02.12.2014FDPFDP

LINDNER-Interview: Es gibt eine große geistige Lücke im Parlament

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab dem „liberal“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte DAVID HARNASCH:

Frage: Herr Lindner, seit mehr als einem Jahr fehlt im Deutschen Bundestag eine liberale Partei. Was hat sich in dieser Zeit verändert?

LINDNER: Deutschland ist ein tolerantes, weltoffenes Land, das eine stabile wirtschaftliche Basis hat. Das soll so bleiben. Wir erleben aber aktuell, dass auf der einen Seite im Bundestag allein sozialdemokratische Politik gemacht wird, die Wohlstandschancen verspielt und die Zukunft belastet. Auf der anderen Seite gibt es eine Formation, die mit Protest und Nostalgie auf Stimmenfang geht, Zukunftsängste schürt und mit Ressentiments spielen. Mir fehlt ein Garant für die innere Liberalität unseres Landes. Diese traditionell bürgerliche Haltung ist die Mission der FDP. Und ein klarer Kontrast.

Frage: Was macht diesen Kontrast denn aus?

LINDNER: Der Zeitgeist ist geprägt von neuer Staatsgläubigkeit und Entmündigung der Bürger. Auch die Union träumt doch nur noch von neuen Ausgaben, statt über das Erwirtschaften nachzudenken. Die Bürokratisierung des Alltags halte ich für eine der größten Bedrohungen der Freiheit. Es muss auch eine Partei geben, die auf die Erwirtschaftung unseres Wohlstandes setzt. Und die erst einmal auf die Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Menschen vertrauen, bevor notfalls der Staat zur Hilfe gerufen wird.

Frage: Was heißt das konkret?

LINDNER: Wir haben einige wirtschaftlich gute Jahre hinter uns. Die Große Koalition nimmt aber Deutschlands Stärke für selbstverständlich hin. Wer das tut, hat längst begonnen, die Stärke zu verspielen. Ein Jahr wirtschaftsfeindliche Politik hat zudem bereits seine Spuren in der Konjunktur hinterlassen – schon ist der Kater da: Zahlreiche Wirtschaftsindikatoren gehen runter, die Regierung muss die Wachstumsprognosen korrigieren und die Steuereinnahmen wachsen deutlich langsamer. Umso dringender müssten wir jetzt unser Wissen und unser Kapital klug investieren; die Wettbewerbsfähigkeit ausbauen. Stattdessen wird die Agenda-Politik abgewickelt. Das ist grundfalsch. Deutschland bräuchte vielmehr einen neuen Agenda-Kraftakt, der unser Land fit für die Zukunft macht und einen neuen Gründergeist schafft.

Frage: Was für einen Gründergeist?

LINDNER: Erinnern sie sich an das Gefühl, als sie in die erste eigene Wohnung eingezogen sind? Eine solche Aufbruchsstimmung – das wollen wir für Deutschland. Dafür müssen wir dringend an die großen Herausforderungen unserer Zeit ran: die demografische Umwälzung unserer Gesellschaft, die Digitalisierung unserer Wirtschaft und unseres Alltags, die zunehmende internationale Verflechtung und die Entstehung neuer Kraftzentren in der Welt. Wir sollten die innovativen und kreativen Potenziale jedes Einzelnen wecken und Raum zur Entfaltung geben. Die wichtigste Ressource dabei ist Bildung. Wir wollen das zum Mondfahrtprojekt unseres Landes machen. Ein Bildungswesen, das in der Spitze mit Nordamerika und in der Breite mit Skandinavien konkurrieren kann. Ich persönlich glaube, dass Bildung dafür stärker Aufgabe des Gesamtstaats werden muss. Ich bin überzeugt: Die besten Jahre Deutschlands liegen noch vor uns, wenn wir jetzt die Weichen richtig stellen. Beste Bildung der Welt, Neustart der Energiewende, solide Staatsfinanzen und enkelfitte Sicherungssysteme, um nur wenige Punkte zu nennen.

Frage: Was bemängeln Sie an der Energiewende?

LINDNER: Deutschland muss aus seiner kollektiven Selbsthypnose in der Energiepolitik aufwachen. Die Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit sind genauso wichtig wie der Klimaschutz, dem aus ideologischen Gründen bislang Vorrang eingeräumt wird. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist inzwischen zu einer Subventionsmaschine geworden, die rund um die Uhr auf Hochtouren läuft. Dieses planwirtschaftliche System, das Investoren feste Erträge über mehrere Jahrzehnte garantiert, bremst die Innovationskraft aus und ist längst zum Kostentreiber für Privathaushalte und Unternehmen geworden. Das EEG muss deshalb schnellstmöglich abgeschafft werden, damit keine neuen Ansprüche auf Subventionen entstehen. Wir brauchen stattdessen einen Energie-Binnenmarkt in Europa. Mehr europäischer Wettbewerb macht unsere Energieversorgung sicher und bezahlbar.

