31.07.2005FDP

WESTERWELLE-Interview für den "Deutschlandfunk"

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab dem "Deutschlandfunk" das heute gesendete folgende Interview. Die Fragen stellte MARTIN STEINHAGE:

Frage: Die FDP hat am vergangenen Montag ihr Wahlprogramm vorgestellt. Es steht unter dem Motto "Arbeit hat Vorfahrt". Herr WESTERWELLE, auf den Punkt gebracht: Wie wollen die Liberalen mehr Arbeitsplätze schaffen?

WESTERWELLE: Durch mehr Marktwirtschaft. Wir haben viel zu viel bürokratische Staatswirtschaft. Das ist die Ursache der Misere in Deutschland. Wir müssen dazu übergehen, daß das Erwirtschaften wieder wichtiger wird als die ganzen Verteilungsdiskussionen. Und deswegen wollen wir ja Steuersenkungspolitik, damit eben in Deutschland investiert wird, damit hier die Kaufkraft wieder zunimmt, und damit hier und nicht im Ausland Arbeitsplätze entstehen.

Frage: Gehen wir mal ein bißchen ins Detail. Um mehr Menschen in Lohn und Brot zu bringen, will die FDP beispielsweise den Kündigungsschutz lockern, den Einfluß der Tarifparteien beschneiden, die paritätische Mitbestimmung wie die Möglichkeiten zur Gründung von Betriebsräten einschränken. Warum ist aus Ihrer Sicht dieser Rundumschlag nötig?

WESTERWELLE: Weil wir mittlerweile in einem Zustand in Deutschland sind, der nicht mit ein paar kleinen Reparaturen im bestehenden System bewältigt werden kann, sondern wir müssen jetzt einen Neuanfang in Deutschland wagen. Und wir müssen das tun, was unsere europäischen Nachbarländer getan haben. Wir haben 25 Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union. Die 24 anderen Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union haben ein größeres Wirtschaftswachstum als wir in Deutschland. Es muß also etwas mit uns selbst zu tun haben, wenn alle anderen wachsen, mehr wachsen, schneller wachsen und zum Teil die Hälfte der Arbeitslosigkeit haben wie die Deutschen. Also werden wir diese Rezepte, die im Ausland, die in den Nachbarländern erfolgreich gewesen sind, auch in Deutschland nicht verweigern können.

Frage: Ein deutsches Spezifikum ist die Bundesagentur für Arbeit. Die FDP möchte diese Agentur auflösen oder zerschlagen - wie man es immer nennen will. Warum, und was soll an deren Stelle treten?

WESTERWELLE: Wir sind der Überzeugung, daß diese Mammut-Behörde, so wie sie ist, nicht funktionieren kann. Die Bundesagentur für Arbeit ist eine Behörde mit etwas mehr als 90.000 Beschäftigten. Und davon sind gerade einmal etwas mehr als 10 Prozent überhaupt noch mit der Vermittlung von Arbeitsplätzen beschäftigt. Pro Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit werden pro Monat eineinhalb Arbeitsplätze vermittelt. Das heißt, das ist ein Verhältnis, was dringlich verändert werden muß, und es belegt auch die mangelnde Effizienz dieser Behörde. Ich warne auch den Präsidenten der Bundesagentur für Arbeit, eine Grundlage für eine künftige Zusammenarbeit unmöglich zu machen, wenn er sich zum Wahlkampf äußert und sich in den Wahlkampf hinein begibt.

Frage: Wenn ich das ergänzen darf: Er hat gesagt, was die FDP vorschlage, sei nicht seriös.

WESTERWELLE: Der Präsident der Bundesagentur für Arbeit muß wissen, daß er ein öffentlicher staatlicher Bediensteter ist. Und wir werden nicht hinnehmen, daß er sich in den Wahlkampf zwischen den Parteien einmischt. Wir sind der Überzeugung, daß die Parteien ihre Konzepte vorstellen müssen. Wir sind der Überzeugung als FDP, daß die Arbeitsvermittlung künftig stärker von den Kommunen, also vor Ort, übernommen und entschieden werden sollte, und auf Bundesebene nur noch da, was tatsächlich nationalweit auch bewältigt werden muß. Und wenn der Präsident der Bundesagentur für Arbeit sich zu einem parteipolitischen Instrument hergibt, muß er wissen, daß es nach einer Bundestagswahl, wenn wir Regierungsverantwortung tragen, keine Basis für eine Zusammenarbeit geben kann, denn er ist ein öffentlich Bediensteter, er wird aus Steuergeldern, aus Beitragsmitteln bezahlt von allen, und zwar von denen, die ihm politisch nahestehen, aber auch von denen, die ihn in seiner Arbeit nicht gut finden.

