LINDNER-Interview: Liberalismus und Rechtspopulismus schließen sich aus
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Welt am Sonntag“ (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte THORSTEN JUNGHOLT.
Frage: Herr Lindner, was bedeutet der Verlust von Hans-Dietrich Genscher und Guido Westerwelle für die FDP?
LINDNER: Wir Freien Demokraten trauern um zwei Menschen, die unsere Partei geprägt haben. Mit Hans-Dietrich Genscher verliert unser Land einen wirklichen Staatsmann, der die Vertrauensbildung zwischen Ost und West verkörperte. Einst wurde der Genscherismus geschmäht, doch die Geschichte hat ihm Recht gegeben: Ohne sein Lebenswerk sind die deutsche Einheit und das Haus Europa nicht vorstellbar. Für die Freien Demokraten war er eine Ikone und ein väterlicher Freund. Dass wir ihn und Guido Westerwelle im selben Moment verlieren, macht uns tieftraurig.
Frage: Wie wichtig war der Rat Genschers für Sie in den schweren Jahren nach der Bundestagswahl 2013?
LINDNER: Natürlich hat ihn die Niederlage seiner Partei sehr bekümmert. Aber er hat uns den Rücken gestärkt und Zuversicht gegeben. Sein wichtigster Rat war, sich nicht von Ängsten und Bedenken bestimmen zu lassen, sondern neues Denken zu wagen. So hat er es in seinem Leben stets gehalten. Er sah uns auf dem richtigen Kurs. Über die jüngsten Wahlerfolge hat er sich von Herzen gefreut und mich am Montag gleich angerufen, um uns zu gratulieren. Er klang so munter und vital, dass mich sein Tod überrascht hat.
Frage: Westerwelle hat als Außenminister versucht, an Genschers Kultur der militärischen Zurückhaltung anzuknüpfen. Wie sieht die Außenpolitik der FDP künftig aus?
LINDNER: Es gibt heute außenpolitische Fragen, die man anders beantworten muss als zur Zeit von Hans-Dietrich Genscher. Aber bei den Grundentscheidungen stehen wir in seiner Tradition. Wie er glauben wir erstens an das Völkerrecht und daran, dass es immer besser ist miteinander zu sprechen als nicht zu sprechen, wie er einmal sagte. Das gilt auch für Russland. Zweitens war Europa Genschers Herzensangelegenheit. Wir, die nach ihm Verantwortung tragen, müssen es erhalten, indem wir seine Werte und sein Recht nicht länger relativieren. Falsche Zugeständnisse an Autokraten wie Herrn Erdogan unterspülen das Fundamt dieses großartigen Projektes. Und wir sehen Deutschland fest verankert im transatlantischen Bündnis, weil die USA ein unverzichtbarer Partner sind. Deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass beispielsweise der Freihandel durch einen geschichtslosen Antiamerikanismus gefährdet wird.
Frage: Zur Innenpolitik: Die FDP Rheinland-Pfalz hat diese Woche entschieden, Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen aufzunehmen. Tragen Sie die Entscheidung für eine Ampel in Mainz mit?
LINDNER: Ja, ich finde es richtig zu prüfen, ob es die Chance auf eine andere Politik gibt. Dafür sind wir angetreten. In Rheinland-Pfalz gibt es eine sozialliberale Tradition und aus der Zeit der gemeinsamen Regierung bis 2006 noch Kollegialität. Zudem wäre in einem Dreierbündnis die FDP die zweitstärkste Kraft vor den Grünen. Nirgendwo sonst sehe ich eine vergleichbare Konstellation: nicht im Bund, nicht in Nordrhein-Westfalen und erst recht nicht unter Führung der Grünen in Baden-Württemberg. Überall gilt, was unser Spitzenkandidat Volker Wissing aber auch für Mainz gesagt hat. Die FDP tritt nur in eine Regierung ein, wenn sie ihre Handschrift deutlich machen kann. Das ist die Lehre der Niederlage von 2013.
Frage: Das heißt?
LINDNER: Wir sind unseren Wählern einen Politikwechsel schuldig: eine Bildungspolitik ohne Diskriminierung des Gymnasiums und ohne Geringschätzung der beruflichen Bildung, eine Energiepolitik ohne den teuren und ideologisch motivierten Ausbau der Windkraft, eine Wirtschaftspolitik ohne Bürokratie. Wahr ist doch: Nach dem Abschied der FDP aus der Regierung in Mainz 2006 hat der Staat dort Projekte erst erfunden, dann subventioniert und dann ruiniert – siehe Nürburgring. Wenn wir da eine Trendwende erreichen können, sollten wir das tun.
