WESTERWELLE-Interview für "Die Zeit"
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab der Wochenzeitung "Die Zeit" (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten ELISABETH NIEJAHR und MARC BROST:
Frage: Herr Westerwelle, was ist bürgerlich?
WESTERWELLE: Leistungsbereitschaft. Toleranz. Disziplin, Stil, Kultiviertheit.
Frage: Als typisch bürgerlich gilt auch das Maßhalten, das Ausgewogene, das Augenmaß. Kann es sein, daß die bürgerliche Mitte vom Konsenskurs der neuen Regierung eher angesprochen wird als von den radikaleren Ideen der FDP?
WESTERWELLE: Die Deutschen haben eine große Sehnsucht nach Konsens, das ist wahr. Sie wissen aber auch, daß nur im Wandel der Wohlstand erhalten werden kann. Früher ging der Veränderungsdruck von den Enden des politischen Spektrums aus. Jetzt kommt er aus der tiefsten Mitte.
Frage: Wer ist für Sie die bürgerliche Mitte?
WESTERWELLE: Das sind Menschen, die man früher zum Mittelstand oder zur Mittelschicht gezählt hätte. Menschen, die immer mehr arbeiten müssen und gleichzeitig feststellen, daß der Staat ihnen immer mehr davon abnimmt und immer weniger dafür bietet. Der Staat wird von diesen Menschen zunehmend als teurer Versager empfunden.
Frage: Die Union hat aus dem Wahlkampf offenbar die Schlußfolgerung gezogen, daß es keine Mehrheiten für radikale Reformen gibt. Und Sie?
WESTERWELLE: Die Union hat nicht die Wahl verloren, weil sie auf marktwirtschaftliche Erneuerung gesetzt hätte, sondern weil Herr Stoiber vor der Wahl alle Ostdeutschen beschimpfen mußte. Dazu kam das Hin und Her in der Steuerpolitik.
Frage: Bei den Wählern kommt Angela Merkels Politik augenscheinlich an, das zeigen alle Umfragen.
WESTERWELLE: Der Blick für die Realitäten kommt spätestens, wenn klar wird, daß eine gefühlte Konjunktur keine Arbeitsplätze schafft. Wir haben heute ein großkoalitionäres Meinungskartell. Ein Beispiel: Der Präsident der Bundesagentur für Arbeit - ein Parteigänger der CDU - kommentiert die Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen mit Fröhlichkeit und geht lässig darüber hinweg, daß auch in den letzten zwölf Monaten wieder jede
Woche 2000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse verloren gegangen sind. So viel Nachsicht hätte er gegenüber Rot-Grün nie walten lassen.
Frage: Man kann die Umfragewerte für Schwarz-Rot auch anders deuten: Vielleicht sind die Deutschen einfach ein sozial geprägtes Volk, das mit liberalen Gedanken wenig anfangen kann.
WESTERWELLE: Die FDP schlägt vor, was einige unserer Nachbarländer längst gemacht haben - mit dem Ergebnis, daß dort die Arbeitslosigkeit halb so hoch ist wie bei uns. Den Mentalitätswechsel zu befördern ist die eigentliche Aufgabe der FDP in der Opposition. Das ist uns in den letzten fünf Jahren schon erstaunlich gut gelungen. Was vor fünf Jahren
noch als neoliberaler Turbokapitalismus galt, der bestenfalls für Yuppies einer Ellbogengesellschaft tauge, wird ja heute in weiten Teilen als eine auch
sozial überzeugende Idee diskutiert.
Frage: Wirklich? Die Stimmung ist doch eine andere: Überall in den westlichen Industrienationen geht die Schere zwischen Arm und Reich auseinander. Das große Versprechen der Neoliberalen, von einer unternehmerfreundlichen Wirtschaftspolitik
würden alle profitieren, hat sich bisher nicht erfüllt.
WESTERWELLE: Das ist ein modischer Irrglaube, in Deutschland sei in den vergangenen Jahren Liberalismus versucht worden. Die großartige Entlastung, von der Herr Eichel immer gesprochen hat, die hat es nie gegeben. Die Menschen sind jedes Jahr massiv mehr belastet worden. Die Rentenbeiträge sind nicht gesunken, sondern gestiegen. Die Gesundheitsbeiträge
sind nicht gesunken, sondern gestiegen. Die Lebenshaltungskosten sind nicht gesunken,
sondern gestiegen - vor allem durch steigende Energiepreise und die Ökosteuer. Das war doch keine Erneuerungspolitik. Schwarz-Rot macht in weiten Teilen dieselbe Politik wie Rot-Grün: nicht an die Strukturen herangehen, sondern die Bürger mehr belasten.
