01.09.2005FDP

WESTERWELLE-Interview für "Super-Illu"

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab der "Super-Illu" (heutige-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte DIRK BALLER und JOCHEN WOLFF:
Frage: Sie sind in diesem Wahlkampf häufig in den neuen Bundesländern unterwegs. Wie viele frustrierte Menschen haben Sie hier getroffen?

WESTERWELLE: Den einen oder anderen, der frustriert ist über die Äußerungen aus Bayern. Ansonsten bin ich immer wieder beeindruckt von der Veränderungsbereitschaft und der zupackenden Art der Ostdeutschen.

Frage: Die Bundestagswahl fällt mit einem Jubiläum zusammen ? 15 Jahre Einheit. Haben Sie die "blühenden Landschaften" gesehen?

WESTERWELLE: Es gibt ganz erfreuliche Entwicklungen ? und es gibt Bereiche, wo es nicht blüht, sondern trist aussieht. Das geht nicht nur quer durch Ostdeutschland, sondern quer durch die gesamte Bundesrepublik. Wir haben in Hannover eine Arbeitslosenquote von rund 14 Prozent, in Potsdam ist die Zahl ähnlich. Wir haben in Bremerhaven leider eine Arbeitslosenquote von gut 20 Prozent, und das ist auch der Durchschnitt in Mecklenburg-Vorpommern. Die Probleme in Deutschland, die durch die Massenarbeitslosigkeit immer drängender werden, sind gesamtdeutsche Probleme. Und deshalb bin ich strikt gegen einen Wahlkampf Ost gegen West, wenn er von der PDS gemacht wird, aber ausdrücklich auch gegen einen Wahlkampf West gegen Ost.

Frage: Die These vom Osten, der den Westen hinabzuziehen droht, hat aber viele Anhänger, gerade im Westen?

WESTERWELLE: Die Ausreden für die schlechte Wirtschaftslage wechseln, nur die Lage bleibt schlecht. Mal ist es die deutsche Einheit, die uns nicht auf die Beine kommen läßt ? das ist die bevorzugte Ausrede von Herrn Schröder und Herrn Eichel. Mal ist es der lange Winter oder die Umstellung der Statistik ? das sind die Ausreden, die uns Herr Clement Anfang des Jahres aufgetischt hat. Ich lasse mir jedenfalls 15 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht die Freude an der deutschen Einheit nehmen. Und wer immer nur fragt ?Was kostet die Einheit??, der vergißt leicht, was sie uns wert ist.

Frage: Also ein klares Bekenntnis zum Aufbau Ost?

WESTERWELLE: Das ist auch kein Wunder. Nicht nur, daß wir Liberale in Ostdeutschland politisch sehr stark vertreten sind ? wir sind an einer Landesregierung beteiligt, in drei Landesparlamenten vertreten, stellen Hunderte von Bürgermeistern, darunter auch die Oberbürgermeister von Jena und Dresden. Hinzu kommt, daß die ganze Existenz der FDP nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Zusammenführung gesamtdeutscher Schicksale beruhte. Ich erinnere nur an den großartigen Hallenser Hans Dietrich Genscher oder an den leider viel zu früh verstorbenen Dresdner Wolfgang Mischnick.

Frage: Dennoch läuft die FDP Gefahr, im Osten nur als vierte oder fünfte Kraft abzuschneiden. Woran liegt?s?

WESTERWELLE: Einspruch. Die FDP hat das beste Landtagswahlergebnis der letzten vier Jahre in Ostdeutschland geschafft ? nämlich über 13 Prozent in Sachsen-Anhalt. Und das haben wir Cornelia Pieper zu verdanken?

Frage: Dieser Ruhm von 2002 ist aber schon leicht verblaßt?

WESTERWELLE: Auch da muß ich widersprechen. Ich bin sehr froh, daß Cornelia Pieper als stellvertretende Parteivorsitzende die Interessen der so genannten neuen Bundesländer deutschlandweit vertritt und durchsetzt. Wenn ich ihre Arbeit etwa mit der von Herrn Stolpe vergleiche, kann ich nur sagen: Hut ab vor Cornelia Pieper!

