13.02.2015FDPEuropa

THEURER-Gastbeitrag: Diskurs um Europas Werte und Identität führen

Berlin. Das FDP-Präsidiumsmitglied MICHAEL THEURER schrieb für die „Frankfurter Rundschau“ (Freitag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Mehrfach ist Europa jüngst in seinen Grundfesten erschüttert worden: Die Ukraine-Krise brachte den Krieg zurück auf europäischen Boden. Im Jüdischen Museum von Brüssel ermordete ein Syrien-Rückkehrer vier Menschen. Und bei den Terroranschlägen von Paris wurden 17 Menschen massakriert. Es war dieses Attentat auf „Charlie Hebdo“, das Millionen Menschen auf die Straße trieb. Die allerwenigsten von ihnen hatten das Satire-Heft davor überhaupt gekannt.

Solidarität – klar. Mit den Opfern, den Hinterbliebenen. Mit Frankreich. Aber nicht nur. Die Menschen sind auf die Straße gegangen in stiller Trauer und zugleich mit einer lauten Botschaft: Wir verteidigen die Errungenschaften der freiheitlichen Demokratie und unsere Grundwerte.

„Je suis Charlie“: Europas Öffentlichkeit, oft herbeigesehnt – trist ist der Anlass, aber hier zeigt sie sich. Und straft all jene Lügen, die seit den gescheiterten EU-Verfassungsreferenden 2005, spätestens aber seit der Euro-Krise, jeden Versuch einer Debatte über eine europäische Identität und Staatlichkeit als abgehoben von den Menschen und fern ihrer Alltagssorgen diskreditiert haben. Jetzt zeigt sich, dass, wenn Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Meinungsfreiheit tangiert sind, engagierte EU-Bürger Widerstand leisten.

Politiker, Intellektuelle, Schriftsteller – wir alle sind in der Pflicht, diesen Diskurs fortzusetzen und auch unbequeme Themen aufzugreifen, um einen gesellschaftlichen Konsens herauszuarbeiten und politisches Handeln abzuleiten.

Für meinen Beitrag möchte ich den Begriff einer „europäischen Leitkultur“ verwenden, der auf den Islamologen Bassam Tibi zurückgeht und leider in der zu ideologisch geführten Diskussion missbraucht wurde. Was ist unsere europäische Identität? Welches sind unsere Ligaturen, um Ralf Dahrendorf zu zitieren, die tiefen, kulturellen Bindungen, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die von immer mehr Optionen geprägte heutige Welt der Postmoderne zu finden?

Es gilt, die Grundwerte unserer freiheitlichen Demokratie gegen Fanatismus, Fundamentalismus und Extremismus, ob religiös oder politisch, von rechts oder links, zu verteidigen. Der Terror hat uns die Verletzlichkeit unserer offenen Gesellschaft vor Augen geführt. Aus den schrecklichen Morden erwächst die Verpflichtung, diese Werte zu schützen. Im offenen Diskurs können wir uns über unseren Wertekompass einig werden. Und wir müssen klarmachen, dass der Islam als Religion mit diesem kompatibel ist. Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses gehört fest zur europäischen Identität. Nicht die Religion ist das Problem, sondern Fanatismus.

Nur so können wir verhindern, dass sich die Bürger immer mehr von „Brüssel“ entfremden und in die Hände von Populisten, Xenophoben und Extremisten fallen oder sich ganz von der Politik abwenden. Die Euro-Krise hat gezeigt: Europa ist auf die Akzeptanz seiner Bürger angewiesen.

Das interkulturelle, multiethnische Zusammenleben ist kein Selbstläufer, sondern ein Prozess, der der Mitwirkung mündiger Staatsbürger bedarf. Die offene Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass der Staat seine Bildungs- und Erziehungsaufgabe wahrnimmt. Viele Menschen zweifeln heute an der Problemlösungsfähigkeit unserer Demokratie. Die sinkenden Wahlbeteiligungen sind der beredte Beweis dafür. Andere erleben wir als wütende Demonstranten, die Angst vor Überfremdung und Identitätsverlust zum Ausdruck bringen. Und haben wir uns schon mal ernsthaft gefragt, was Tausende junge Europäer ohne Migrationshintergrund dazu bringt, als Konvertiten beim IS gegen alles zu kämpfen, was die freiheitliche, pluralistische, aufgeklärte Demokratie des Westens ausmacht? Wir sollten uns nicht in falscher Sicherheit wiegen. Sonst droht unserer Demokratie eine Systemkrise. Wenn die Demokraten zu Hause bleiben, kommt die Diktatur. Umso wichtiger ist es, dass die Menschen auf die Straße gehen.

Ist ein solcher Diskurs „zu abgehoben“, wie in den vergangenen Jahren allerorten geunkt wurde? Keinesfalls. Wann, wenn nicht jetzt, müssen wir uns zurückbesinnen auf die Geburtsstunde der Europäischen Union, als aus den Trümmern des Weltkrieges das Einigungswerk entstand, um Frieden und Freiheit zu sichern?

Europa muss aufhören, den Kopf einzuziehen. Ja, es wurden Fehler gemacht, die zur Staatsschuldenkrise geführt haben. Ja, Europa ist geplagt von Stagnation, Arbeitslosigkeit und Überalterung. Aber wir sind dabei, mit Reformen und Gesetzesnovellen in mühseligster Detailarbeit den Karren aus dem Dreck zu ziehen.

Und die Millionen „Charlies“ haben gezeigt, worauf Europa stolz sein kann: unseren gemeinsamen Wertekanon aus Menschen- und Bürgerrechten, Demokratie und Freiheit. Noch aber fehlt eine laute, optimistische und wegweisende Antwort der politischen Spitze. Dass François Hollande, Angela Merkel, Jean-Claude Juncker und andere untergehakt durch die Straßen von Paris zogen, war eine beeindruckende Geste. Sie reicht aber nicht.

Wir brauchen ein Ende der Leisetreterei. Europas Staatenlenker müssen das Momentum ergreifen und den Diskurs um Europas Werte und Identität auf oberster Ebene führen. Und wir Volksvertreter im Europaparlament und den nationalen Parlamenten sollten die Initiative ergreifen und einen Bürgerkonvent einberufen für eine europäische Verfassung.

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