Frage: Landeschef Wissing sieht durch das Erstarken der AfD die Notwendigkeit, in den Parlamenten den „Konsens der vernünftigen Mitte“ zu suchen. Auch ein Argument?
LINDNER: Natürlich ist es richtig, dass die staatstragenden Parteien grundsätzlich miteinander zusammen arbeiten sollten. Man muss ja klar sagen: AfD und Linke wollen beide ein anderes Deutschland. Beide vertreten einen Kollektivismus, der den einzelnen Menschen klein macht. Bei den einen heißt das Volksgemeinschaft, bei den anderen Sozialismus. Das ist ein Angriff auf die Liberalität unserer Gesellschaft. Klar ist aber auch, dass Schwarze, Rote und Grüne eher sozialdemokratische Parteien sind. Die FDP ist dagegen eine individualistische, freisinnige Partei. Kompromisse sind da nicht einfach für uns, aber nötig, wenn man nicht nur protestieren, sondern auch etwas verändern will.
Frage: Nachdem Wissing seine Entscheidung für Koalitionsverhandlungen bekannt gegeben hatte, füllten sich viele Kommentarlisten im Internet mit dem alten Vorwurf, die FDP mache alles mit jedem für die Rückkehr an die Macht. Wie lässt sich das entkräften?
LINDNER: Ich bin überzeugt: Wenn du dich immer nur um deine Hater bei Facebook kümmerst und versuchst, die zu überzeugen, dann kannst du auch wie Perserkönig Xerxes das Meer auspeitschen, um es zu bestrafen. Die Entscheidung in Baden-Württemberg zeigt, dass wir genau überlegen. Außerdem gibt es in Rheinland-Pfalz noch nicht einmal Ergebnisse, die man kritisieren könnte. Wo ist die Logik: Die CDU darf mit allen regieren, die SPD und die Grünen auch. Nur bei der FDP wird gesagt: Nein, sobald ihr über irgendeine Regierung sprecht, gefährdet ihr eure Prinzipien. Das ist Machtpolitik, mit der wir klein, zur Fundamentalopposition oder maximal zum Mehrheitsbeschaffer der CDU gemacht werden sollen. Wir wollen aber gewählt werden, weil wir eine eigene Identität, starke Persönlichkeiten und Substanz im Programm haben – und davon wollen wir etwas umsetzen. Solange die FDP keine absolute Mehrheit hat, wird es dafür wie auch immer geartete Koalitionen geben müssen.
Frage: Warum haben sie es in Baden-Württemberg dann nicht einmal versucht?
LINDNER: Weil es dort nicht realistisch ist, das zu erreichen, was ich gerade benannt habe: etwas von unserem Programm umzusetzen. Selbst mit Herrn Kretschmann an der Spitze bleiben die Grünen eine Partei, die ideologisch ganz woanders unterwegs ist als wir. Die fühlen sich in die Geheimnisse der Geschichte eingeweiht, weshalb sie uns alle zu besseren Menschen erziehen wollen. In Baden-Württemberg hätten sie die Koalition dominiert – anders als in Rheinland-Pfalz, wo sie kleinster Partner wären. Nein, wir würden uns überheben, als kleinster Partner in eine fünf Jahre amtierende Regierung zu kommen mit dem Anspruch, nun alles umzudrehen.
Frage: Aber mit Winfried Kretschmann gibt es doch einen Ministerpräsidenten, den man sich im Zweifel auch in der CDU vorstellen kann.
LINDNER: Das sagt etwas über Herrn Kretschmann und über die CDU aus, nichts über uns. Wir wollen in Baden-Württemberg mehr Freiheit und Flexibilität für den Mittelstand, Investitionen in Straßen und digitale Infrastruktur, eine andere Bildungspolitik – all das ist das Gegenteil der bisherigen Regierungspolitik. Gespräche erst gar nicht aufzunehmen zeugt auch von Respekt vor Herrn Kretschmann: Wir glauben nicht, dass er seine Meinungen um 180 Grad dreht.
Frage: Sie wollen die Wähler im Mai 2017 in Nordrhein-Westfalen auch um „ein starkes Mandat aus der Heimat“ bitten für die Bundestagswahl im Herbst 2017, bei der sie ebenfalls als Spitzenkandidat der FDP antreten. Von Gerhard Schröder lernen heißt siegen lernen? Der hat das 1998 in Niedersachsen ja ähnlich gehandhabt.
LINDNER: Das ist ein großer Vergleich. Ich strebe ja nicht die Kanzlerkandidatur an.