Frage: Herr WESTERWELLE, im Bereich der Sozialpolitik wirbt die FDP für die Einführung eines Bürgergeldes. Können Sie auf den Punkt bringen, was sich dahinter verbirgt?

WESTERWELLE: Dahinter verbirgt sich, daß wir in Deutschland eine Vielzahl von Ämtern haben mit 150 verschiedensten sozialen Hilfeleistungsarten. Und wir wollen diese ganzen Unterstützungsleistungen konzentrieren auf eine Hilfeleistungsform, weil wir lauter Effizienzverluste haben. Es geht ganz viel in die Bürokratie, was hier die Steuerzahler aufbringen, aber es verliert sich eben auch dort zu viel in einem verkrusteten und unüberschaubaren System. Eine Hilfeleistungsart künftig für diejenigen, die bedürftig sind, das ist das Bürgergeld. Und diejenigen, die dann Arbeit angeboten bekommen, sie aber verweigern, obwohl es ihnen zumutbar wäre, werden auch dann eine Kürzung ihres Bürgergeldes hinnehmen müssen. Diejenigen hingegen, die beginnen, eine neue Beschäftigung - vielleicht auch nur im geringfügigen Bereich auf einige Stunden hin - anzunehmen, müssen belohnt werden, indem sie mehr von dem, was sie verdienen, behalten dürfen.

Frage: Kritiker sagen, wenn sozusagen alle Transferleistungen nur noch über das Steuersystem abgewickelt werden, dann ist das Sozialpolitik nach Kassenlage. In Zeiten leerer Kassen ist dann die Konsequenz weiterer Sozialabbau. Wie stehen Sie dazu?

WESTERWELLE: Die FDP macht die sozialste Politik von allen Parteien, denn wir sind diejenigen, die dafür sorgen, daß Deutschland überhaupt wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt. Und das ist die Voraussetzung für einen starken Sozialstaat. Diejenigen, die sich im Augenblick als Verteidiger des Sozialstaates aufspielen, sind die Totengräber des Sozialstaates: Die Linkspartei - ist ja in Wahrheit die PDS -, die Grünen, die SPD. SPD und Grüne und auch die PDS - da, wo sie regiert haben, haben sie gezeigt, daß sie nichts von Wirtschaft und Wirtschaftswachstum verstehen. Und das hat die Armut in Deutschland sich ausbreiten lassen. Und wer die Armut bekämpfen will, wer den Schwächsten und Schwachen helfen möchte, der muß eine wirtschaftsfreundliche Politik machen, weil man nur verteilen kann, was vorher erwirtschaftet wurde. Also, ich möchte diesen angeblichen Widerspruch - wirtschaftsfreundlich, arbeitnehmerfreundlich - endlich entlarven. Es ist nämlich kein Widerspruch, sondern das eine bedingt das andere. Es gibt keine arbeitnehmerfreundlichere Politik als dafür zu sorgen, daß jemand einen Arbeitsplatz findet, wenn er ihn sucht und sein Glück auch ganz persönlich machen kann.

Frage: Eine große Rolle in der Diskussion, jetzt eben auch im Wahlkampf, spielt auch das Stichwort "Reform der sozialen Sicherungssysteme". Auch dort sind die Vorschläge der FDP weitreichender, ja - wenn man so will - radikaler als bei anderen Parteien, als die Ihrer Konkurrenten. Nehmen wir das Beispiel Gesundheitswesen. Da setzt die FDP auf Privatisierung der gesetzlichen Krankenkassen. Was erwarten Sie sich von einem solchen Systemwechsel?

