WESTERWELLE-Interview für "Die Welt"
Der FDP-Bundesvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab der "Welt" (Dienstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten ROGER KÖPPEL und JOACHIM PETER:
Frage: Herr Westerwelle, wie stark ist CDU-Kanzlerin Angela Merkel?
WESTERWELLE: Ich hoffe, sie wird eine stärkere Stellung haben als Kurt Georg Kiesinger in der Großen Koalition zwischen 1966 und 1969. Diese Koalition wird heute ja verklärt. Tatsache ist, daß sie einen sehr schwachen Kanzler hatte, der eingemauert war von Ministern, die etwas ganz anderes im Schilde führten. Mit den Ergebnissen dieser Koalition haben wir noch heute zu kämpfen: Das, was wir heute mit der Föderalismuskommission in weiten Teilen korrigieren müssen, geht auf diese Zeit zurück.
Frage: Wird Merkel unterschätzt? Was treibt die Männerriege aus der Union?
WESTERWELLE: Ich schätze Angela Merkel als sehr durchsetzungsstark ein. Trotzdem wird sie ganz sicher nicht jedes Wunder bewirken können. Daß der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber und einige Sozialdemokraten bereits in der Nacht nach ihrer Nominierung als Kanzlerin die durch das Grundgesetz gegebene Richtlinienkompetenz in Frage stellten, spricht doch Bände. Jetzt erzwingt Edmund Stoiber einen Ministerposten für Horst Seehofer, also für einen der schärfsten und lautesten Kritiker der marktwirtschaftlichen Erneuerung. Herr Seehofer ist ein Sozialdemokrat mit schwarzem Parteibuch. Man will Frau Merkel einmauern. Bis heute haben sich einige Männer in der Union noch nicht damit abgefunden, daß eine Frau an ihnen vorbeizieht. Da ist auch sehr viel Chauvinismus im Spiel.
Frage: Mit andern Worten: Sie sehen düstere Zeiten aufziehen.
WESTERWELLE: Frau Merkel hat jetzt mit zwei Parteien in der Koalition zu kämpfen: mit der CSU, die ihr schon mit der Bemerkung "die Protestantin aus dem Osten" und der Beschimpfung der Ostdeutschen schadete, und auch mit der SPD, in der Einige insgeheim darauf hoffen, daß eine linke Mehrheit doch noch zustande kommt.
Frage: Erleben wir eine Sozialdemokratisierung Deutschlands, eine Sozialdemokratisierung des Unionslagers?
WESTERWELLE: Korrekt. Wenn die Union am Ende von Koalitionsgesprächen gesagt hätte: Wir haben diese und jene Kröte für das Zustandekommen der Großen Koalition schlucken müssen - dann hätte man ein gewisses Verständnis dafür aufbringen können. Solche Verhandlungen sind schließlich nicht leicht zu führen. Die Union hat jedoch schon vor Beginn der Koalitionsverhandlungen akzeptiert, daß sie einen hohen inhaltlichen Preis dafür zahlen muß, um die SPD überhaupt an den Verhandlungstisch zu bekommen. Ein schwerwiegender Fehler! Die Union hat nun bereits wesentliche Bestandteile eines Politikwechsels aufgegeben. Es wird nämlich keine echte Steuerreform mit einer Entlastung der Bürger geben, keine betrieblichen Bündnisse für Arbeit und keine grundlegenden Veränderungen im Gesundheitssystem.
Frage: Trauern Sie der Jamaika-Variante nach? Wie ernst nahmen sie diese Möglichkeit wirklich?
WESTERWELLE: Ein Bündnis von Union, FDP und Grünen wäre allen Beteiligen unglaublich schwer gefallen, weil die Unterschiede zwischen den Parteien riesig sind. Es wäre aber trotzdem Wert gewesen, die schwarze Ampel als ernsthafte Alternative zu einer Großen Koalition weiter zu sondieren. Gescheitert ist das an den Grünen, aber noch mehr an der CSU.