Frage: Was bedeutet für einen Liberalen heute soziale Gerechtigkeit?
WESTERWELLE: Hilfe für wirklich Bedürftige. Und Leistungsgerechtigkeit, damit das erwirtschaftet werden kann, was diejenigen brauchen, die der Blitzschlag des Schicksals getroffen hat.
Frage: Graf Lambsdorff hat gesagt: »Hungernde Liberale nützen nichts. Auch Liberale bejahen, daß Menschen ein Mindestmaß an Sicherheit brauchen. « Ist das ein Argument für Mindestlöhne?
WESTERWELLE: Nein, denn dann könnten wir auch die Brotpreise vom Staat festsetzen lassen.
Frage: Mindestlöhne gibt es in 18 EU-Ländern. So schädlich können sie also nicht sein
WESTERWELLE: was aber daran liegt, daß die soziale Absicherung in diesen Ländern oft sehr gering ist. Wer arbeitet, hat dort mehr als ein Arbeitsloser.
Frage: Bei uns bieten nicht einmal mehr Tarifverträge Schutz vor Armut. Bundesweit gibt es 130 Tarifverträge mit Vergütungen unter 1000 Euro brutto. Eine Familie läßt sich davon nicht ernähren.
WESTERWELLE: Deswegen bleibe ich auch bei unserem Konzept des Bürgergeldes. Wir wollen die sozialen Hilfeleistungen bündeln, die Behörden zusammenfassen, und wenn jemand weniger als das Existenzminimum verdient, bekommt er etwas dazu - ohne daß er sich schadet, weil er arbeitet. Ich sehe die Entwicklung, die Sie beschreiben. Und ich empfinde sie als bedrohlich.
Frage: Wie hoch soll das Bürgergeld sein?
WESTERWELLE: Es soll etwa in Höhe der alten Sozialhilfe liegen, wobei man nach Regionen staffeln muß. Die Lebenshaltungskosten sind ja sehr unterschiedlich.
Frage: Glauben Sie wirklich, daß das Bürgergeld reicht, bei jenen Menschen wieder Vertrauen zu schaffen, die heute für vier Euro brutto die Stunde arbeiten und die fürchten, ihre Stelle bald an einen osteuropäischen Billigarbeiter zu verlieren?
WESTERWELLE: Ich gehe noch viel weiter als Sie. Ich glaube, kein Versprechen einer Partei wird geeignet sein, bei irgend jemandem noch nachhaltig Vertrauen zu erwecken. Die Menschen sind doch in den vergangenen Jahrzehnten ein ums andere Mal für dumm verkauft worden. Meiner Meinung nach befinden wir uns in einer Situation, in der Politiker
nur noch durch Fakten Vertrauen schaffen können.
Frage: Schlecht für eine Oppositionspartei. Wenn der Wähler Politikern sowieso nicht mehr glaubt - wie machen Sie dann überhaupt noch Wahlkampf?
WESTERWELLE: Indem ich auf die Ergebnisse liberaler Politik in anderen Ländern hinweise. Entweder wir ändern die politischen Rahmenbedingungen in Deutschland rechtzeitig. Oder wir werden durch die Umstände dazu gezwungen. Variante zwei wäre schmerzhafter.
Frage: Schmerzhaft geht es in Deutschland längst zu: Seit 1991 sind die Löhne und Gehälter real um 5,1 Prozent gesunken. Wundert Sie da, wenn die Menschen jetzt auf die Straße gehen und streiken?
WESTERWELLE: Ich halte den Streik im öffentlichen Dienst für einen Luxusstreik, den ver.di noch bedauern wird. Die vergangenen Wochen haben vielen Bürgern die Augen dafür geöffnet, daß wir den Staat nicht bei Dienstleistungen einsetzen sollten, die Private genauso und vielleicht sogar besser erledigen können. Es gibt keinen Grund dafür, die Müllentsorgung oder die Straßenreinigung vom Staat erledigen zu lassen. Der Staat muß sicherstellen,
daß diese Aufgaben erledigt werden, aber er muß das alles nicht selber machen. Ich bin ganz
sicher: Der ver.di-Streik wird Anlaß für eine neue Privatisierungswelle sein. Überall, wo die FDP Verantwortung trägt, wird sie darauf drängen.