WESTERWELLE: Derzeit haben wir Zwangskassen, das heißt, monopolartige Kassenstrukturen, und die riesige Mehrheit unserer Bürger kann ja in Wahrheit gar nicht richtig auswählen. Die sind verpflichtet, in ein marodes System einzuzahlen, bei dem jeder spürt, daß für ihn persönlich immer weniger an Sicherheit und Gesundheitsvorsorge herauskommt. Und dementsprechend sind wir der Überzeugung, daß die Bürgerinnen und Bürger mehr Wahlfreiheit brauchen. Wir wollen, daß aus monopolartigen Kassenstrukturen endlich eine freie Versicherungslandschaft wird, wo der einzelne Bürger nach eigenen Überlegungen auch die Tarife auswählen kann. Dann wird er sich vielleicht für einen Selbstbehalt entscheiden, er wird vielleicht auch andere Modelle finden. Das ist aber dann zwischen ihm und der jeweiligen Versicherung auszuhandeln - so, wie wir das ja auch jetzt schon von den Privatversicherungen kennen. Warum wollen denn alle privat versichert werden? Weil sie genau merken, daß da ihre Gelder derzeit effizienter angelegt sind als in diesen monopolartigen Kassenstrukturen. - Wo immer es Monopole in Deutschland gibt, ob bei den Zwangskrankenkassen oder bei dieser überholten Bundesagentur für Arbeit, geht die Effizienz auf Kosten der Steuerzahler und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verloren. Und deswegen wollen wir nicht diese großen kollektiven Systeme, sondern wir wollen mehr Wahlfreiheit, mehr Selbstbestimmung der einzelnen Bürger.

Frage: Kritiker dieses Modells sagen, das sei das Ende des Sozialstaats-Prinzips, wo die Starken für die Schwachen eintreten. Man könne das Gesundheitswesen nicht organisieren wie eine - sagen wir mal - Kfz-Versicherung oder eine Hausratversicherung. Was sagen Sie dazu?

WESTERWELLE: Das ist die Propaganda von denen, die in Wahrheit soziale Marktwirtschaft mit Umverteilung und ungeplanter Planwirtschaft verwechseln. Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen: So, wie es jetzt ist, wird es nicht auf Dauer mehr funktionieren. Keiner, der uns jetzt zuhört, glaubt doch ernsthaft, daß wir bei der Rente, bei der Pflege oder bei der Gesundheit so weitermachen können wie bisher. Jeder weiß, daß bei der Rente, bei der Pflege und bei der Gesundheit dringend Veränderungen notwendig sind. Und jedesmal, wenn jemand dann endlich mal einen Vorschlag macht, wie wir das getan haben, wie man auch zukunftsfeste soziale Sicherungssysteme bekommt, heißt es dann von den Verteidigern des Status quo, das sei unsozial, das gefährde den Sozialstaat. Unsozial - das sind diejenigen, die den Sozialstaat nicht verändern wollen, weil - die gefährden ihn. Die sehen, wie er zusammenbricht. Sozial sind diejenigen, die wie wir den Sozialstaat verändern wollen, aber eben, um soziale Sicherheit in Deutschland erhalten zu können. Und der Zusammenhang zwischen einem wirtschaftlich starken Deutschland und einem sozial gerechten Deutschland, der ist aus unserer Sicht zwingend.

Frage: Zwingend ist auch aus Sicht der FDP eine Änderung in der Steuerpolitik, ein grundlegender Wechsel. Da gibt es Vorschläge der FDP hin zu einem einfachen Stufenmodell. Herr WESTERWELLE, ganz kurz: Wie soll das konkret aussehen bei der Einkommens- beziehungsweise bei der Unternehmensbesteuerung?

