WISSING-Interview: Die AfD und Freiheit, das ist ein Gegensatz
Der FDP-Generalsekretär Dr. Volker Wissing der „Berliner Zeitung“ (Online) das folgende Interview. Die Fragen stellte Tanja Brandes:
Frage: Herr Wissing, was ist wichtiger: Freiheit oder Gesundheit?
Wissing: Das eine darf das andere nicht ausschließen. Aktuell bräuchten wir aber eine bessere Balance zwischen Gesundheitsschutz und Freiheit.
Frage: In der Corona-Pandemie nehmen wir Abstriche bei unser Freiheit in Kauf, um unsere Gesundheit und die anderer zu schützen. Inwiefern halten Sie diese Einschränkungen für gerechtfertigt?
Wissing: Politik ist immer ein Abwägungsprozess, dem wir jede Maßnahme, die wir ergreifen, unterziehen müssen. Es gibt in der Pandemie keine absolute Sicherheit vor Ansteckung, deshalb ist es auch nicht sinnvoll, die Freiheit grenzenlos einzuschränken. Wir haben in Deutschland eines der besten Gesundheitssysteme, weil wir eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder sind. Wenn wir jetzt die wirtschaftlichen Interessen völlig ausklammern, verlieren wir die Grundlage, um dieses Gesundheitssystem weiter zu finanzieren.
Frage: Sie haben schon mehrmals zu bedenken gegeben, dass man die Corona-Maßnahmen begründen müsse, sonst leide die Akzeptanz vonseiten der Bevölkerung. Umfragen zufolge trägt die Bevölkerung die Maßnahmen aber mehrheitlich mit, 30 Prozent sprechen sich sogar für noch rigidere Einschränkungen aus …
Wissing: In der Praxis hat sich ja gezeigt, dass die Akzeptanz für die Maßnahmen nicht da war. Es wurden Feiern organisiert, es gab nicht verantwortbare Versammlungen im öffentlichen Raum – da ist offenbar das Verständnis für die Notwendigkeit dieser Regeln nicht vorhanden. Wenn die Menschen eigenverantwortlich einen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten sollen, dann muss man sie überzeugen. Im Übrigen ist die Begründung von Grundrechtseingriffen auch in unserer Verfassung vorgeschrieben. Ich finde auch, dass in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft der Bürger einen Anspruch darauf hat, dass man ihm erklärt, warum er was tun soll. Es ist gut, wenn es klare Regeln gibt. Wenn die Leute diese aber nicht verstehen, kommt es zu grotesken Situationen. Es gab eine Regel, dass bei Hochzeiten maximal 75 Gäste eingeladen werden dürfen. Das hatte zur Folge, dass Hochzeiten dreimal gefeiert wurden – mit jeweils 75 Gästen. Ich kenne einen Fall, da war die Schwester der Braut mit dem Coronavirus infiziert und bei allen Feiern dabei. Streng genommen haben sich diese Leute aber an die Regeln gehalten.
Frage: Aber kann man einem aufgeklärten Menschen nicht auch zutrauen, dass er von allein darauf kommt, dass diese Art der Regelbefolgung wenig sinnvoll ist?
Wissing: Doch, natürlich. Aber je mehr man mit den Menschen kommuniziert, desto mehr werden sie bereit sein, eigenverantwortlich zu handeln. Menschen sind ja nicht mehrheitlich unvernünftig. Im Übrigen ist es ohne Eigenverantwortung der Bevölkerung ohnehin nicht möglich, diese Pandemie zu bekämpfen. Gegenwärtig ist das öffentliche Leben ja ziemlich weit heruntergefahren, die Infektionen finden aber immer noch statt. Das muss also irgendwo im privaten Raum passieren.
Frage: Der Staat muss die Unverletzlichkeit der Wohnung respektieren und darf nicht einfach willkürlich kontrollieren, was hinter verschlossenen Türen passiert. Glauben Sie wirklich, dass Sie die Menschen mit einer Debatte im Bundestag dazu bringen können, das, was sie jetzt in ihren eigenen vier Wänden tun, noch einmal zu überdenken?
Wissing: Ja. Vor allem aber leben wir in einer Demokratie und die Bürger sind keine Untertanen, sondern freie Menschen. Der Staat hat nicht das Recht, Maßnahmen einfach anzuordnen und zu sagen: Ich habe mir dabei etwas gedacht – aber warum genau, das geht dich nichts an.
