LINDNER-Interview: Gegen Prinzipien verstoßen wir nicht
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab dem „Main-Echo“ (Montag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte STEFAN REIS:
Frage: Die FDP ist im Aufwind – oder sind die guten Ergebnisse der letzten Wahlen eher Ausdruck der Protestkultur gegen die vermeintlichen Volksparteien?
LINDNER: Wir leben in einer Zeit, in der offenbar immer mehr Menschen das Gefühl haben, dass die großen Aufgaben der Politik von den Parteien nicht angepackt werden: die Gestaltung der Digitalisierung, die Modernisierung der Bildung, die Sicherung der Altersvorsorge im demografischen Wandel. In einer solchen Zeit gewinnt eine Partei der Eigenverantwortung, der Fortschrittsfreundlichkeit und der wirtschaftlichen Vernunft natürlich an Attraktivität. Die FDP ist eben mit Reformehrgeiz und Rechtsstaatlichkeit die wirkliche Alternative zur Zukunftsvergessenheit und zur chaotischen Zuwanderungspolitik der großen Koalition.
Frage: Aber natürlich konkurrieren Sie mit nationalstaatlichen Weltbildern.
LINDNER: Das sehe ich nicht so. Wir sind eine weltoffene, europäische Partei. Ich empfinde die Vielfalt in Deutschland als Bereicherung, nicht als Belastung. Klar ist, dass wir gemeinsame Regeln unserer Verfassungsordnung haben, die für jeden gelten – egal, an welchen Gott er glaubt. Und klar ist auch, dass der Zustand Europas niemanden zufrieden stellen kann, und wir an den Institutionen in Europa arbeiten müssen. Aber es wäre töricht, Europa abzuwickeln. Die größte Gefahr für Freiheit, Frieden und Wohlstand sehe ich nicht in der Euro- oder Flüchtlingskrise, sondern im Erstarken von Bewegungen, die uns wieder zurück ins 19. Jahrhundert führen wollen.
Frage: Ist ein Thema wie Digitalisierung ein massentaugliches Thema – gerade vor der Furcht, was die Zukunft in Zeiten von globalem Terrorismus und in der Sorge um das eigene Umfeld bringt?
LINDNER: Wir stellen uns die Frage gar nicht, ob es sich hier um ein massentaugliches Thema handelt. Wir stellen uns die Fragen, die für unser Land wichtig sind. Die Politik darf sich doch nicht in der Verwaltung des Status quo erschöpfen. Die Digitalisierung verändert unser gesamtes Leben, die Quellen unseres Wohlstands werden neue sein: ein leistungsfähiges Bildungssystem, eine vernünftige und vor allem funktionierende moderne digitale Infrastruktur, ein in neue Technologien investierender Mittelstand. Massentauglichkeit hin oder her: Eine Partei muss sich um diese Fragen Gedanken machen, wie wir nach dieser neuen industriellen Revolution unseren Lebensstil fortsetzen können.
Frage: Das bedeutet aber auch, dass die FDP in den Anspruch haben und in die Situation kommen muss, Verantwortung zu übernehmen.
LINDNER: Selbstverständlich. Wir sind nicht in die FDP eingetreten, um Parlamentsabgeordnete zu werden und vom Steuerzahler bequem finanziert zu werden, um gelegentlich Protestnoten zu Protokoll zu geben. So macht man es sich ja sehr einfach. Wir wollen mitwirken, dass in unserem Land Weichen anders gestellt werden. Wir führen in Deutschland sehr viele Debatten über Umverteilung und Wohlstand, über Steuern und Abgaben – die eigentliche Armutsfrage ist aber der Mangel an Bildung ist: Wer über keine vernünftige Bildung verfügt, hat niemals die Chance auf ein eigenverantwortlich geführtes Leben. Darüber zu sprechen und es auch dann in der entsprechenden Verantwortung umzusetzen: Das nimmt uns nach Lage der Dinge keine andere Partei ab.