WESTERWELLE: Konkret schlagen wir als FDP vor, daß wir ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem an die Stelle des bisherigen sehr komplizierten Steuersystems mit lauter Ausnahmen stellen. Das heißt, wir wollen, daß wir niedrigere Steuersätze haben, die dann aber auch tatsächlich von allen gezahlt werden müssen, anstatt hohe Steuersätze mit lauter Umgehungsmöglichkeiten und Ausnahmetatbeständen. Und dementsprechend schlagen wir Steuersätze vor - erst einmal natürlich die Steuerfreiheit für die Familien, für jeden Erwachsenen, aber in gleicher Höhe eben auch für jedes Kind. Insoweit ist es auch viel familienfreundlicher als das, was wir heute haben. Und dann 15, 25 und 35 Prozent für die jeweiligen Einkommensteile, die obendrauf kommen. Das ist dann für jeden auf einer DIN A 4-Seite auszufüllen als Steuererklärung. Und das ist auch der wichtigste Beitrag wieder dafür, daß die Menschen Mut fassen, daß auch ihnen persönlich wieder mehr übrig bleibt. Wir wollen, daß Steuersenkungen Investitionen nach Deutschland holen. Wir wollen, daß die Kaufkraft durch Steuersenkungspolitik zunimmt. Und wir haben konkret vorgerechnet, wie wir das bezahlen können. Unser Entlastungsvolumen liegt bei 17 bis 19 Milliarden Euro. Und das, was wir an Einsparungen vorgerechnet haben, liegt bei sogar 35 Milliarden Euro. Denn jeder, der Zeitung liest, weiß, daß der Staat sehr viel Geld hat, aber er gibt es für falsche Dinge aus: Bürokratie, Subventionen und auch die steuerlichen Ausnahmetatbestände.

Frage: Es ist wenig überraschend, daß der politische Gegner Ihr Steuermodell für nicht finanzierbar, für schlecht gerechnet hält. Aber, Herr WESTERWELLE, Kritik gibt es auch bei CDU und CSU. Beispielsweise: Der Unionspolitiker RÖTTGEN hat am Freitag der FDP vorgeworfen, sie betriebe Wählertäuschung, und Kanzlerkandidatin MERKEL meint, die Liberalen könnten nicht rechnen. Was antworten Sie Ihrem Koalitionspartner?

WESTERWELLE: Unser Steuerexperte HERMANN OTTO SOLMS hat die besten Noten von sämtlichen Wirtschaftsexperten, von allen Instituten, von Wirtschaftsweisen für das Konzept bekommen. Das sind die Kronzeugen, die wir für unsere Politik brauchen. Daß die Konkurrenz, auch der Partner in spe, eifersüchtig auf unser Konzept schaut, das mag so sein. Aber das wird uns von unserem Kurs der wirtschaftlichen Vernunft nicht abbringen. Wir setzen auf Steuersenkungen. Wir sind glasklar gegen diese Mehrwertsteuererhöhung. Alle Berichte, wir hätten irgend eine Kompromißbereitschaft signalisiert, treffen nicht zu, weil wir die Mehrwertsteuererhöhung verhindern wollen. So gehen wir in die Koalitionsverhandlungen hinein. Das wollen wir durchsetzen, denn wir wollen nicht, daß durch eine Mehrwertsteuererhöhung die Schwarzarbeit zunimmt, die Kaufkraft abnimmt und letzten Endes damit auch mehr Arbeitslosigkeit folgt.

Frage: Also ein klares Dementi? Die FDP hat die Mehrwertsteuererhöhung nicht geschluckt, zum jetzigen Zeitpunkt?

WESTERWELLE: Ich bin sogar optimistisch, daß es uns in Koalitionsverhandlungen gelingen wird, wenn uns die Wähler natürlich auch stark genug machen, nicht nur eine Mehrwertsteuererhöhung zu verhindern, sondern auch ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem durchzusetzen. Denn ich höre mehr und mehr hinter vorgehaltener Hand, auch aus den Reihen der Unionspolitiker, aus Abgeordnetenkreisen hier im Deutschen Bundestag, die uns bestärken, bei unserem Kurs der wirtschaftlichen Vernunft zu bleiben. Wenn Herr Kollege RÖTTGEN oder wenn Herr Kollege KOCH die FDP für ihren Steuersenkungskurs attackieren, so ist das doch nur ein Ablenkungsmanöver davon, daß sie selbst mittlerweile ihre Steuererhöhungspolitik für einen politischen und ökonomischen Fehler halten.

Frage: Austeilen können Sie auch, Herr WESTERWELLE, in Richtung Union. Sie haben der Union vorgeworfen, in deren Programm gäbe es doch noch viele Halbherzigkeiten und Trippelschritte. Wo gilt denn das Ihrer Meinung nach noch, außer in der Steuerpolitik?