Frage: Ihre frühzeitige Entscheidung, die Bundestagsfraktion künftig anzuführen, wurde als Entgegenkommen an die Grünen interpretiert.
WESTERWELLE: Ich bin für einige Grüne ganz sicher so etwas wie ein Klassenfeind. Da ich mich aber frühzeitig auf eine parlamentarische Arbeit festgelegt habe, konnte meine Person in der Tat kein Hinderungsgrund für eine Zusammenarbeit sein.
Frage: Jetzt werden Sie die Oppositionsrolle spielen. Glücklich?
WESTERWELLE: Als Parteivorsitzender freue ich mich sehr über eines der besten Ergebnisse in der Geschichte der FDP. Wir Liberale sind jetzt im Gegensatz zu den Grünen in einer politisch sehr komfortablen Rolle und können Einfluß auf das Handeln der Bundesregierung ausüben. Wir sind in elf Landesparlamenten und fünf Landesregierungen sowie im Europaparlament vertreten und nun auch stärkste Oppositionskraft im neuen Bundestag, der sich heute konstituiert. Wir werden auf jede Regierungserklärung als erste Partei antworten. Als Staatsbürger sehe ich die Vertagung des Politikwechsels hingegen kritisch. Ich bin aber optimistisch, daß die Große Koalition nicht sehr lange hält. Das wird eine schwarz-rote Übergangsregierung.
Frage: In den Medien und unter Meinungseliten gab es viel Zustimmung für Schwarz-Gelb. Warum haben die marktwirtschaftlichen Postulate in breiteren Kreisen nicht verfangen?
WESTERWELLE: Diese These bestreite ich. Rot-Grün ist abgewählt. Und die Union hat bei der Wahl aufgrund ihrer Unklarheit und wegen ihres mangelnden Mutes Stimmen verloren und nicht etwa, weil sie sich klar marktwirtschaftlich orientiert hätte. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vorzuschlagen war eben nicht mutig. Mutig wäre es gewesen, die Strukturen des Haushalts und der sozialen Sicherungssysteme so zu verändern, daß es keiner weiteren Abkassiererei der Bürger bedarf. Weil die Union also den Weg der Sozialdemokratisierung weiter geht, halte ich unser großartiges Ergebnis von rund zehn Prozent sogar noch für ausbaufähig.
Frage: Sie werden das Ergebnis doch nicht zu einem glühenden Reformbekenntnis der Leute umdeuten wollen?
WESTERWELLE: Mag ja sein, daß der Wunsch auch etwas Vater des Gedankens ist. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt: Eine wachsende Zahl von Menschen in diesem Land ist für eine marktwirtschaftlich orientierte Reformpolitik.
Frage: Gegen das Koalitionskartell werden Sie eine mitleidlose Oppositionspolitik betreiben müssen. Was ist Ihre Strategie?
WESTERWELLE: Wir wollen die Große Koalition, die träge und für den Bürger teuer ist, kontrollieren und antreiben. Eine große Koalition hat drei Viertel des gesamten Staatsapparates unter der Kontrolle. Da sind wir diejenigen, die von der bürgerlichen Seite dagegen halten - nicht mit Linkspopulismen. Seit langem vertrete ich die Auffassung, daß man in Deutschland die Schwachen nicht nur vor den Starken schützen muß, sondern auch vor den Faulen. Wir als FDP trauen uns, dies öffentlich auszusprechen. Wir werden aber keine Fundamentalopposition im Bundestag sein, sondern uns konstruktiv verhalten, wenn es um die Erneuerung des Landes geht. Die Opposition ist für uns eine große Chance und gerade in Zeiten einer Großen Koalition besonders wichtig.
Frage: Haben Sie Frau Merkel schon mitgeteilt, daß jetzt die Schonzeit abläuft?