Frage: Was wäre der richtige Weg gewesen?
Wissing: Im Sommer, als die Infektionszahlen stark gesunken waren, hat die FDP einen Antrag auf Aufhebung der epidemischen Notlage gestellt. Damals hätte man dann sagen können: Wir bringen ein Gesetzesprojekt auf den Weg, wie wir als Regierung auf eine zweite Notlage reagieren können. Die Vorschläge der Regierung wären im Plenum debattiert worden, es hätte eine Expertenanhörung in den Ausschüssen gegeben. Man hätte das im Fernsehen übertragen können und jeder hätte miterleben können, wie alle Fragen im Wettstreit der Wissenschaft und Politik abgearbeitet werden. Am Ende hätte die Mehrheit entschieden, wie man es macht. So ein Vorgang bringt ein großes Maß an Transparenz.
Frage: Überschätzen Sie nicht den Einfluss der politischen Debatte in der Öffentlichkeit?
Wissing: Ich habe schon oft erlebt, wie sich viele politische Debatten nach solchen transparenten parlamentarischen Prozessen geklärt haben – auch in der Bevölkerung. Es ist nicht so, dass das Parlament nichts bewirkt. Und ich bin etwas erstaunt, dass man offenbar glaubt, das höchste und wichtigste Gremium in einer Demokratie, in diesem Fall den Deutschen Bundestag, bei der Pandemiebekämpfung nicht gebrauchen zu können. Aber genau das ist ja die Botschaft des Infektionsschutzgesetzes. Stattdessen entscheidet man auf Grundlage dessen, was man mit Experten im Hinterzimmer besprochen hat. Das ist für einige in Ordnung. Aber andere gehen auf die Straße und demonstrieren – leider auch mit Aluhüten und Rechtsextremen.
Frage: Wollen Sie damit sagen, dass die Entscheidungen von Ministerpräsidenten und Regierung daran schuld sind, dass Demonstranten vor dem Bundestag Reichsflaggen schwenken und dabei sämtliche Hygieneregeln missachten?
Wissing: Nein. Dass Rechtsextreme mit Reichsflaggen protestieren, weil sie den Staat verachten, ist unverzeihlich und völlig inakzeptabel. Aber es sind ja auch verunsicherte Bürger dabei, die Angst um ihre Gesundheit, ihre Existenz und ihre Zukunft haben. Das ist schon ein ernst zu nehmender Zustand. Ich bin mir sicher: Wenn es einen transparenteren Entscheidungsprozess gegeben hätte, dann wäre das anders gewesen.
Frage: Die AfD argumentiert auch regelmäßig mit der Freiheit. Haben Sie Sorge, dass sie dieses Thema kapert?
Wissing: Ich habe von der AfD noch nie gehört, dass sie die Freiheit verteidigt. Die AfD missbraucht diesen Begriff für ihre Interessen. Eine liberale Partei, die die Freiheit des Individuums in den Vordergrund rückt, kann niemals völkisch oder national denken. Die AfD und Freiheit, das ist ein Gegensatz. Es gibt keine wie auch immer geartete Überschneidung mit dem Freiheitsbegriff, den wir verteidigen. Ja, wir kritisieren die Regierung. Aber aus ganz anderen Gründen. Wir leugnen nicht, dass es einer Strategie bedarf, Corona zu bekämpfen, dass der Staat gefordert ist. Wir sehen aber auch, dass die Maßnahmen, die jetzt beschlossen wurden, nicht alternativlos sind.
Frage: Die FDP betont immer, nicht die Partei für eine bestimmte Zielgruppe zu sein. Beim letzten Parteitag hat FDP-Chef Christian Lindner den Menschen ein neues Wirtschaftswunder versprochen; tatsächlich hat die FDP den größten Erfolg aber bei den unter 30-Jährigen, denen Themen wie Bildung und Umweltschutz besonders wichtig sind und die mit dem Begriff „Wirtschaftswunder“ wahrscheinlich wenig anfangen können …
Wissing: Ein Wirtschaftswunder ist dann erforderlich, wenn man in einer Wirtschaftskrise steckt, und wir stecken gerade in einer extremen Wirtschaftskrise: Die Wirtschaft hängt am Tropf des Staates, die Staatsverschuldung wurde massiv ausgeweitet und es wird nach wie vor mit der Gießkanne Geld verteilt. Damit nehmen wir die gesamte Effizienz unserer Marktwirtschaft aus dem System. Das wird auf Dauer nicht gut gehen. Wir sind fest davon überzeugt, dass eine Stärkung der Marktwirtschaft nötig ist, um ein neues Wirtschaftswunder zu ermöglichen. Und genau das brauchen wir, um durch diese Zeit zu kommen.