WESTERWELLE: Ich habe zunächst einmal festzustellen, daß es sehr viel mehr Gemeinsamkeiten und Schnittmengen zwischen Union und FDP gibt als Unterschiede. Daß wir im Augenblick im Wahlkampf auch die Unterschiede herausarbeiten müssen, damit die Wähler wissen, welche Position sie in einer Koalition stärker machen können und stärker machen wollen, versteht sich von selbst. Ich bin beispielsweise der Überzeugung, daß wir sehr viel mehr auf neue Technologien setzen müssen. Die Gentechnologie, bei der die Christdemokraten auch aus Glaubensgründen, wie wir finden, nicht auf dem richtigen Weg sind, wollen wir in Koalitionsverhandlungen durchsetzen. Diese Gentechnologie wird das Entscheidende sein, nicht nur, um Arbeitsplätze zu schaffen, sondern um die besten Medikamente herstellen zu können, mit denen man dann Krankheiten auch bekämpfen kann. Also, wer will, daß wir in Deutschland die modernsten Medikamente herstellen, dadurch hier in Deutschland Produkte und Arbeitsplätze entstehen, anstatt daß wir diese Medikamente in fünf Jahren im Ausland teuer einkaufen, der sollte mit der FDP auch in Abgrenzung zur Union die Position des technologischen Fortschritts stärken.

Frage: Es gibt ja noch andere Themen, wo es munter zugehen könnte in etwaigen Koalitionsverhandlungen. Ich zähle mal kurz auf: Die FDP will anders als CDU und CSU die Wehrpflicht aussetzen. Die Union will im Gegensatz zu den Liberalen die Bundeswehr auch im Inneren zur Terrorabwehr anfordern. Den Liberalen wiederum gehen die Vorstellungen der C-Parteien in Fragen der inneren Sicherheit viel zu weit. Sehen Sie da Probleme am Horizont, oder sagen Sie, diese Themen, die kriegen wir auch noch hin?

WESTERWELLE: Alle Themen, die wir derzeit in der öffentlichen Diskussion haben, werden, wenn wir einen Wählerauftrag bekommen, zur Zufriedenheit beider Seiten gelöst werden können. Wenn die Wähler Schwarz-Gelb einen Regierungsauftrag geben, dann wird auch eine solche Regierung gebildet. Dann wird hart verhandelt, da wird auch mancher Unterschied im Programm aufeinander prallen, aber letzten Endes wird es eine Politik des echten wirtschaftlichen Neuanfangs werden. Es wird ein großer Wurf werden. Und das hängt natürlich einmal damit zusammen, daß wir als FDP davon überzeugt sind, auch die besseren Argumente zu haben. Aber ich glaube auch, daß die Umstände uns zwingen. Wir haben keine zweite Chance. Schwarz-Gelb darf nicht so scheitern, wie Rot-Grün in den letzten sieben Jahren gescheitert ist. Würde Schwarz-Gelb so scheitern, wie Rot-Grün gescheitert ist, weil quasi eine neue Regierung nicht den Mut hätte zum wirklichen Neuanfang, dann brächte das eine so große Instabilität unserer Parteienlandschaft und unseres politischen Systems nach sich, wie wir das im Augenblick noch gar nicht absehen können. Bis in die bürgerlichsten Mittelschichten haben die Menschen mittlerweile Angst vor Arbeitslosigkeit. Und diese Angst, die ist gefährlich, nicht nur für die Menschen, für die Familien, sondern für das Ganze. Und dementsprechend müssen wir mit einer Politik der wirtschaftlichen Erneuerung dafür sorgen, daß die Arbeitslosigkeit wirklich zurück geführt wird, daß wirklich wieder Wachstum nach Deutschland kommt. Und warum sollte uns das nicht gelingen, was zum Beispiel Österreich gelungen ist? Sind die Deutschen schlechter als die Österreicher? Wohl kaum. Wir leben unter der selben Sonne, sind Nachbarn. Und wenn die eine Arbeitslosigkeit hingekriegt haben von viereinhalb Prozent, sollte uns ein deutlicher Abbau der Arbeitslosigkeit, und zwar in den nächsten Jahren, auch gelingen.