Frage: Unsere Frage bezog sich auf die Umfragen der letzten Wochen?

WESTERWELLE: Die Umfragen wechseln täglich, wenn nicht sogar stündlich. Damit mögen sich Journalisten beschäftigen. Für uns zählt ein Wahlergebnis am 18. September, das es uns ermöglicht, mit Schwarz-Gelb Rot-Grün abzulösen und eine linke Mehrheit im Bundestag zu verhindern.

Frage: Aber Rot-Rot-Grün kommt für Kanzler Schröder doch nicht in Frage, wie er immer versichert?

WESTERWELLE: Der Bundeskanzler ist auf Abschiedstournee. Herrn Schröder glaube ich unbesehen, daß er dafür nicht zur Verfügung steht. Aber er würde ? wenn es eine linke Mehrheit im Bundestag gäbe ? von seiner Partei mit stehendem Beifall und roten Nelken verabschiedet. Und anschließend nähme ein anderer, meinetwegen Herr Gabriel, an seiner Stelle Platz. Wenn die SPD die Wahl hätte, Juniorpartner in einer Großen Koalition mit Frau Merkel zu werden oder das Kanzleramt zu behalten, würde sie sich mit Sicherheit für das Kanzleramt und damit die Macht entscheiden ? ob das dann rot-rot-güne Koalition hieße oder Tolerierung durch die PDS, mag dahingestellt sein.

Frage: Sie malen an die Wand, daß die SED-Nachfolgepartei 15 Jahre nach der Wiedervereinigung die Geschicke der Bundesrepublik bestimmt. Hatten da die Warnungen von Herrn Stoiber doch eine gewisse Berechtigung? So jedenfalls werden sich die Menschen in Köln oder München die Einheit kaum vorgestellt habe?

WESTERWELLE: Genauso wenig wie in Dresden, in Erfurt, in Magdeburg, in Potsdam oder in Schwerin ? und deshalb wird es auch nicht so kommen. Meine Lebenserfahrung lehrt mich, daß Klugheit und Dummheit in Deutschland flächendeckend gleichermaßen verteilt sind.

Frage: Warum soll ein Arbeitsloser in Cottbus ausgerechnet FDP wählen?

WESTERWELLE: Weil wir die einzige Partei sind, die mit einer glasklaren mittelstands- und wirtschaftsfreundlichen Politik dafür sorgt, daß bei uns investiert wird und hier neue Arbeitsplätze entstehen. Und weil wir dafür sorgen wollen, daß Ostdeutschland als Modellregion Tempomacher für ganz Deutschland werden kann.

Frage: Wie soll das funktionieren?

WESTERWELLE: Indem wir so genannte Länderöffnungsklauseln durchsetzen, die es vor Ort den Landesparlamenten erlauben, vom Bundesrecht abzuweichen ? etwa bei der Bürokratie, aber auch bei den zu starren Flächentarifvertragsstrukturen. Das Ziel ist es, Genehmigungsverfahren zu beschleunigen und neue Investitionen zu erleichtern.

Frage: 4,7 Millionen Arbeitslose ? aber der Bundeskanzler sagt, es laufe eigentlich ganz gut, nur die Reformen wirkten langsamer als gewünscht?

WESTERWELLE: In Wahrheit sind es sogar sechs bis sieben Millionen. Aber offenbar ist Herr Schröder hinter den Mauern des Kanzleramtes von der Realität ausgesperrt. Er legt Ausblendungen der Wirklichkeit an den Tag, wie ich sie bei Helmut Kohl erst nach 16 Jahren Kanzlerschaft erlebt habe.

Frage: Ist nicht die soziale Marktwirtschaft insgesamt gescheitert, wenn in Ostdeutschland bis zu 30 Prozent PDS wählen wollen?

