WESTERWELLE-Rede beim Kulturfrühstück der FDP-Bundestagsfraktion in Bonn
Warum sind Kunst und Kultur so wichtig? Kunst und Kultur sind der Nukleus der geistigen Entwicklung einer Gesellschaft. Kunst und Kultur spiegeln den Stand einer Gesellschaft, oft gehen sie ihr voran, ja treiben die Entwicklung einer Gesellschaft weiter. Wir genießen nicht nur Kunst und Kultur, sie beeinflußt uns auch, und zwar meist positiv im Sinne des Humboldtschen Bildungsideals für den freien und selbständigen Menschen.
Ich bin der Überzeugung: Ohne Kunst und Kultur wäre eine Gesellschaft nicht kreativ, eine Wirtschaft nicht innovativ, ohne Kunst und Kultur wäre Bildung technokratisch. Erst Kunst und Kultur geben die Vielfalt der Sichtweisen in unserer Gesellschaft wider. Kunst und Kultur sind deshalb so wertvoll, weil sie zu den Werten unserer Gesellschaft beitragen. Sie machen uns Deutsche zu einer Kulturnation.
Meine These ist: Kunst und Kultur entscheiden auch über den wirtschaftlichen Fortschritt einer Gesellschaft. Und zwar nicht nur als Markt für Kunst und Kultur selbst, sondern zu aller erst, weil Kunst und Kultur die Gemütsverfassung einer Gesellschaft bestimmen, ihre Kreativität, ihren Optimismus, ihre Neugierde, ihr Streben nach Qualität und Schönheit.
Ich persönlich habe meine Liebe zu Kunst und Kultur weder gestern noch vorgestern entdeckt. Seit vielen Jahren sammle ich Kunst. Seit vielen Jahren begeistert mich die Oper. Aber es geht hier nicht um mich. Mir geht es heute darum, Ihnen zu sagen, warum die Liberalen Kunst und Kultur eine so zentrale Bedeutung beimessen.
Ein Gedanke steht für die FDP im Kern ihres Weltbildes. Dies ist der Wert der Freiheit, der Freiheit zur Verantwortung. Freiheit ist unteilbar. Eine marktwirtschaftliche Ordnung, eine tolerante Bürgergesellschaft und Entfaltungsraum für die Kultur: Diese drei Elemente gehören zusammen. Eine obrigkeitsstaatliche Gesellschaft, in der der Staat wie ein Leviathan in das Leben jedes einzelnen Bürgers eingreift, versagt überall. Eine bürokratische Staatswirtschaft schafft weder Wachstum noch Arbeitsplätze. Eine intolerante Gesellschaft engt die Freiheit des Einzelnen zur verantwortlichen Selbstentfaltung ein. Und: Eine unfreie Gesellschaft unterbindet Kreativität.
Nur durch Kreativität gibt es innovative Produkte für die Wirtschaft und neue Gedanken in der Kunst und der Kultur. Nur durch Kreativität und Freiheit können jene Leistungseliten entstehen, die wir dringend brauchen. Wir brauchen sie in jedem Bereich: in der Wirtschaft und im Sport, in der Wissenschaft und in der Kultur.
Mir liegt dies so am Herzen, weil ich Ihnen verdeutlichen möchte, wieso der zentrale Wert der Kultur für uns Liberale kein isoliertes Mosaiksteinchen ist, sondern Teil von etwas Ganzem: unserem Gesellschaftsbild. Wir wollen ein Land, das modern ist, aufgeschlossen, tolerant, leistungsbereit. Die Bereiche, die von einem solchen Geist profitieren, sind alle. Betriebe und Universitäten, Labore und Gründermessen, Kulturstiftungen und Theater, der Film und der Kunstmarkt. Wahrhaft frei, wirklich aufgeschlossen kann nur eine Gesellschaft sein, die der Kultur eine zentrale Bedeutung zumißt. Das ist die Lehre aus Jahrhunderten deutscher Geschichte als Kulturnation. Das ist aber auch ein Auftrag für die Zukunft.