Frage: Sie definieren die Philosophie der FDP gerade ganz neu: weg vom Klischee der wirtschaftsfreundlichen Partei, hin zur Bildungspartei für alle Bevölkerungsschichten.
LINDNER: Wir machen uns gar nicht so viele Gedanken über Vorurteile, die uns gegenüber bestehen. Ich will nichts daran ändern, dass die FDP die Partei der sozialen Marktwirtschaft ist. Unser Kern ist aber, dass wir den Einzelnen in der Gesellschaft stark machen wollen – und das geht nur durch Bildung. Der durch Bildung stark gemachte Mensch, der für sein Leben Verantwortung übernehmen kann und will, der muss beschützt werden vor Bürokratisierung, vor Bevormundung, vor Bespitzelung, vor Abkassieren. Nicht immer nur den Staat großmachen, auch den Einzelnen großschreiben: Das ist eine klassisch liberale Position, die nicht im Widerspruch steht zu oder eine Abkehr darstellt von früheren liberalen Philosophien, sondern die logische Entwicklung ist. Denn die besten Möglichkeiten zum Entwickeln des Einzelnen sind soziale Marktwirtschaft, Rechtsstaat und offene Gesellschaft – darauf ist unser Land aufgebaut. Und aktuell? Soziale Marktwirtschaft wird abgewickelt mit Kaufprämien für Elektroautos, Fusion von Edeka und Kaiser’s/Tengelmann zu Lasten der Kunden, Bürgerrechte gehen verloren, wenn wir alle durch die Vorratsdatenspeicherung zu potenziellen Gefährdern gemacht werden, aber die Polizei nicht vernünftig ausgestattet ist. Die innere Liberalität unserer Gesellschaft wird verletzt, Ressentiments gegen Minderheiten werden geschürt und salonfähig.
Frage: Mit wem ließe sich diese Liberalität am besten erhalten, stärken?
LINDNER: Ich will die Frage anders herum beantworten: nicht mit Linkspartei und AfD, weil die ein anderes Deutschland wollen. Diese beiden Parteien wollen den demokratischen Grundkonsens in diesem Land aufkündigen: Sie wollen aus der Nato raus, sie zeigen mehr Verständnis für den autoritären Putin statt den demokratischen Obama, beide Parteien pflegen diesen Kollektivismus, der hier Sozialismus und dort Volksgemeinschaft heißt. Alle anderen staatstragenden Parteien müssen miteinander sprechen und im besten Fall koalieren können. Ich muss allerdings auch feststellen, dass die inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit SPD und Grünen, die beide mit der Agenda 2010 nichts mehr zu tun haben wollen, wesentlich geringer ist, als zumindest dem Teil der Union, der nicht schon selbst sozialdemokratisch geworden ist.
Frage: So wie aktuell die Umfragewerte sind, könnte die FDP ein entscheidender Faktor bei der Regierungsbildung sein.
LINDNER: Könnte sein. Eins ist aber klar: Selbst bei einer möglichen schwarz-gelben Mehrheit ist nicht gesichert, dass eine schwarz-gelbe Regierung kommt. Wir als FDP sind eigenständig und unabhängig; wir haben in der Koalition mit der Union auch die Erfahrung gemacht, unsere Inhalte nicht durchsetzen zu können. Es geht nicht um die Anmaßung, den ganzen Kurs einer Regierung diktieren zu wollen – wir sind Realisten und wenn man keine absolute Mehrheit hat, geht man Kompromisse ein. Aber: Gegen Prinzipien verstoßen wir nicht und wir wollen natürlich in einer Regierungsverantwortung möglichst viele eigene Projekte umgesetzt sehen. Insofern kann auch eine seriös-liberal wahrgenommene Opposition eine möglicherweise staatstragende Rolle sein.
Frage: Muss Koalition auf eine Partei begrenzt sein, könnte das Mainzer Modell mit SPD, Grünen und FDP eine Möglichkeit auf Bundesebene sein?