Frage: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft ist zuletzt deutlich abgekühlt. Wie würden Sie gegensteuern?

LINDNER: Wachstum kann nicht auf Pump vom Staat gekauft, sondern nur durch wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen ermöglicht werden. Bürokratieabbau wirkt mehr als konjunkturpolitische Strohfeuer: Ein Comeback der Marktwirtschaft hilft mehr als jedes Förderprogramm. Die Leistung der fleißigen Arbeiter und Angestellten verdient zudem mehr Respekt und Anerkennung. Das heißt, dass der staatliche Lohnklau, bekannt als „kalte Progression“ beendet werden muss. Der Tarif der Lohn- und Einkommensteuer gehört „auf Räder“, damit er automatisch der Preisentwicklung angepasst wird und nicht der Finanzminister von Gehaltserhöhungen am meisten profitiert. Dazu bräuchte es einen Impuls durch private und öffentliche Investitionen, etwa durch die Wiedereinführung der degressiven Abschreibung. Der Haushalt würde Spielräume dafür hergeben: Mindestens vier Milliarden Euro zusätzlich für Straßen, Schienen, Brücken und die Breitbandversorgung sind machbar, wenn die Regierung die zusätzlichen Konsumausgaben kappt und auf mehr Investitionen setzt.

Frage: Also ohne neue Schulden?

LINDNER: Ja, natürlich. Die Regierung müht sich ja sehr, die „schwarze Null“ zu erreichen. Ich finde aber, das ist in Zeiten höchster Steuereinnahmen und künstlich niedriger Zinsen allenfalls das Minimalziel. Die schwarze Null darf auch nicht zum reinen Symbol werden, sie muss der Beginn einer neuen Reformpolitik sein, die den Rahmen für wirtschaftliche Leistung und persönliche Schaffenskraft verbessert. In der mittelfristigen Finanzplanung der letzten schwarz-gelben Regierung war übrigens sogar der Abbau von Altschulden vorgesehen.

Frage: Sie wollen investieren und sparen – woher soll das Geld kommen?

LINDNER: Wir brauchen den richtigen Mix aus vernünftigen Ausgaben und dem Mut, Wachstumschancen zu nutzen. Ich bin für ein Moratorium bei neuen Konsumausgaben. Die einmalige ökonomische Situation höchster Staatseinnahmen und niedrigster Zinsen darf nicht für mehr Konsum verbraucht werden, sondern muss durch mehr Investitionen in die Zukunft uns noch morgen tragen. Dazu müssen die massiven Wachstumsbremsen am Arbeitsmarkt und in der Energiepolitik weg und die riesengroße Chance des Freihandels mit Nordamerika genutzt werden.

Frage: Sie haben keine Angst vor dem Chlorhühnchen?

LINDNER: Das Chlorhühnchen ist doch längst das Symbol der Angstmache. Es wird ausgerechnet von den Leuten für Stimmungsmache genutzt, die jeden Sommer im Freibad mehr Chlorwasser schlucken, als sie mit amerikanischem Geflügel jemals auf den Teller bekämen. Mein Eindruck ist, dass viele Antiamerikaner von links und die Nationalstaatsromantiker von der AfD das Freihandelsabkommen nutzen, um ihre Vorbehalte gegen Amerika zu bedienen. Das gefährdet unseren Wohlstand. Denn das Freihandelsabkommen TTIP ist eine enorme Chance für unsere exportorientierte Wirtschaft – zur Sicherung gut bezahlter Arbeitsplätze. Wir schaffen außerdem damit weltweit gültige Standards in Umwelt- und Sozialfragen. Gelingt uns dieser Brückenschlag über den Atlantik nicht, setzen andere die Standards zu unseren Lasten. Es wird dann der autoritäre chinesische Staatskapitalismus sein, der die Regeln im Welthandel bestimmt.

Frage: Die FDP ist in den letzten Wochen mit Kritik an der EU-Kommission aufgefallen. Was läuft da in Ihren Augen schief?