Liberalismus will Menschlichkeit durch Vielfalt. Freiheit ist Vielfalt. Vielfalt in der Marktwirtschaft heißt Wettbewerb. Vielfalt in der Gesellschaft heißt Toleranz. Die Dynamik der Freiheit entfaltet sich gleichermaßen auf dem Markt der Ideen, Entwürfe und Lösungen, wie auf dem Markt der Interessen und Güter.
Gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheit sind unteilbar. Gesellschaftliche Freiheit und wirtschaftliche Freiheit bedingen einander und fördern sich gegenseitig. Marktwirtschaft braucht eine freiheitliche, vielfältige und tolerante Gesellschaft. Eine freiheitliche, vielfältige und tolerante Gesellschaft braucht Marktwirtschaft.
Individuelle Freiheit setzt Kreativität und persönliche Leistungsbereitschaft frei. Fortschritt gedeiht am besten in einer freien, offenen und pluralen Gesellschaft. Liberale treten dem Vorurteil entgegen, das wirtschaftliche Freiheit für rechts hält und gesellschaftliche Freiheit für links. Für Liberale verläuft die politische Grenze nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen freiheitlich und autoritär.
Das ist auch der Grund, warum die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes den Schutz der kulturellen Vielfalt, der Freiheit von Kunst und Kultur einen Verfassungsrang gegeben haben. Unser Grundgesetz schützt in Artikel 5, Absatz 3 die Freiheit der Kunst. Das ist mehr als die Abwesenheit von staatlicher Zensur. Das ist ein Schutzauftrag des Staates für die kulturelle Vielfalt in unserem Lande.
Die kulturelle Vielfalt in Deutschland besteht zuerst aus zahllosen privaten Initiativen. Aus vielen, vielen kleinen, oft regionalen Initiativen und auch manchen großen privaten Stiftungen.
Wenn ich von Musik und Museen, dem Kulturmarkt und Kino spreche, dann möchte ich klarstellen, was für mich Kultur bedeutet: Kultur ist mehr als Kunst, in der Kulturpolitik geht es um mehr als um die Finanzierung von Freizeitgestaltung der gehobenen bildungsbürgerlichen Lebensart. Es gibt ja spannende Massenkultur-Phänomene, wie populäre Musik- und Videokultur zum Beispiel. Auch sie gehören zur kulturellen Vielfalt des Landes. Sie sind nicht nur wichtige Märkte der Kultur, sie spiegeln auch oft das Lebensgefühl der jungen Generation wider.
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte sich das Kulturverständnis in Deutschland grundlegend verändert: Die traditionelle Hochkultur bemühte sich um Breitenwirkung und aktivierte ein breites Publikum.
Im Laufe der nächsten Jahre entwickelte sich eine kulturelle Bewegung, die als "Kultur für alle" bzw. "Populärkultur", "Alltagskultur" und "Freizeitkultur" in Konzepte der Kulturpolitik Eingang fand. Die Besonderheit dieses erweiterten Kulturverständnisses war: Kultur darf auch unterhaltsam sein.
Hoch- und Populärkultur, Kunst und Unterhaltung bewegen sich seither auf einander zu.
Tenöre singen in Fußballstadien, Popkonzerte finden in Kirchen statt. Früher "hatten" wenige Kultur, heute können viele Kultur "erleben". Die Hochkultur traditioneller Prägung hat ihren elitären Charakter verloren.
Was Kultur ist, wird nicht in einer abgehobenen Schicht entschieden. Die Beurteilung der Kultur ist genauso frei wie die Kultur selbst.
Anfangs galt Hermann Hesse als trivial, längst ist er ein Thema für germanistische Oberseminare. Zu Lebzeiten wollte kaum einer einen van Gogh haben. Heute ist er unbezahlbar.
Die Beatles starteten als Bürgerschreck, heute führt bald jeder zweite britische Musiker ein "Sir" im Namen.
