30.12.2014FDPSicherheitspolitik

LINDNER-Interview: Putins Ziel ist es, die EU zu sprengen

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Welt“ (Dienstag-Ausgabe) und „Welt.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellte RICHARD HERZINGER:

Frage: Die Ukraine steht in einem entscheidenden Kampf für Demokratie und Freiheit. Müsste die FDP nicht alle ihre Kräfte mobilisieren, dieses urliberale Anliegen zu unterstützen?

LINDNER: Unsere Unterstützung gilt allen Menschen, auch denen in der Ukraine, die ihre Zukunft selbstbestimmt in die Hand nehmen und für ihr Land westliche Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft verwirklichen wollen. Als Liberale setzen wir uns ja in Deutschland dafür ein, dass Menschen nicht unter das Machtdiktat von wirtschaftlichen Eliten und der Bürokratie geraten. Auf die internationale Ebene übertragen bedeutet dies, nicht zuzulassen, dass die Souveränität von Völkern eingeschränkt wird. Niemand darf sich anmaßen, sie zum Spielball hegemonialer Interessen zu machen.

Frage: Wir haben es bei Putins Russland mit einer despotischen Macht zu tun, die den europäischen Freiheitsprozess insgesamt umkehren will. Müssten da Liberale nicht viel lauter Alarm rufen, die FDP sich nicht viel deutlicher positionieren?

LINDNER: Mit Alexander Graf Lambsdorff im Europäischen Parlament oder Markus Löning als Bundesvorstand und ehemaligem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung tun wir das. Für uns sind die Freiheit des Einzelnen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zentrale zivilisatorische Errungenschaften. Da unterscheiden wir uns doch sehr etwa von Linkspartei und AfD. Diese meinen, man müsse Putin Verständnis entgegenbringen, weil er Angst vor Einkreisung habe.

Wer so spricht, der wiederholt Argumente aus einer Zeit, in der es Vasallenstaaten in Europa gab. Putin hat gesagt, man müsste über Regeln der Weltpolitik verhandeln. Aber es gibt diese Regeln längst. Es sind die des Völkerrechts – und nur sie können auf Dauer Frieden und Wohlstand in Europa sichern.

Frage: Dennoch redeten Sie in jüngster Zeit hauptsächlich darüber, dass man wieder mit Russland ins Gespräch kommen müsse. Wie kommen Sie darauf, dass Putin daran Interesse hat? Er hat doch oft genug klargemacht, wie sehr er den Westen verachtet.

LINDNER: Wir halten die Kappung von Gesprächskanälen tatsächlich nicht für kluge Politik. Aber es muss eine klare Prioritätenfolge geben. Erstens: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft gehören untrennbar zusammen. Diesen Werten wünschen wir weltweite Verbreitung. Autoritäre Regime wollen wir nicht hinnehmen.

Deshalb stärken wir Bürgerrechtsbewegungen und Oppositionskräfte, auch in Russland. „Regime change“ kann kein Ziel eines Staates sein, wohl aber einer liberalen Partei. Zweitens geht es darum, die transatlantische Partnerschaft zu stärken, denn sie ist und bleibt vor allem eine Wertegemeinschaft. Ich wundere mich darüber, dass in Deutschland plumper Antiamerikanismus als chic gilt und nur zurückhaltend bis abschätzig über den Freihandel gesprochen wird …

Frage: Bleiben wir erst noch beim Verhältnis zu Russland. Sie sagten kürzlich in einem Interview: „Die Entspannungsdiplomatie Hans-Dietrich Genschers war historisch erfolgreicher als Säbelrassen.“ Verdrängen Sie da nicht, dass die Entspannung nur auf Grundlage massiver militärischer Abschreckung möglich war?

LINDNER: Militärische Abschreckung ist kein Säbelrasseln. Bei der Bundeswehr hieß es: „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen.“ Für mich ist die Lehre aus der Geschichte, dass die Wehrhaftigkeit in Bezug auf die eigenen Werte verbunden werden sollte mit dem Angebot der zivilen und wirtschaftlichen Kooperation – wenn die grundlegenden Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Das könnte Gegenstand des neuen Dialogformats nach dem Vorbild des KSZE-Prozesses sein. Es muss aber klar sein, dass Russland kein Rabatt gewährt wird, wenn es das Völkerrecht bricht. So lange bin ich dafür, die Sanktionen durchzuhalten.