LINDNER: Ich sehe mit Sorge, dass die Bundeskanzlerin sich gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Hollande in den letzten Wochen daran gemacht hat, den Stabilitätspakt aufzuweichen. Der Fehler von Schröder und Chirac darf aber nicht noch mal gemacht werden. Es führt kein Weg an stabilen Finanzen und nachhaltigen Wirtschaftsreformen vorbei. Gerade dafür bräuchte es eine starke EU-Kommission, die das durchsetzt. Jetzt soll aber ausgerechnet ein ehemaliger Finanzminister Frankreichs als Währungskommissar für Disziplin in den Krisenländern sorgen – obwohl er selbst nicht ein einziges Mal einen Haushalt vorgelegt hat, der den europäischen Regeln entsprochen hat. Hier wird der Bock zum Gärtner gemacht. Marktwirtschaftliche Reformen, nicht Rentengeschenke oder neue Schulden sind Voraussetzung für Wachstum, Arbeitsplätze und neue Chancen für Millionen Menschen in der gesamten EU.

Frage: Europa wird von verschiedenen Seiten verstärkt infrage gestellt. Wächst auch Ihre Skepsis?

LINDNER: Ich bin stolz auf unser Land, auf unser Grundgesetz, auf das, was hier nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurde. Aber ich weiß auch als bergischer Junge und als Deutscher, dass unsere Identität eine europäische ist. Die FDP ist eine Europa-Partei. Übermorgen werden die Europäer nur noch zwei Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Wäre es da wirklich der richtige Weg, wieder kleiner und nationaler zu denken? Die Europäische Union hat ihre Mängel, wir müssen sie besser machen. Aber wer nur die Defizite betont, verliert den Blick für das Wesentliche: Sicherheit, Binnenmarkt, gemeinsame Gestaltung globaler Fragen. Europa sollte die großen Fragen regeln, für die die Nationalstaaten zu klein sind. Aber was in den Ländern näher am Bürger gelöst werden kann, sollte auch da bleiben.

Frage: Sie sprachen die Rentengeschenke an. Zählen Sie dazu auch die Rente mit 63 in Deutschland?

LINDNER: Das Rentenpaket ist teuer, ungerecht und gegen Altersarmut wirkungslos. Ein Teil einer Generation profitiert von der Rente mit 63, die alle Jüngeren und alle Älteren bezahlen. Das Rentenpaket ist außerdem ein Frühverrentungsprogramm, das den Fachkräftemangel verschärft. Klar ist: Wer hart gearbeitet hat, soll eine ordentliche Rente haben. Modern wäre, die Selbstbestimmung zu stärken und längeres Arbeiten attraktiv zu machen. Die Zeit ist doch längst reif, dass wir auch beim Renteneintritt mehr Selbstbestimmung ermöglichen.

Frage: Die Scharia-Polizei in Wuppertal und die Ausschreitungen bei der Demonstration von Hooligans haben die Debatte über Islamismus in Deutschland jüngst befeuert. Welche Antwort geben Sie?

LINDNER: Liberale sind Verfechter einer offenen Gesellschaft und der Rechtstaatlichkeit. Es ist eine staatliche Kernaufgabe, durchzusetzen, dass politischer und religiöser Extremismus unser Grundgesetz nicht aushöhlt. Die Bekämpfung von Extremismus gelingt aber nur durch Prävention und Repression, also Bildung, Aufklärung und gesellschaftliches Engagement, gepaart mit einer klaren Rechtslage und handlungsfähigen Sicherheitsbehörden. Ich habe den Eindruck, dass im Umgang mit radikalisierten Salafisten die gesetzlichen Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft werden. Gleiches gilt, wenn es in Berlin Kieze gibt, wo sich die Polizei nicht hineintraut, weil libanesische Banden dort das Sagen haben. Das ist nicht vereinbar mit meinem Verständnis, wie unser liberaler Rechtsstaat funktioniert. Ich wünsche mir einen starken, handlungsfähigen Staat. Ich brauche keinen Staat, der 1600 zusätzliche Beamte beim Zoll einstellt, um den Mindestlohn zu kontrollieren.

Frage: Zum Abschluss: In zweieinhalb Jahren ist schon wieder Bundestagswahl. Wie wollen Sie die Liberalen wieder in das Parlament bringen?

LINDNER: Mir geht es weniger um die Methode. Mich beschäftigt, warum wir von den Bürgerinnen und Bürgern ein neues Mandat bekommen sollen. Der Blick in unser Parlament zeigt doch, dass es dort eine große geistige Lücke gibt. Die Überzeugung, dass Marktwirtschaft den Menschen und der Wirtschaft dient, dass Bürger sich nicht für ihre Rechte rechtfertigen müssen, sondern der Staat jeden Eingriff in selbige, und eine weltoffene Geisteshaltung, die jeden sein Leben frei gestalten lässt – diese Mischung ist unverwechselbar und einmalig. Diese Haltung gibt es im Deutschen Bundestag nicht mehr, obwohl sie in der Gesellschaft eine große Verankerung hat. Und das ist das Profil der FDP.

 

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