Ich verstehe den Kulturauftrag des Staates als ein aktives Kulturstaatsgebot. Für mich sind die Kulturausgaben der Kommunen, der Länder und des Bundes nicht das Sahnehäubchen der staatlichen Haushalte, für mich sind Ausgaben für die Kultur keine Subventionen, sondern eine Investition. 8 Milliarden Euro werden gesamtstaatlich für Kultur und Kunst ausgegeben. Und es ist ein Fehler, daß die Finanzminister und Kämmerer die Kulturhaushalte als Steinbruch betrachten, wenn die Haushalte jetzt in Notlage geraten.
"Kultur hat viele Gesichter", sagen 69 Prozent der Deutschen.
Zur Kultur gehören also Vielfalt und Vielseitigkeit, Klassisches und Modernes, Ernstes und Unterhaltsames. Kultur darf unterhaltsam und erlebnisreich, muß nicht nur ernst und anstrengend sein.
In einem Punkt sind sich die Menschen weitgehend einig: Kultur ist keine mühsame Pflichtveranstaltung mehr, sondern hat viel mit Geselligkeit zu tun. Kultur wird durch das Miteinander erlebnisreicher und menschlicher.
Menschen suchen das gemeinschaftliche Erlebnis. Kultur bringt Menschen zusammen. Das ist gerade in einer älter werdenden Gesellschaft eine Chance gegen Vereinsamung im Alter.
1.
Wir haben einen Rückgang der musischen Erziehung in den Schulen. Unser Humboldtsches Bildungsideal verlangt eben auch eine Infrastruktur in den Schulen für Kunst und Kultur. Ich zitiere hier aus Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen: "Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit." Deswegen brauchen wir eine neue Anerkennung, beginnend bei den Schulfächern, da0 es sich bei Kunst und Kultur um eine hoheitliche Kernaufgabe des Staates handelt.
Der Ausfall von Musikunterricht im Grund- und Hauptschulbereich beträgt in einzelnen Bundesländern bis zu 80 Prozent.
2.
Die wichtigste Ebene der kulturellen Vielfalt in unserem Land sind die privaten Initiativen und Stiftungen der Bürgerinnen und Bürger. Daher werden wir uns bei einer liberalen Regierungsbeteiligung für eine weitere Reform des Stiftungsrechtes einsetzen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat hierfür einen konkreten Gesetzentwurf erarbeitet, um das bürgerschaftliche Engagement für kulturelle Stiftungen weiter zu fördern. Mit einem einfachen und steuerlich attraktiven Stiftungsrecht wollen wir eine neue Welle von Stiftungsgründungen auslösen.
3.
Die wichtigste staatliche Ebene der Kulturpolitik sind Städte und Gemeinden. Die Arbeit des Kulturdezernenten einer Stadt bestimmt für viele Menschen in der Stadt und im Umland die Möglichkeiten zur Teilhabe am kulturellen Leben. Aber auch hier gilt: Nur, wenn Ausgaben für Kultur nicht länger als Subventionen, sondern als Investitionen gesehen werden, kann sich die Kultur in den städtischen Haushalten behaupten.
4.
Kunst und Kultur leben von denjenigen, die sich für sie engagieren, die künstlerisch tätig sind. Künstlerisches Schaffen muß als geistiges Eigentum genauso geschützt sein wie Eigentum an der Sache. Deswegen hat die FDP dem Gesetzentwurf 2002 zugestimmt, Künstler mit neuem Urhebervertragsrecht besser zu schützen und zu vergüten. Die allermeisten Künstler beginnen ihren Weg mit hohen finanziellen Risiken und vielen persönlichen Einschränkungen. Wir brauchen aber eine Rechtslage, die unsere künstlerischen Talente ermutigt und nicht abschreckt. Und dabei ist ein Urhebervertragsrecht ein wichtiger Bestandteil.
Die digitale Welt braucht ein starkes Urheberrecht, denn erst ein wirksamer Schutz des geistigen Eigentums durch das Urheberrecht schafft die notwendigen Anreize für kreative Tätigkeit und für Investitionen in deren wirtschaftliche Verwertung. Das ist auch für die Kino- und Videobranche von großer Bedeutung.