Frage: Das heißt, die FDP besinnt sich wieder auf ihre Rolle als Partei der Marktwirtschaft?
Wissing: Unser Kernthema ist der Schutz der Entscheidungsfreiheit von Menschen, und der ist gewährleistet auf politischer Ebene in einem System der pluralistischen Demokratie und auf wirtschaftlicher Ebene in einem System der Marktwirtschaft. Der Schutz der Marktwirtschaft hängt für uns mit dem Schutz einer freiheitlichen Demokratie zusammen. Ich bin immer wieder erstaunt, dass dauernd die Frage gestellt wird, wofür die FDP steht. Das ist ziemlich klar: Wir stehen für die Entscheidungsfreiheit der Menschen.
Frage: Aber wenn die Frage immer wieder auftaucht, scheint das ja doch noch nicht so klar zu sein. Ist es nicht die Aufgabe der FDP, deutlicher zu kommunizieren, wofür sie steht?
Wissing: Das tun wir permanent. Aber ja, es gibt eine Schwierigkeit: Der Staat ist eine Gemeinschaft. Und die meisten Parteien beschäftigen sich mit der Frage, was diese Gemeinschaft den Menschen alles vorschreiben soll. Wir wollen dagegen, dass die Gemeinschaft nur das Nötige vorgibt und es den Menschen überlässt, möglichst viel in eigener Verantwortung zu tun. Wenn Sie in einer Gesellschaft keine liberale Bewegung haben, sitzt der Staat irgendwann auf Ihrem Schoß.
Frage: Das klingt sehr nach: Jeder ist seines Glückes Schmied. Aber es haben ja nicht alle die gleichen Startchancen. So etwas wie echte Bildungsgerechtigkeit gibt es in diesem Land nicht. Das heißt doch, dass der Staat in bestimmte Bereiche des Lebens durchaus eingreifen muss …
Wissing: Natürlich. Wir brauchen einen starken Staat, der sich auf die Aufgaben konzentriert, die er unbedingt erledigen muss, weil man sie dem Individuum nicht überlassen kann. Es kann in einer Gemeinschaft nicht jeder machen, was er will. Man braucht Regeln, damit die Freiheit des einen nicht zur Unfreiheit des anderen wird. Und im Bildungsbereich muss der Staat dafür sorgen, dass jedes Kind einen möglichst guten Zugang zu Bildung hat. Wir brauchen Regeln, aber nicht die Selbstverwirklichung von Politikern auf Kosten der Entscheidungsfreiheit von anderen Menschen oder Vorschriften, wie groß die Wohnung sein darf, in der jemand leben darf.
Frage: Weil wir gerade von gleichen Startchancen sprechen: Sie haben im September Linda Teuteberg beerbt und sind neuer FDP-Generalsekretär geworden. Nicht nur wegen eines verunglückten Witzes Ihres Parteivorsitzenden, sondern auch wegen der verhältnismäßig kurzen Amtszeit von Frau Teuteberg hat sich der Ruf der FDP verfestigt, eine Partei zu sein, die die Frauen von der Spitze vergrault. Ist die FDP ein schwieriges Pflaster für Frauen?
Wissing: Die FDP hat jetzt schon über 40 Prozent Frauen in der Führungsebene. Bei uns in Rheinland-Pfalz, wo ich Landesvorsitzender bin, gilt die Regel: Wer keine Quote will – und das will die FDP aus dem Freiheitsgedanken heraus nicht –, der muss beweisen, dass er sie nicht braucht. Daher nominieren wir in der Regel paritätisch. Das wollen Christian Lindner und ich für die gesamte Partei erreichen. Auch hier gilt: Was aus Überzeugung geschieht, ist mehr wert, als wenn man es vorschreibt. Auch wenn das vielleicht der mühsamere Weg ist.