Ich bestreite übrigens, dass es eine Einkreisungsstrategie gegenüber Russland gibt. In Wahrheit haben sich Völker in Osteuropa nach Jahrzehnten unter sowjetischem Diktat souverän dafür entschieden, sich nach Westen zu orientieren, weil sie offene Gesellschaften und Wohlstand wollen. Dass manche hierzulande das anders sehen, scheint mir eine Folge erfolgreicher Propaganda des Kreml. Da gibt es diesen Selbstekel, der sich in der Klage ausdrückt, man habe sich so vieler Versäumnisse gegenüber Russland schuldig gemacht. Versäumnisse mag es gegeben haben, aber die stehen doch in keinem Verhältnis zu der hybriden Kriegsführung Putins. Ihm geht es offensichtlich längst nicht mehr um die Interessen seines Volkes, sondern um die seiner Herrschaftsclique.

Frage: Das klingt freilich nicht so, als sei eine baldige Verständigung mit ihm realistisch.

LINDNER: Fortschritte werden sicher eher Jahre als Wochen benötigen. Es ist aber prinzipiell wünschenswert, ein anderes, wieder partnerschaftliches Verhältnis mit Russland zu haben. Wir haben gemeinsame wirtschaftliche Interessen, gemeinsame Sicherheitsinteressen in Europa und globale Herausforderungen, die nur oder doch zumindest besser mit Russland gelöst werden können.

Frage: Putins aggressives Gebaren rührt doch daher, dass er der Nato ihre Verteidigungsbereitschaft nicht abnimmt. Muss die westliche Antwort darauf nicht Stärkung und Aufrüstung des atlantischen Bündnisses sein?

LINDNER: Putin hat offensichtlich die Zielsetzung, die EU zu sprengen, weswegen er ja auch rechtspopulistische Kräfte in ganz Europa unterstützt. Und in der Tat traut er der Nato keine Verteidigungsbereitschaft mehr zu – was er auch mit seinen äußerst provokanten militärischen Manövern zeigt. Einen neuen kalten Krieg kann niemand wollen. Aber westliche Werte zu erhalten setzt Wehrhaftigkeit voraus. Appeasement zu betreiben bedeutet in der Konsequenz, diese Werte preiszugeben, ohne dass dadurch Stabilität zu gewinnen wäre.

Ich halte deshalb den Zeitpunkt für gegeben, neu über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu sprechen. Das wäre nicht nur ein effektiverer Umgang mit Steuergeldern, sondern vor allem ein starkes Signal an Putin, dass sich die Europäer nicht auseinanderdividieren lassen.

Frage: Darf die Ukraine in die Nato, wenn sie das wünscht?

LINDNER: Dazu müssen drei Prüffragen beantwortet werden: Will die Ukraine überhaupt in die Nato? Wollen alle Nato-Mitgliedsstaaten, dass sie aufgenommen wird? Und: Wäre die Mitgliedschaft der Ukraine ein Beitrag zu mehr oder weniger Stabilität in Europa? Bereits bei der ersten Frage habe ich Zweifel, denn man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung den Nato-Beitritt nicht wünscht.

Frage: Darüber will die neue ukrainische Regierung ja das Volk abstimmen lassen. Wenn wir uns aber aus Rücksicht auf Putin gegen einen möglichen Beitritt der Ukraine sträuben – akzeptieren wir damit nicht dessen Lesart, die Nato sei ein aggressives Bündnis?

LINDNER: Nein, wir sollten von niemandem in Zweifel ziehen lassen, dass die Nato eine Verteidigungsallianz ist, darauf angelegt, Konflikte zu deeskalieren. Aber schon bei der Nato-Osterweiterung in den 1990er-Jahren wurden die von mir genannten Prüffragen gestellt. Denn es hat keinen Sinn, ein Land in das Bündnis zu integrieren, das dies gar nicht einmütig will.

Frage: Wobei auch in Deutschland bei Weitem nicht alle für die Nato sind, trotzdem sind wir drin. Wenn die Ukrainer sich aber für den Beitritt aussprechen würden, wären Sie dann dafür?

LINDNER: Ich sehe nicht, dass alle drei Anforderungen derzeit erfüllbar wären. Auch die Entwicklung von Rechtsstaat und parlamentarischer Demokratie ist in der Ukraine, gelinde gesagt, noch nicht abgeschlossen.