Raubkopieren ist keine Bagatelle, sondern muß genauso strafbar sein wie Schokolade klauen.
5.
Ebenso brauchen wir aber auch Rahmenbedingungen für den Kunstmarkt, die nicht dazu führen dürfen, daß ein Handel mit Kunst in Deutschland nicht mehr oder nur noch eingeschränkt stattfindet. Daher werden wir dafür sorgen, daß die Europäische Folgerechtsrichtlinie in Deutschland so umgesetzt wird, daß Sie den deutschen Kunsthandel gegenüber den europäischen Nachbarländern nicht benachteiligt. Das gilt auch für die Zahlungen an die Künstlersozialkasse. Ich weiß, daß gerade die Galeristen von der Abgabe an diese wichtige Einrichtung sehr belastet werden.
Die FDP hat in diesem Jahr einen Antrag zur Reform der Künstlersozialkasse in den Bundestag eingebracht, um zu einem gerechten Ausgleich der Interessen zu kommen.
6.
Wir brauchen keine Kultusministerkonferenz, die sich mit den Fragen der Rechtschreibreform beschäftigt. Das Chaos, das dadurch entsteht, kann den Schülern und Lehrern doch nicht zugemutet werden.
Die Kultusministerkonferenz muß sich auf das konzentrieren, was Kulturminister zu leisten haben: die Pflege des kulturellen Erbes zum Beispiel, die uns Deutschen so etwas wie ein nationales Selbstgefühl und ein nationales Band gibt. Wer sich daran erinnert, versteht die Gegenwart und hat einen Kompaß für die Zukunft. Daß die Menschen wissen, wie wichtig unser kulturelles Erbe ist, zeigt die riesige Hilfsbereitschaft zum Wiederaufbau der abgebrannten Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar.
7.
Die FDP spricht sich jetzt in ihrem Wahlprogramm für die Aufnahme der Kultur als Staatsziel in das Grundgesetz aus.
Die Kultur benötigt eine starke Vertretung innerhalb des Bundeskabinetts, gegenüber
der Öffentlichkeit und der europäischen Ebene. Daher setzt sich die FDP dafür ein, daß die Zuständigkeit für Kultur und Medien aufgewertet wird und künftig Kabinettsrang erhält.
Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, sagte vergangene Woche: "Im Vergleich zu SPD, CDU/CSU und Bündnis90/Die Grünen legt die FDP das bislang umfangreichste kulturpolitische Wahlprogramm vor. Die klaren Aussagen zur Einfügung des Staatsziels Kultur ins Grundgesetz und die deutliche Aufwertung der Kultur- und Medienpolitik des Bundes durch eine Zuständigkeit in Kabinettsrang machen deutlich, daß für die FDP Kulturpolitik ein wichtiges Thema ist."
Rund 500 Millionen Euro geben Unternehmen für Kultursponsoring jedes Jahr aus. Dem Statistischen Bundesamt zu Folge gibt es in Deutschland mehr als 4700 Museen mit rund 100 Millionen Besuchern im Jahr 2000. Daß Museen kein Privileg einer kleinen Kulturelite sind, zeigt die MOMA-Ausstellung in Berlin, die 1,2 Millionen Besucher angelockt hat. Es gibt in Deutschland 731 Spielstätten von Theatern über Konzertsäle bis hin zu Freilichtbühnen mit mehr als 20 Millionen Besuchern im Jahr 2000. Man liest, mit 69 Opernhäusern habe Deutschland mehr Opernhäuser als der Rest der Welt zusammen. Das heißt für mich nicht, daß wir ein Zuviel an Kulturangebot haben. Das heißt für mich, daß wir eine hohe Nachfrage haben. Das ist ein gutes Zeichen für die Kulturnation Deutschland. Dazu möchte ich Oscar Wilde zitieren: "Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn entdeckt, der hat Kultur."