30.09.2018FDPMigration

LINDNER-Interview: Man muss sich an unsere Regeln halten

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „WELT am Sonntag“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Thorsten Jungholt, Martin Niewendick und Jacques Schuster.

Frage: Seit einem Jahr taumelt das Land von einer politischen Krise in die nächste. Was macht das Regieren so schwer in diesen Zeiten, Herr Lindner?

Lindner: Wir leben inmitten einer radikalen Zeitenwende, die radikal ambitionierte Politik bräuchte. Die politische Konstellation in den Parteien hat aber zu einer Selbstblockade geführt. Das müssen wir überwinden, denn niemals wäre es leichter, dass Deutschland sich neu erfindet. Die regelrechte Modernisierungsverweigerung führt nur dazu, dass die Ränder stark werden und sogar die gesamte politische Kultur gefährden.

Frage: Sehen Sie tatsächlich eine solche Bedrohung?

Lindner: Schauen Sie nach Polen. Polen ist ein europäischer Partner, der wirtschaftlich prosperiert und über eine selbstbewusste Zivilgesellschaft verfügt. Trotzdem wurde dort eine Regierung gewählt, die durch und durch autoritär ist. Die Konflikte in westlichen Gesellschaften sind oft weniger ökonomisch als kulturell.

Frage: Die Bundesrepublik ist eine ältere Demokratie als die polnische.

Lindner: Gerade deshalb halten zu viele Menschen unsere Lebensweise, unsere Liberalität und auch unseren Wohlstand für Selbstverständlichkeiten. Das sind aber keine Ressourcen, die man einfach unendlich verbrauchen kann. Es muss beständig in sie investiert werden.

Frage: Was schwebt Ihnen konkret vor?

Lindner: Mich empört, dass wir selbst im Jahr drei nach der Flüchtlingswelle kein weltoffenes, aber zugleich steuerndes Einwanderungsmanagement haben. Das entzündet Konflikte bis in Familien hinein. Und mich besorgt, dass auf die AfD nur mit der Denunziation ihrer Wähler reagiert wird, statt zu erkennen, dass es in ihrer Wählerschaft viele erreichbare Menschen gibt, die zwar nicht mit den Status quo zufrieden, aber die noch nicht radikalisiert sind.

Frage: Wenn Sie die Debatten heute mit denen vor einigen Jahren vergleichen, empfinden Sie dann auch, dass es immer unerbittlicher zugeht?

Lindner: Ja. Es wird von den autoritären, populistischen Parteien ein verrohter Jargon gepflegt, es werden bewusst verletzende Worte gewählt. Von der mangelnden Abgrenzung zum Extremismus ganz zu schweigen. Wettbewerb in der Demokratie darf keine Feindschaft mit Vernichtungswillen werden. Nur: Eine politische Kultur wird nicht nur von der Seite gefährdet, sondern auch durch die falsche Gegenhaltung.

Frage: Was meinen Sie?

Lindner: Wenn Martin Schulz die AfD auf den Misthaufen der Geschichte wünscht, wenn AfD-Abgeordnete hässlich genannt werden, wenn Cem Özdemir die AfD aus demselben Holz wie Erdogan geschnitzt sieht, dann mag das gut gemeint sein, aber man begibt sich auf deren Niveau herunter. Irgendwann wird so schrill von allen gebrüllt, dass man nichts mehr hört. Dann geht die Mitte verloren. Ich frage mich auch, warum in der sächsischen CDU über Koalitionen mit der AfD spekuliert wird. Damit lenkt man wieder nur Aufmerksamkeit auf diese Partei. Die Union würde ihre Seele verlieren, das Erbe von Adenauer und Kohl würde mutwillig zerstört. Die Union war immer eine proeuropäische, westlich orientierte Partei. Die AfD ist das Gegenteil davon. Die Kanzlerin hat ihre Fraktion nicht mehr im Griff. Die SPD-Vorsitzende wird vom Juso-Chef getrieben. Und der CSU-Vorsitzende ist von seiner Partei bereits aus Bayern vertrieben worden.