WESTERWELLE: Privat, beim Wein oder Kaffee, bleibt die CDU-Vorsitzende für mich natürlich Angela Merkel. Im Bundestag wird sie jedoch Kanzlerin einer Großen Koalition - und ich Vorsitzender der stärksten Oppositionspartei. Da gibt es keinen Rabatt. Sagen wir es so: Schnaps ist Schnaps, und Dienst ist Dienst.
Frage: Unterstützen Sie die Überlegung des künftigen Finanzministers Peer Steinbrück, Autobahnen zu privatisieren?
WESTERWELLE: Es gibt ja schon einige privatisierte Strecken in Deutschland. Ich bin der Meinung, daß man diesen Weg weiter gehen sollte, wenn es der Verbesserung der Verkehrswege nutzt und den Staatshaushalt entlastet.
Frage: Ein für Liberale besonders heikles Thema ist die aktive Sterbehilfe. Sind Sie dafür oder dagegen? Endet die Autonomie des Einzelnen an der Entscheidung über seinen Tod?
WESTERWELLE: Ich bin froh darüber, daß diese äußerst schwierige Diskussion geführt wird. Für eine Entscheidung in dieser Frage ist es aber noch zu früh. Nicht einmal die Ethik-Kommission des Bundestages hat ihre Arbeit dazu abgeschlossen. Wenn es in dieser Legislatur dazu eine gesetzgeberische Tätigkeit geben sollte, dann rate ich dazu, daß dies ohne Fraktionsdisziplin geschieht. Wir haben es hier mit einer klassischen Gewissensentscheidung zu tun.
Frage: Wie sehen Sie es persönlich?
WESTERWELLE: (überlegt länger) Käme ich in eine solche aussichtslose, quälende Situation, würde ich mir mit dem Bewußtsein von heute wahrscheinlich wünschen, daß sich meiner jemand erbarmt. Ich will selbst aber noch einige Zeit über diese grundsätzliche Frage nachdenken und meine Haltung prüfen.
Frage: Wo liegen für Sie die Grenzen vorgeburtlicher medizinischer Eingriffe? Würden Sie einem Embryo, wenn es möglich wäre, bestimmte Gene zur Förderung bestimmter Eigenschaften injizieren?
WESTERWELLE: Die Haltung unserer Partei ist bekannt. Wir stehen den neuen medizinischen Möglichkeiten der Bio- und Gentechnik grundsätzlich positiv gegenüber. Was die Bekämpfung von Krankheiten angeht, sollten wir die Chancen nicht ungenutzt lassen. Was darüber hinausgehen könnte, in vielleicht gar nicht so ferner Zukunft, darüber wird noch intensiv zu diskutieren sein.
Frage: Sie haben in den letzten Jahren viel Kritik hinnehmen müssen. Man hat Sie unter der Gürtellinie angefeindet. Können Sie überhaupt noch jemandem vertrauen?
WESTERWELLE: Grundsätzlich ja. Ich bin ein offener und meistens auch freundlicher Mensch. Ich vertraue so lange Menschen, bis sie mir gezeigt haben, daß ich ihnen mißtrauen sollte.
Frage: Haben Sie auf Grund Ihrer sexuellen Orientierung härter und provokativer Politik
betrieben, um nicht den Eindruck zu erwecken, Sie seien zu weich für dieses Geschäft?
WESTERWELLE: Ich muß denen, die mit meinem Privatleben nicht zurecht kommen, nichts beweisen - und werde ihnen auch nichts beweisen. Die gab es immer und wird es immer geben. Manche müssen einfach ihr geringes Selbstwertgefühl kompensieren.
Frage: Man sagt Ihnen nach, Sie seien in den letzten Jahren mißtrauischer und empfindlicher geworden.
WESTERWELLE: Natürlich hat sich einiges verändert. Durch gewisse Erfahrungen wird man klüger und auch mißtrauischer. In den vergangenen Jahren habe ich einiges wegstecken müssen. Ich will nicht verschweigen, daß das Wahlergebnis der FDP bei der Bundestagswahl eine gewisse innere Genugtuung gegenüber manchem Kritiker und Gegner brachte.