über Steuern reden. Weil die FDP ihre großen Reformversprechen nicht erfüllt hat?
LINDNER: Im Gegenteil, auf dem Dreikönigstreffen habe ich das Thema gerade wiederbelebt. Weil wir unsere Ziele nicht erreicht haben, sind wir moralisch verpflichtet, am Ball zu bleiben. Ohne Freie Demokraten ist das Thema vollständig verschwunden. Der Soli bekommt eine Ewigkeitsgarantie, ständig werden die Belastungen erhöht. Das muss sich ändern. Multi-Milliarden-Dollar-Konzerne wie Google nutzen dagegen unsere Infrastruktur, ohne auf ihre hiesigen Gewinne Steuern zu zahlen. Da verbietet es sich, Bürger und Mittelstand stärker zu belasten – nur weil sie nicht weglaufen können.
Frage: Woher sollen die Wähler die Zuversicht nehmen, dass es beim nächsten Anlauf klappt?
LINDNER: Der Kardinalfehler war, dass wir 2009 das Finanzministerium nicht übernommen haben. Dann hat die Kanzlerin die Steuerreform ganz abgesagt, ohne die FDP auch nur zu fragen. Ich habe mir geschworen: Das passiert mir in meinem politischen Leben kein zweites Mal. Notfalls muss man sagen: Dann ist die Koalition beendet.
Frage: Damals kam die Euro-Krise dazwischen, jetzt kehrt sie mit der Wahl in Griechenland zurück. Was ist das Rezept der FDP?
LINDNER: Verträge müssen eingehalten werden. Die Verzweiflungstaten der EZB zeigen, dass die Reformpolitik in Europa ins Stocken geraten ist – die deutsche Rente mit 63 war ein Fanal. Wenn wir Griechenland noch mehr Rabatt gewähren, geraten wir auf die schiefe Bahn. Ein Ausscheiden aus dem Euro kann sich aber niemand wünschen, weil es das Land ins Chaos stürzen und bei uns mindestens Turbulenzen auslösen könnte. Aber wenn sie sich für diesen Weg entscheiden, muss man sie lassen. Erpressbar ist Europa nicht mehr.
Frage: Nächste Woche wählt Hamburg, dort halten Sie sich für eine Koalition mit der SPD bereit. Wird die FDP wieder sozialliberal?
LINDNER: Hamburg ist Hamburg. Da ist die SPD bürgerlich, die Grünen sind besonders links. Den Grünen darf man diese wunderbare Stadt nicht überlassen.
Frage: In den jüngsten Umfragen lagen Sie bei fünf bis sechs Prozent. Wie wichtig ist das Ergebnis für Sie?
LINDNER: Hamburg ist eine Schlüsselwahl. Wenn wir dort von unten durchs Eis kommen, dann hat das Auswirkungen auf die Stimmungslage in ganz Deutschland Das wäre auch ein Signal an die Große Koalition, ihre Politik zu überdenken. Wegen dieser Hebelwirkung zählt jede FDP-Stimme in Hamburg zehnfach.