Frage: Herr WESTERWELLE, wir sprechen hier ja nur unter Vorbehalt über eine Koalition von Union und FDP als Ergebnis der Wahlen vom 18. September. Vorbehalt natürlich deswegen, weil es ja nicht sicher ist, daß es für Schwarz-Gelb auch tatsächlich reichen wird am Wahltag. Wie groß ist denn - Hand aufs Herz - Ihre Sorge, daß dieses Bündnis am Ende gar nicht zustande kommt?

WESTERWELLE: Schwarz-Gelb hat sehr gute Chancen, aber mehr ist es noch nicht, denn die Wahl ist noch nicht entschieden. Und ich glaube, daß es unglaublich knapp werden wird. Viele schauen im Augenblick nur auf Rot-Grün, vergessen aber, daß die PDS Gewehr bei Fuß steht. Die PDS jetzt mit LAFONTAINE, die SPD und die Grünen, sie würden zusammen eine Regierung bilden, wenn die Wähler eine linke Mehrheit im Deutschen Bundestag wählen.

Frage: Glauben Sie das wirklich?

WESTERWELLE: Davon bin ich fest überzeugt. Nicht Herr SCHRÖDER, auch nicht Herr MÜNTEFERING, die werden dann in Ehren verabschiedet, und an deren Stelle kommt vielleicht Herr GABRIEL oder Frau NAHLES. Und wenn die dann die Macht winken sehen, werden sie zugreifen, und zwar mit dem Argument übrigens, daß die SPD ja schon mit der PDS zusammen arbeitet. Hier in der Hauptstadt Berlin arbeitet die SPD in einer Regierung mit der PDS bereits zusammen. Und die Grünen, die werden dann auch staatspolitische Gründe finden, warum sie sich dieser Verantwortung nicht entziehen können. Im Zweifelsfall werden sie sagen, JOSEPH FISCHER muß Außenminister bleiben. Und was schert es dann, wenn es einen Wählerauftrag der Linken gibt? Dann wird dieser auch tatsächlich umgesetzt werden. Also, diejenigen, die oft genug vielleicht ein wenig heimlich mit der großen Koalition liebäugeln, sollen sich nicht wundern, wenn sie plötzlich bei einer Linksfront im Deutschen Bundestag aufwachen. Die Alternative heißt Schwarz-Gelb oder linke Mehrheit im Deutschen Bundestag. Die Alternative heißt nicht große Koalition oder linke Mehrheit im Deutschen Bundestag. Denn wenn es eine linke Mehrheit im Deutschen Bundestag gibt, kommt die auch im Regierungsgeschäft zum Tragen.

Frage: Was macht Sie so sicher, daß Frau MERKEL dann vielleicht doch nicht sagt, ich gehe lieber mit der SPD zusammen, als eine sehr, sehr knappe Mehrheit mit der FDP zu haben? Oder vielleicht reicht es rein rechnerisch ja gar nicht für Schwarz-Gelb, sondern eben nur für eine große Koalition?

WESTERWELLE: Frau MERKEL, die CDU, Herr STOIBER, die CSU, meine Person für die FDP, wir haben gegenseitig eine Koalition angekündigt für den Fall, daß wir eine Mehrheit im Deutschen Bundestag bekommen, und wäre diese Mehrheit noch so knapp. Herr ADENAUER hat mit einer Stimme Mehrheit regiert. Und die besten Entscheidungen dieser Republik, von der Westintegration über die Einführung der sozialen Marktwirtschaft bis zur neuen Ostpolitik sind jeweils mit hauchdünnen Mehrheiten beschlossen worden und eben nicht durch große Koalitionen.

Frage: Können Sie unseren Hörerinnen und Hörern das Phänomen Linksbündnis aus Ihrer Sicht erklären - bei zwölf Prozent sollen die liegen aus dem Stand?