Frage: Kann sich die Koalition unter diesen Umständen konsolidieren?

Lindner: Nein, das wird nichts mehr. Die Gesamtkonstellation war schon nach der Bundestagswahl aus der Zeit gefallen. Die Menschen hatten sich für einen Politikwechsel ausgesprochen. Er ist aber mit den handelnden Akteuren nicht möglich. Wir hoffen auf eine echte Erneuerung. Die Ankündigung von Frau Merkel, wieder für den CDU-Vorsitz zu kandidieren, sehe ich nicht als Zukunftssignal. Es ist nur der Versuch, die eigene Position kurzfristig zu stabilisieren.

Frage: Also fordern Sie Neuwahlen?

Lindner: Die Forderung nach Neuwahlen nutzt sich ab. Die FDP hat aber keine Angst vor den Wählern und Wählerinnen.

Frage: Die sollten Sie aber haben. Wenn Sie auf die Umfragen schauen, dann wird die nächste Regierung aus einer Viererkoalition bestehen. Das ist doch nicht, was Sie sich wünschen können.

Lindner: Wenn diese Dreier- oder Viererkoalition gut regiert, wäre dagegen nichts zu sagen. Im Übrigen bin ich nicht so sicher, dass die gegenwärtige Stimmung, von der Sie sprechen, so bleiben muss. Wenn wir mit wirklichen Problemlösungen beginnen, dann kann die Stimmung umschlagen. Ein Beispiel: Die Union verzögert bewusst die Entscheidung des Bundestags, die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Dabei könnte man so Abschiebungen erleichtern. Die Grünen sollen aber in den laufenden Wahlkämpfen nicht in Verlegenheit gebracht werden. Da darf man sich nicht wundern, wenn die Menschen sich über alle etablierten Parteien ärgern. Diese Unzufriedenheit hat aber nichts mit Rassismus zu tun, sondern mehr mit Taktieren und Stillstand. Das akzeptieren die Menschen nicht mehr.

Frage: Die FDP scheint derzeit auch nicht zu überzeugen. Die anderen steigen in den Umfragen, die FDP liegt hinter ihrem Wahlergebnis zurück.

Lindner: Wir haben uns mit dem Jamaika-Abbruch für einen harten Weg entschieden. Ein knappes Jahr später bestätigt uns der Abnutzungskrieg zwischen Frau Merkel und Herrn Seehofer sowie der sich jetzt auch in der Unionsfraktion zeigende Wunsch nach Erneuerung. Vor dem Hintergrund haben wir eine gute Ausgangslage, vor allem aber einen geklärten Kompass. Wir sind die Partei der Mitte, und zwar auch im übertragenen Sinne in Form von vernünftiger Abwägung. Die AfD wirft uns vor: Wir seien für das Einerseits-andererseits. Ihr kann ich nur sagen: Ihr habt das Wesen der FDP verstanden. Wir sind einerseits für Klima und Umweltschutz, anderseits für Technologieoffenheit und Verhältnismäßigkeit zum Beispiel bei Dieselfahrverboten. Wir sind einerseits für klare Regeln und Ordnung, aber andererseits gegen Bürokratismus. Wir sind einerseits gegen die bedingungslose Willkommenskultur von Frau Merkel und den Grünen, aber andererseits gegen die Abschottung und Islamophobie der AfD.

Frage: Ist es nicht vielmehr so, dass es eine liberale Partei in einer durch und durch illiberalen Phase der Gesellschaft grundsätzlich schwer hat, sich zu behaupten? Die Stimmung derzeit ist nicht liberal.

Lindner: Das ist richtig. Wir leben in einer Zeit der äußeren und inneren autoritären Herausforderungen gegenüber den liberalen Werten an sich.

Frage: Aus welchem Grund sind autoritäre Parteien derzeit überall im Aufschwung?

