13.03.2003FDP

WESTERWELLE-Gastbeitrag: Draußen vor der Tür - die Türkei

Der FDP-Bundesvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE schrieb für die Tageszeitung "Die Welt" (heutige Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Die Türkei präsentiert sich auch unter der neuen Regierung als modernes, westlich ausgerichtetes und reformorientiertes Land. Die Türken setzen alles daran, mit Europäern und Amerikanern im engen Gespräch zu bleiben. Sie beobachten dabei irritiert und verängstigt, wie die gegenwärtigen weltpolitischen Verwerfungen die Nato und die EU schwächen. Sie drängen weiter realistisch, aber fest entschlossen nach Europa. Sie haben uns als Oppositionspolitiker aus Deutschland hochrangig, gastfreundlich und mit offenen Armen empfangen.

Das Interesse der Türkei an Deutschland ist enorm. Gerade deshalb ist es so bedauerlich, dass die Bundesregierung mehr über die Türkei redet als mit ihr. Bundeskanzler SCHRÖDER ist in seiner viereinhalbjährigen Amtszeit nicht einmal in Ankara gewesen.

Das Land steht im Umbruch: Die neue Regierungspartei muss dem eigenen, nach wie vor zu einflussreichen Militär und auch dem Ausland erst beweisen, dass sie das streng laizistisch ausgerichtete Land nicht islamisch umprägen will. Die neue Regierung kann erst in dieser Woche nach der Wahl des starken Mannes ERDOGAN zum Regierungschef ihre Arbeit richtig aufnehmen. Und das neu gewählte Parlament besteht zu 90 Prozent aus unerfahrenen Abgeordneten - viele von ihnen jung und sehr engagiert.

Dieser Umbruch trifft auf eine türkische Wirtschaft, die sich von der schweren Krise von 2001 erst zögerlich erholt hat und mehr denn je abhängig ist von günstigen weltwirtschaftlichen Bedingungen und von der Zusammenarbeit mit den im Lande bislang sehr erfolgreich tätigen amerikanischen, europäischen und vor allem deutschen Unternehmen.

En Krieg gegen den Irak birgt schwere wirtschaftliche Risiken. Hinzu kommt die Angst, dass ein solcher Krieg das Kurdenproblem neu anheizen würde. Ein Zerfall des Irak, mit Zugriff der nordirakischen Kurden auf die Ölfelder von Kirkuk und Mossul, könnte erneute Unruhe unter den circa 20 Prozent türkischen Kurden auslösen. Die Türkei könnte bei einem solchen Krieg besonders viel verlieren.

Andererseits haben die Türken hohes Interesse an den engen Beziehungen zu den USA, an den sechs Milliarden Dollar Direkthilfe, die die Amerikaner ihnen für den Kriegsfall
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versprochen haben, und an US-Handelserleichterungen vor allem für die Textilindustrie. Deshalb war die Verweigerung der Stationierung amerikanischer Truppen an der irakischen Grenze durch das türkische Parlament ein politisches Erdbeben, ein Souveränitätsbeweis, der die Regierung zwar in Probleme gestürzt hat, der aber von fast allen Türken auch mit Stolz betrachtet wird, auch wenn er möglicherweise schon nächste Woche korrigiert wird.

Von überragender Bedeutung ist und bleibt für die Türkei die Westbindung. Deshalb stößt die vor allem von der Bundesregierung zu verantwortende unzureichende Reaktion der Nato auf das Hilfeersuchen der Türken im Vorfeld eines möglichen Irak-Kriegs auf Verwunderung und Enttäuschung. Die Türken haben uns als Nato-Partner im Kalten Krieg stets treu zur Seite gestanden. Jetzt haben sie den Eindruck, wir ließen sie hängen. Der türkische Außenminister YASAR YAKIS erklärt zwar, er persönlich könne sich das vielleicht noch erklären, aber für die türkische Bevölkerung ginge es bei der Nato stets auch um Glaubwürdigkeit und Solidarität. In Sachen EU-Beitritt präsentieren sich die Türken vor Ort nüchterner und realistischer als hier zu Lande dargestellt. Ja, man erwartet eindeutige Signale, dass die Tür zur EU nicht endgültig verschlossen wird, denn nur so werde es gelingen, die Türkei weiter zu reformieren. Aber man versteht in Ankara auch, dass die EU erst selbst institutionell umgebaut werden muss, um über die jetzt beschlossenen Beitritte hinaus weitere verkraften zu können. Und man weiß auch, dass die Türkei selbst noch einen hohen Berg zu erklimmen hat. Das kostet Zeit - die Türken rechnen mit weit mehr als einem Jahrzehnt.

Hinzu kommt das Zypern-Problem. Wenn - wie es jetzt aussieht - die gemeinsame Aufnahme des türkischen und des griechischen Teils der Insel in die EU am Widerstand des Nordzypern-Führers DENKTASCH und des türkischen Militärs scheitern sollte, werden die griechischen Zyprer als EU-Mitglieder die Beitrittsambitionen der Türkei zu bremsen wissen.

Wer dieses große und großartige Land betrachtet, seine geringere Wirtschaftskraft und seine von sicherheitspolitischen Brennpunkten umgebene Lage erkennt, der muss aus Ehrlichkeit und Freundschaft gegenüber der Türkei bekennen: Die Tür zur EU ist nicht zu, aber auch noch lange nicht offen.

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