WESTERWELLE: Ich glaube nicht, daß es dann am Schluß das Wahlergebnis werden wird. Aber man muß fest davon ausgehen, daß die PDS jetzt mit Lafontaine den Sprung in den Bundestag schaffen wird. Das hängt auch damit zusammen, daß die SPD und die Grünen die eigenen Anhänger völlig enttäuscht haben. Sie haben sich für kein politisches Konzept entscheiden können. Und ich muß zur Kenntnis nehmen, daß hier Herr LAFONTAINE ja auf Dauer nicht das Ziel hat, die PDS anzuführen. Wer allen Ernstes glaubt, Herr LAFONTAINE wolle den Rest seines Lebens als Sprecher der PDS im Deutschen Bundestag verbringen, der hat, glaube ich, zu wenig Kenntnisse von ihm und seiner Persönlichkeitsstruktur. Der Mann will mittelfristig die SPD wieder übernehmen. Der will mittelfristig wieder an die Spitze der SPD kommen und dann seine Niederlage gegen Herrn SCHRÖDER völlig abarbeiten und aufarbeiten. Das ist das, was ihn treibt. Herrn LAFONTAINE treibt die Rache an SCHRÖDER. Und wenn er die Gelegenheit dazu bekommt, dann wird er auch die SPD-Spitze wieder übernehmen. Darauf arbeitet er hin und nicht aufs Arbeiten in der PDS-Fraktion.

Frage: Das Linksbündnis ist irgendwo bei zehn, elf, zwölf Prozent. Die FDP ist bei sieben, vielleicht auch bei acht Prozent zur Zeit. Und das ist sie im Grunde genommen auf Bundesebene schon seit Jahren. Auch bei der letzten Bundestagswahl waren es, glaube ich, 7,4 Prozent, wenn ich mich richtig entsinne. Für eine Partei wie die FDP, die politisch so ambitioniert ist, sind ja sieben Prozent herzlich wenig?

WESTERWELLE: Ja, die FDP liegt jetzt zwischen sieben und acht Prozent. Das ist ungefähr das, was wir bei der letzten Bundestagswahl bekommen haben. Damit sind wir nicht zufrieden, sondern wir sind natürlich ehrgeiziger. Aber es ist eine gute Ausgangslage, um auch dann, wenn der Wahlkampf richtig losgeht und auch der eine oder andere sich überlegt, mit der Zweitstimme die FDP zu wählen, weil er Schwarz-Gelb möchte, ich glaube, dann wird noch mal ein guter Zuschlag auch für die FDP möglich sein.

Frage: Und wenn es dann Schwarz-Gelb gibt, können Sie sich eine schwarz-gelbe Regierung ohne einen Außenminister aus den Reihen der FDP vorstellen?

WESTERWELLE: Ich bin der Überzeugung, daß wir über die Programme reden sollten, über den unterschiedlichen deutschen Weg und nicht über Posten und Positionen.

Frage: Auch wenn Sie möglicherweise mir darauf keine Antwort geben, ich frage es trotzdem: Würde GUIDO WESTERWELLE in eine schwarz-gelbe Regierung eintreten, oder würde er das nicht?

WESTERWELLE: Das werde ich entscheiden, wenn die Zeit da ist, wenn wir einen Regierungsauftrag haben, wenn er absehbar ist. Denn jetzt gilt es erst einmal, die unterschiedlichen Wege, die unterschiedlichen Programme mit den Bürgern zu diskutieren. Und es geht auch nicht darum, was aus mir wird oder aus Frau MERKEL, aus Herrn STOIBER, aus Herrn SCHRÖDER oder aus Herrn FISCHER. Sondern es geht darum: Was wird aus den Menschen, die Arbeit suchen? Was wird aus denen, die in Deutschland leben und arbeiten möchten? Was wird aus Deutschland und den Deutschen? Und nicht: Was wird aus SCHRÖDER, FISCHER, MERKEL, STOIBER, WESTERWELLE?

Frage: Trotzdem - Abschlußfrage - was wird denn aus GUIDO WESTERWELLE, wenn es nicht klappt? Die FDP ist ja robust im Umgang mit ihrem Parteivorsitzenden. Werden Sie von sich aus sagen: Kinder, das war's, sucht Euch einen anderen, oder glauben Sie, die Partei würde dann sagen: Bitte, lieber Guido, gehen Sie?

WESTERWELLE: Verlierer machen sich Gedanken darüber, was ist, wenn es schief geht. Gewinner machen sich Gedanken darüber: Wie packen wir es, daß es gut geht?

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