Lindner: Einige Gründe habe ich bereits genannt. Es kommt hinzu, dass auch seriöse Politiker die Leute für dumm verkaufen wollen. Nehmen Sie etwa die Rede von Angela Merkel diese Woche beim Tag der Industrie. Da hat sie allen Ernstes gesagt, sie wolle den Soli möglichst bald komplett abschaffen, aber das sei leider mit der SPD nicht möglich. Dabei war es schon in den Jamaika-Verhandlungen immer die Union selbst, die die qualifizierten Facharbeiter und den Mittelstand von der Soli-Abschaffung ausnehmen wollte. Wenn die Kanzlerin das der SPD in die Schuhe schieben will, dann ist das eine Dreistigkeit. Da müssen sich die Bürger für dumm verkauft fühlen.

Frage: 1989 und in den folgenden Jahren haben wir eine liberale Revolution erlebt. Erleben wir heute die dazugehörige Konterrevolution?

Lindner: Die Menschen haben das Gefühl, dass der technologische Wandel, die entfesselte Gewalt der Kapitalmärkte und der kulturelle Wandel durch die Migration Entwicklungen sind, auf die sie individuell keinen Einfluss mehr nehmen können. Sie fühlen sich zu Objekten gemacht und glauben, dass von der Politik keine Steuerung mehr stattfindet. Dieses Gefühl der Ohnmacht verführt dazu, nach einem „starken Mann“ zu rufen. Deshalb muss sich auch der Liberalismus selbst prüfen und neue Antworten auf diese Entwicklungen geben.

Frage: Haben wir es nach 89 mit der Liberalisierung zu weit getrieben?

Lindner: Wenn man sich die Wohlstandsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte anschaut, muss man sagen: nein. Die ökonomische Abstiegsgeschichte oder, um mit Marx zu sprechen, die Pauperisierung der Massen, ist kein Indiz dafür. Es geht um das Gefühl der Steuerungslosigkeit. Das muss Liberale auf den Plan rufen. Die Gegner des Liberalismus warnen davor, dass wir bald alle schlecht bezahlte Amazon-Mitarbeiter sind, die das Geld für amerikanische Konzerne und wenige Milliardäre verdienen. Aber das ist nicht Liberalismus. Liberalismus ist der Glaube an den einzelnen Menschen als vernünftiges, verantwortungsbewusstes Wesen, das sein Leben selbstbestimmt führen kann und will.

Frage: Was ergibt sich daraus politisch?

Lindner: Erstens, die Ordnung der Märkte für Daten und Kapital. Dort müssen Regeln und Offenheit für den Wettbewerb herrschen, damit nicht wenige Mächtige das Spiel bestimmen. Es muss verhindert werden, dass an den Kapitalmärkten Staat und Banken aus politischem Versagen heraus zusammenwachsen, um Wohlfahrtspolitik auf Pump machen zu können. Zweitens: Wenn wir an den Einzelnen glauben, müssen wir ihn stark machen. Das bedeutet, in lebenslange Bildung zu investieren und soziale Sicherheit mit neuer Flexibilität zu verbinden. 90 Prozent der Bildungsausgaben eines Lebens werden in der ersten Lebensphase aufgewendet. Das muss ausgeglichen werden. Das wäre eine Riesenaufgabe für die Regierung. Bildungsstätten sollten dafür geöffnet werden, dass Menschen im Laufe des Lebens mehrfach zurückkehren. Wenn wir drittens das Individuum stärken und ihm vertrauen wollen, können wir es nicht durch Bürokratismus fesseln – ihm etwa Geld wegnehmen und es ihm als Taschengeld zurückgeben. Das macht die Leute schwach und klein.

Frage: Die Migration ist die sichtbarste Folge der Globalisierung. Für Liberale sind offene Grenzen und offene Gesellschaften ein Vorteil. Wie lässt sich das mit der Realität und der Angst der Einheimischen vor Flüchtlingswellen vereinbaren?