LINDNER: Die Lage in Mainz ist sehr speziell, hier gibt es eine intakte sozialliberale Tradition. Bis 2006 haben SPD und FDP so erfolgreich in Rheinland-Pfalz regiert und bei den damaligen Landtagswahlen wurden ja beide so stark, dass die SPD alleine regieren konnte und trotz der absoluten Mehrheit die FDP zum Weiterregieren eingeladen hat. Das haben wir nicht gemacht. In der jetzigen rheinland-pfälzischen Koalition ist die FDP deutlich zweitstärkste Kraft, gut vor den Grünen: Das ist eine besondere Bedingung. Insofern glaube ich, dass die Mainzer Koalition – auf die nächsten Jahre gesehen - ein Einzelfall in Deutschland bleibt.
Frage: Wie viel schreiben Sie sich selbst zu, die FDP wieder hochgebracht zu haben?
LINDNER: Wir sind insgesamt eine gute Mannschaft, obwohl wir alle Individualisten sind ...
Frage: ... deshalb die Frage ...
LINDNER: ... wobei man allerdings Individualismus ganz klar von Egoismus unterscheiden muss. Ein Einzelner kann innerhalb der Partei, bei Wahlkämpfen nicht den Unterschied ausmachen. Dass ich medial stärker im Fokus stehe, das ergibt sich aus meinem Amt in der Partei. Da will ich mich nicht überschätzen.
Frage: Aber kann es sein, dass Sie sich seit ihrer Wahl zum Bundesvorsitzenden einen härteren Anstrich geben ...
LINDNER: ... ich werde älter ...
Frage: ... was sich beispielsweise an Details wie Ihrem Drei-Tage-Bart oder dem Blick festmachen lässt.
LINDNER: Ach, den Drei-Tage-Bart habe ich eigentlich schon immer. Ich überlege gerade, ob ich Ihre Beobachtung als Kompliment auffassen soll: Ein Politiker will ja Durchsetzungsvermögen dokumentieren. Nur eines an mir hat sich tatsächlich äußerlich verändert: Ich habe im vergangenen Jahr zwölf Kilo abgenommen, weil ich jeden Tag mindestens eine Stunde Sport mache – aus Lust, nicht aus Frust.
Frage: Was bedeutet, das Amt des Bundesvorsitzenden geht nicht an den Charakter.
LINDNER: Nein. Meine biografische Zäsur war das Jahr 2011, als ich mein Spitzenamt als Generalsekretär der Regierungspartei FDP aufgegeben habe, weil ich nicht mehr vorbehaltlos den damaligen Kurs der Partei vertreten konnte. Das war, denke ich, Ausdruck einer persönlichen Entwicklung hin zu mehr Unabhängigkeit und Konsequenz.
Frage: Sie sind einer der jüngeren Bundesvorsitzenden in der deutschen Parteienlandschaft. Wie lange lässt sich dieses Amt durchhalten?
LINDNER: Ich habe mir keine Restlaufzeit vorgenommen, aber über den Vorsitz entscheidet die Basis immer wieder demokratisch neu. Ich habe jedenfalls ein Projekt, das nicht mit der nächsten Bundestagswahl abgeschlossen ist: Diese Wahl ist ein Zwischenschritt. Wir erneuern die FDP in der außerparlamentarischen Opposition – sie wird antreten mit einem anderen Charakter als dem, mit dem sie 2013 abgewählt wurde. Im Bundestag ist unser Ehrgeiz, diesen Charakter zur Geltung zu bringen.
Frage: Was ist das Ziel nach dem Zwischenschritt?
LINDNER: Ich möchte, dass die FDP als Stimme der Selbstbestimmung des Einzelnen im Parlament stark und krisenfest vertreten ist – mit Konzepten, mit Substanz. Wir wollen nicht nur strategische Ziele in der Bundespolitik formulieren, die FDP wird auch ganz klar sagen, was dafür getan werden muss. Also: konkret Gesetzesentwürfe ins Parlament einbringen – und umsetzen: Das ist der nächste Schritt auf unserem Weg.