WESTERWELLE: In Ostdeutschland ist seit 1990 nicht die soziale Marktwirtschaft versucht worden, sondern eine bürokratische Staatswirtschaft. Der große Fehler nach der Wiedervereinigung ? und den müssen sich alle Parteien zurechnen lassen ? lag darin, daß man das ganze staatliche Gepäck, das im Westen in 40 Jahren gesammelt wurde, eins zu eins auf die Schultern der Ostdeutschen gelegt hat.

Frage: Können Sie sich auch ein Niedrigsteuergebiet Ostdeutschland vorstellen, wie es die FDP Anfang der 90-er Jahre gefordert hatte?

WESTERWELLE: Das ist heute schwieriger. Die Entwicklung aber hat meinen Parteifreunden Otto Graf Lambsdorff und Hans Dietrich Genscher jedenfalls Recht gegeben, die diesen Plan damals entwickelt hatten, seinerzeit aber von allen anderen Parteien abgeblockt wurden.

Frage: Im Osten haben viele den Eindruck, daß ihre Erfahrungen wenig zählen im vereinten Deutschland?

WESTERWELLE: Man muß zur Kenntnis nehmen, daß manche politische Erfahrung aus der DDR es wert wäre, wieder aufgenommen zu werden. Daß das Abitur nach zwölf Jahren in ganz Deutschland als erstrebenswertes Ziel diskutiert wird, ist ja nur dem Osten zu verdanken. Tatsache ist: Das studentische Berufseintrittsalter, das in der DDR bei 23 oder 24 Jahren lag, liegt im vereinten Deutschland inzwischen bei 29 Jahren. Daß Deutschland die ältesten Studenten hat, schadet unserer Volkswirtschaft und den jungen Leuten und kostet die sozialen Sicherungssysteme Beiträge. Ein zweites Beispiel: Ein flächendeckendes Angebot an bezahlbarer Ganztags-Kinderbetreuung ist eine wichtige Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Tatsache, daß sich etwas schon in der DDR bewährt hat, kann doch nicht bedeuten, daß es für ganz Deutschland nie und nimmer in Frage kommt.

Frage: Aufreger-Thema Hartz IV. Die FDP hat diese Reform im Gegensatz zur Union nicht mitgetragen, ist folglich dafür auch nicht haftbar zu machen. Was würden Sie beibehalten, was würden Sie ändern?

WESTERWELLE: Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe würden wir auf jeden Fall beibehalten, weil es falsch ist, zwei steuerfinanzierte Sozialeistungen mit doppelter Bürokratie zu haben. Ändern würden wir hingegen die zu geringen Zuverdienstgrenzen, um Motivation zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen. Schluß muß sein mit den Ein-Euro-Jobs, mit denen der Staat ? gerade im Osten ? dem Handwerk Konkurrenz macht.

Frage: Wie stehen Sie zur Ost-West-Angleichung der ALG 2-Bedarfssätze?

WESTERWELLE: Ich kann das Anliegen verstehen. Tatsächlich macht die Unterscheidung in Ost und West wenig Sinn. Es wäre richtiger, statt eines bundeseinheitlichen Betrages länderspezifische Sätze einzuführen. Denn Unterschiede bei den Lebenshaltungskosten gibt es tatsächlich ? aber nicht nur zwischen Ost und West, sondern genauso zwischen Nord und Süd.

Frage: Noch eine persönliche Frage: Warum haben wir uns hier am Schloß Sanssouci in Potsdam getroffen ? sind Sie ein Fan Friedrichs des Großen?

WESTERWELLE: Nicht der Alte Fritz, sondern der Müller, der mit dem König vor Gericht gestritten hat, ist es, der mir am Herzen liegt! Mir imponiert seit dem ersten Semester meines Jura-Studiums, wie hier ein einfacher Mann Zivilcourage gegenüber der Obrigkeit bewiesen hat.

Frage: Und was halten Sie als Rheinländer von preußischen Tugenden?

WESTERWELLE: Man sagt mir jedenfalls nach, daß ich einige davon verkörpere. Ich bin sehr bürgerlich, was Umgangsformen angeht. Und ich finde Fleiß, Disziplin und Respekt nicht altmodisch, sondern hochmodern.

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