Lindner: Indem der Unterschied zwischen Bewegungsfreiheit und Grenzenlosigkeit betont wird. Völlige weltweite Niederlassungsfreiheit funktioniert nur ohne staatliche Ordnung und ohne ein System sozialer Sicherheit. Sobald man aber mit diesen zwei Punkten konfrontiert ist, muss es eine Kontrolle des Zugangs geben, sonst bricht das System zusammen. Im 19. Jahrhundert hatten wir die weltweite Freizügigkeit, weil es keinen Wohlfahrtsstaat gab. Heute haben wir einen Wohlfahrtsstaat in Europa, wie es ihn nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Deshalb ist die Wohlstandsentwicklung in Afrika so wichtig. Das reduziert den Migrationsdruck. Innerhalb Europas wollen wir Freiheit, aber von außen sind Grenzkontrolle und die Steuerung von Einwanderung unverzichtbar.

Frage: Auf welche Weise soll man die Einwanderung steuern?

Lindner: Es geht um zwei Dinge: das Asylrecht und die Einwanderung von Arbeitskräften. Wenn jemand individuell verfolgt oder als Angehöriger einer Gruppe bedroht ist, dann hat er Recht auf einen Aufenthalt solange die Bedrohung anhält. Bei Arbeitskräften gilt das Kriterium der Qualifikation. Ist er oder sie dazu qualifiziert, einen Beitrag zum Arbeitsmarkt zu leisten, etwa als Schweißerin oder als Altenpfleger, dann ist er willkommen.

Frage: Wolfgang Schäuble hat in der vergangenen Woche bei uns im Interview gesagt, man werde ein Großteil der abgelehnten Asylbewerber aus verschiedenen Gründen nicht abschieben können. Was antworten Sie?

Lindner: Das ist eine Kapitulationserklärung, die ich nicht teile.

Frage: Aber hat er nicht recht?

Lindner: Klar, unser deutsches Einwanderungsrecht und das Management der Integration funktionieren nicht. Aber man könnte das, was seit Jahrzehnten nicht funktioniert, reparieren. Man muss Realist sein, einfach ist es nicht. Aber zu sagen, wir müssen uns damit abfinden, ist falsch. Warum müssen wir uns überhaupt mit irgendeinem Mangel abfinden, der von uns selbst gemacht wurde?

Frage: Wie gehen wir mit Migranten um, die hier leben, weil sie einen Flüchtlingsstatus haben?

Lindner: Wir brauchen für diese Personengruppe einen anderen rechtlichen Status. Derzeit genießen sie subsidiären Schutz, wenn sie einen Asylantrag gestellt haben. Unser Vorschlag ist: Wir brauchen einen Rechtsstatus ohne Asylverfahren, einen vorübergehenden humanitären Schutz. Nach Identitätsfeststellung und Sicherheitsüberprüfung folgt damit sofort Förderung und Arbeitserlaubnis, damit die Leute arbeiten können. Wenn die alte Heimat wieder in Frieden lebt oder die Naturkatastrophe bewältigt ist, endet der Aufnahmetitel. Dann müssen die Leute gehen – es sei denn, sie bewerben sich um den sogenannten Spurwechsel in das Einwanderungsrecht. Den lehnt die Union ab. Ich hielte es aber für gut, wenn wir Kriterien für legale Einwanderung hätten, sodass jemand, der gut integriert ist, nicht ausreisen muss, wenn sein Flüchtlingsstatus endet – allerdings nur, wenn er bestimmte Kriterien erfüllt. Es ist doch verrückt, dass Leute, die gezeigt haben, dass sie uns hier helfen können, erst ausreisen sollen, um dann wieder einen Antrag auf Einreise stellen zu können.

Frage: Was ist, wenn jemand straffällig geworden ist?

Lindner: Wer straffällig geworden ist, muss von einem Spurwechsel ausgeschlossen sein. Also: Der Ladendieb hier, dem in der Heimat die Todesstrafe droht, wird ertragen. Alles andere wäre unverhältnismäßig. Aber wenn er zu Hause nicht mehr von einer Todesstrafe bedroht ist, dann muss er gehen. Man muss sich an unsere Regeln halten, wenn man eine Chance haben will.

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