Frage: Das Beitrittsprogramm, das auf die Nato-Vollmitgliedschaft hinführt, sieht allerdings die Entwicklung ebendieser Standards vor …

LINDNER: Es gibt auch einen Annäherungsprozess an die Europäische Union, der zivil angelegt ist, und den ich als Beitrag zur Stabilisierung der Ukraine nicht unterschätzen will.

Frage: Geschieht denn von westlicher Seite genug, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des Landes voranzubringen? Müsste mehr getan werden?

LINDNER: Für mich sind die Freizügigkeit und die Öffnung von Märkten von entscheidender Bedeutung. Eine engere Zusammenarbeit mit der Ukraine ist übrigens überhaupt nicht gegen Russland gerichtet. Im Gegenteil, es kann dasselbe haben, was wir der Ukraine anbieten. Wenn sich Russland wieder in das Kooperationsspiel zurückbegibt, kann auch die Idee eines Freihandelsabkommens aktualisiert werden, die Putin vor Jahren geäußert hat. Allerdings, bitte schön, eines von Vancouver bis Wladiwostok und nicht etwa nur von Lissabon bis Wladiwostok. Denn der erste Vorschlag Putins war ja offensichtlich gegen den transatlantischen Freihandel gerichtet. Ein solches Gegenmodell: Eurasische Union plus EU kontra Nordamerika – das kann man nicht unterstützen.

Frage: Es gibt allerdings bei uns eine wachsende antiamerikanische Stimmung, in der dieses Spaltungskonzept Putins durchaus auf offene Ohren stößt.

LINDNER: Auch ich verurteile die Tätigkeit der NSA in Deutschland und sehe eine enorme Dominanz von kommerziellen Datensammlern wie Google. Nichtsdestotrotz sind die USA unser traditioneller, unverzichtbarer Verbündeter. Der Unterschied zu autoritären Staaten ist, dass Fehlentwicklungen dort zivilgesellschaftlich diskutiert und rechtsstaatlich aufgeklärt werden. Bei allen Meinungsverschiedenheiten müssen wir die Beziehungen zu den USA wieder vertiefen. Das geplante Freihandelsabkommen TTIP verstehe ich als eine Bestärkung der transatlantischen Partnerschaft, die zugleich enorme wirtschaftliche Chancen bietet.

Frage: Wie erklären Sie sich denn das Ansteigen von Affekten gegen die USA bei gleichzeitig großer Sympathie für Putin?

LINDNER: Der Westen ist vor allem durch die Weltfinanzkrise in die Defensive geraten. Man vertraut nicht mehr auf die eigenen Kräfte, auf die Marktwirtschaft, auf die offene Gesellschaft, Individualität wird zunehmend negativ gesehen. Weil Putin diese Identitätskrise wahrnimmt, glaubt er womöglich selbst daran, dass hier ein „dekadenter Liberalismus“ herrsche. Und das glauben scheinbar auch seine hiesigen Fürsprecher wie Alexander Gauland von der AfD, dessen Verständnis für Putins autoritäres und homophobes Auftreten wohl daher rührt, dass er selbst dieses Unbehagen gegenüber Moderne und Weltoffenheit teilt.

Auf der anderen Seite sind da die linken Globalisierungsgegner, die ihre geschmäcklerische Ablehnung jeder wirtschaftlichen Freiheit ganz auf die USA projizieren – obwohl das viel brutalere Modell eines Staats- oder Oligarchenkapitalismus doch in China und Russland herrscht. Gegen diese Kräfte wünsche ich mir eine selbstbewusste, bürgerlich-freiheitliche Offensive für westliche Werte.

Frage: Kann es sein, dass die Freiheitsbotschaft von 1989/90 in Deutschland gar nicht richtig angekommen ist? In Polen zum Beispiel schätzt man westliche Werte doch in ganz anderer Weise …

LINDNER: Das Erbe der Friedlichen Revolution von 1989 wird hierzulande zu gering geschätzt. Damals haben die Menschen nach mehr Freiheit gerufen, heute hören wir vor allem Rufe nach mehr Gleichheit. Russland hat seinen legitimen Platz im Haus Europa. Aber ich sehe mit brennender Sorge, dass Putin Russland weg von Europa und in die Isolation führt. Die Einflussnahme Putins auf die Ukraine hat sicher nicht nur geostrategische Gründe. Er fürchtet wohl, dass die Öffnung der Ukraine für westliche Werte gelingt und ein Beispiel für ein besseres Leben setzt – was dazu führen könnte, dass der Rote Platz ein zweiter Maidan wird.

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