Frage: Das war ja schon mal anders in der FDP…
LINDNER (lacht): Geschichte wiederholt sich nicht, keine Sorge. Nein, Nordrhein-Westfalen ist das größte Bundesland, dort wird wenige Monate vor der Bundestagswahl gewählt – das ist quasi eine Vorwahl. Und nachdem ich fünf Jahre als Parteivorsitzender in Bund und Land gewirkt habe, ist das in besonderer Weise auch eine Testwahl für die politische Arbeit der FDP. Warum soll man da verdruckst sein? Nein, ich will, dass die Bürger in NRW sagen können: Wir wollen einen starken liberalen Einfluss im Land, und wir wollen zugleich eine Wahlempfehlung für die FDP unter Führung von Christian Lindner im Bund aussprechen. Darum werde ich bitten. Es ist ja auch völlig klar, dass ich meine politische Arbeit in Berlin fortsetzen will. Darauf können die Wähler sich verlassen.
Frage: Nun reden wir ganz selbstverständlich über die FDP in den Parlamenten. Im September 2013 sah das noch anders aus. Damals wurde die FDP nicht nur abgewählt, sondern teilweise verhöhnt und verachtet. Wie ist Ihnen die Wiederbelebung gelungen?
LINDNER: Die Frage, die wir uns zuerst gestellt haben, war nicht: Wie kommen wir wieder in den Bundestag zurück? Die Frage lautete: Warum wollen wir überhaupt wieder in den Bundestag? Es ging um Selbstvergewisserung. Freisinn ist ein Lebensgefühl, und Liberalismus ist eine Weltanschauung, beide sind älter als die FDP, älter als Lambsdorff, Genscher, Westerwelle und erst recht als Lindner. Wir haben uns wieder auf diese Philosophie besonnen, sie aktualisiert.
Frage: Andere liberale Parteien in Europa sind der Verlockung des Rechtspopulismus erlegen. War das eine Option?
LINDNER: Nie. Schon in meiner Bewerbungsrede als Vorsitzender habe ich gesagt, dass die FDP niemals den Europa-Hassern nachlaufen wird. Liberalismus und Rechtspopulismus schließen sich aus.
Frage: Also ist es Missbrauch, wenn Frauke Petry die AfD liberal-konservativ nennt?
LINDNER: Was soll das sein? Es ist Skepsis angebracht, wenn Leute das Wort liberal mit Bindestrich verwenden. Sozial-liberal, konservativ-liberal – das sind trojanische Pferde der politischen Rhetorik. Wir-gegen-die-Kollektivismus, Ressentiments gegen Minderheiten, Anti-Establishment-Gehabe, Sozialprotektionismus – diese AfD ist vieles, aber nicht liberal.
Frage: In drei Wochen haben Sie Parteitag. Wie werden Sie Ihre liberalen Prioritäten dort definieren?
LINDNER: Unser Land befindet sich seit Jahren im Krisenmodus, weshalb die Kanzlerin Fragen von größter Wichtigkeit vernachlässigt. Wie erwirtschaften wir mit weniger Menschen künftig unseren Wohlstand? Wie sorgen wir dafür, dass die Multi-Milliarden-Dollar-Konzerne aus dem Silicon Valley ihren fairen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten? Und der Vizekanzler Sigmar Gabriel versucht, durch Verteilungspolitik Wählerstimmen notfalls auch noch auf Pump zu kaufen. Die FDP muss daran erinnern, dass die Bürger diese vermeintlichen Wohltaten bezahlen müssen. Und dass wir in die Digitalisierung driften statt sie zu gestalten. Das Projekt der FDP ist daher ein Update für Deutschland. Beginnend beim einzelnen Menschen und seiner Fähigkeit, etwas aus seiner Freiheit zu machen, sprich: Bildung mit bundesweiten Standards und modernen Methoden. Dann steht die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft in der Digitalisierung an – mit mehr Flexibilität und bester Infrastruktur. Die alternde Gesellschaft fordert die Möglichkeit privater Vermögensbildung, eine flexibilisierte Rente und ein Gesetz zur gesteuerten Zuwanderung.
Frage: Sie haben Frau Merkel bescheinigt, sie stürze Europa ins Chaos und Herrn Gabriel den Rücktritt nahegelegt. Mit wem wollen eigentlich noch zusammenarbeiten?
LINDNER: Na ja, ich habe bei Frau Merkel das Vokabular verwendet, das auch ihr eigener Koalitionspartner nutzt. Dann sollte das also respektvoll genug sein. Es gibt bei der FDP kein argumentatives Tempolimit. Wir sind eigenständig und unabhängig. Wir sind kein Überlaufventil für frustrierte CDU-Wähler. Wer die FDP nur als Korrektiv seiner eigentlichen Lieblingspartei sieht, der sollte lieber CDU-Mitglied werden und versuchen, die Union von innen zu verändern. Wir wollen die Leute gewinnen, die sagen: Wir finden die FDP um ihrer selbst willen gut.