Frage: Es geht ja nicht nur um den öffentlichen Dienst, sondern auch um die Metallindustrie. Vielen Unternehmen geht es so gut wie lange nicht mehr - leuchtet Ihnen nicht ein, daß die Beschäftigten einen Teil des Gewinns erwarten?
WESTERWELLE: Innerhalb des Produktivitätszuwachses ist für mich jede Lohnforderung vertretbar. Aber die überhöhte Lohnforderung der IG Metall hat die Bundesregierung zu verantworten. Wenn der Staat die Arbeitnehmer immer mehr belastet, ist es eine
logische Folge, daß diese sich einen Teil bei Tarifverhandlungen zurückholen wollen. Wir brauchen deshalb einen Pakt der Vernunft: Die Bundesregierung verzichtet auf die dreiprozentige Mehrwertsteuererhöhung,
dafür sagen die Gewerkschaften eine moderate Lohnpolitik zu.
Frage: Seit 1991 sind die Gewinn- und Vermögenseinkommen in Deutschland um fast sechzig Prozent gestiegen. Vielleicht sollten sich die Gewinner einfach stärker an der Sanierung des Landes beteiligen, auch finanziell.
WESTERWELLE: Die oberen zwanzig Prozent der Steuerzahler finanzieren momentan etwa siebzig Prozent des gesamten Steueraufkommens. Wir brauchen niedrigere Steuern und ein einfacheres Steuersystem. Das ist die Mutter aller Reformen. Österreich etwa hat ein einfaches Steuersystem mit niedrigen Sätzen beschlossen. Dort sind die Staatsfinanzen
heute besser als zuvor.
Frage: Uns geht es um die Verteilung der Lasten. Ihre Finanzpolitik nützt denen nicht, die kaum etwas verdienen.
WESTERWELLE: Unsere Politik schafft Wohlstand für alle durch neue Arbeitsplätze und weniger Armut. Das geht nicht, indem man nur die soziale Gerechtigkeit diskutiert und die Leistungsgerechtigkeit völlig außer Acht läßt.
Frage: Glauben Sie wirklich, das spricht auch die Verlierer des Strukturwandels an?
WESTERWELLE: Bei der Bundestagswahl hat die FDP bei den Arbeitslosen rund acht Prozent der Stimmen bekommen. Und zwei Drittel unserer berufstätigen Wählerschaft waren Arbeiter und Angestellte.
Frage: Bei der Föderalismusreform wird darüber gestritten, ob Bund oder Länder künftig für die Bildung zuständig sein sollen. Würde der Wettbewerb der Länder nicht einseitig dem reichen Süden nützen?
WESTERWELLE: Jedenfalls wäre die Zuständigkeit des Bundes bestimmt keine Garantie für Qualität. Allerdings darf der Wettbewerb zwischen den Ländern nur das Mittel zum Zweck sein, um einen Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen selbst zu schaffen.
Frage: Die Reform ist also richtig?
WESTERWELLE: Ja, mit einer Einschränkung. Viele Bürger fürchten, daß es bei Umzügen in Zukunft Schwierigkeiten für Schulkinder geben könnte, wenn die Lehrpläne der Länder zu unterschiedlich sind. Die Vertreter der Länder müssen also Vorschläge machen, wie wir auch nach einer Reform der steigenden Mobilität der Bürger gerecht werden
können.
Frage: Kommen wir noch einmal zur Union. Angela Merkel ist Ihre Duz-Freundin, Sie haben mit ihr oft über den Reformbedarf in Deutschland geredet. Hat die Kanzlerin ihre alten Überzeugungen abgelegt?
WESTERWELLE: Ich kann die Metamorphose von Maggie Thatcher zu Frau Holle nur dadurch erklären, daß die Kanzlerin eingemauert ist von Sozialdemokraten mit rotem und schwarzem Parteibuch. Die Tatsache, daß der neue Star der Union Horst Seehofer ist und nicht Friedrich Merz, sagt eigentlich alles.
Frage: Sie glauben nicht, daß die Merkel aus dem Wahlkampf wiederkommt?
WESTERWELLE: Ich bin gespannt. Momentan lese ich überall, daß die Regierung nach den Landtagswahlen eine zweite Reformwelle starten will. Offenbar ist mir da etwas entgangen: Ich warte immer noch auf die erste.