05.06.2014FDPArbeit

LINDNER-Gastbeitrag für „Handelsblatt Online“

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER schrieb für „Handelsblatt Online“ den folgenden Gastbeitrag:

Über Jahrzehnte ist Deutschland gut damit gefahren, dass die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften die Löhne mit den Betrieben in Freiheit verhandeln. Die Tarifautonomie ist nicht nur ein Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft – sie ist auch eines unserer wichtigsten Freiheitsrechte.

An diesem Donnerstag berät der Deutsche Bundestag das „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ in erster Lesung. Bereits der Titel des Gesetzes ist eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes: Denn die Tarifautonomie wird nicht gestärkt, sondern in ihrem Kernbereich aufgehoben.

In Deutschland soll es zukünftig einen von der Politik festgelegten einheitlichen Mindestlohn geben – unabhängig von der Branche und der wirtschaftlichen Stärke oder Schwäche einer Region. Ich bestreite nicht, dass die Motive dafür sozial sein mögen. Aber Gesetze müssen sich nicht an ihren Motiven messen lassen. Sie müssen in der Praxis überzeugen und zu sozial verantwortbaren Ergebnissen führen. Beim „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ sind daran erhebliche Zweifel erlaubt:

Erstens. In Deutschland verfügen rund 1,5 Millionen junge Erwachsene zwischen 25 und 35 Jahren über keinen schulischen oder beruflichen Abschluss. Sie sind die Schwächsten auf dem Arbeitsmarkt. Ohne Zweifel müssen wir uns besonders um ihre Chancen sorgen. In bestimmten Regionen – gerade in Ostdeutschland – wird der nun eingeführte Mindestlohn dazu führen, dass ihre Einstiegschancen in den Arbeitsmarkt noch weiter beschnitten werden.

Davor warnt nicht nur die FDP, sondern beispielsweise auch die Caritas, die sich in der Jugendsozialarbeit engagiert. Welcher Betrieb stellt schließlich einen jungen Menschen ohne Bildung ein, wenn es für wenig mehr Geld vielleicht einen qualifizierteren Bewerber gibt? Mit jedem Einstiegsjob für Geringqualifizierte, der durch dieses Gesetz vernichtet wird, wird Deutschland nicht sozialer – sondern weniger sozial.

Zweitens. Viele junge Erwachsene beginnen ihre Ausbildung erst im Alter von 19 Jahren. Ab diesem Zeitpunkt fallen sie bei regulärer Beschäftigung unter den Mindestlohn, während eines Ausbildungsverhältnisses dagegen nicht. Anders gesagt: Der Packer bei Amazon verdient in etwa das Doppelte des Lehrlings im Handwerk. So werden nicht wenige vor die Wahl gestellt, ob sie statt einer qualifizierten Ausbildung eine unqualifizierte Tätigkeit annehmen. Es wird ein fataler Anreiz gesetzt, statt in die eigene Zukunft Zeit zu investieren, lieber das schnell verdiente Geld in der Gegenwart mitzunehmen. Ein Gesetz, das junge Menschen vor die Wahl stellt, Aushilfe statt Auszubildender zu werden, ist weder sozial noch gerecht. Und vor allen Dingen nicht nachhaltig.

Drittens. Die gegenwärtige Stärke unseres Landes beruht nicht zuletzt darauf, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften in den vergangenen Jahren eine maßvolle Tarifpolitik verfolgt haben. Die Entwicklung der Löhne und Gehälter hat sich an der Produktivitätsentwicklung unserer Wirtschaft orientiert. Die klugen Verabredungen der Tarifpartner im letzten Jahrzehnt haben so die deutsche Wettbewerbsfähigkeit gestärkt. Im Ergebnis feiert Deutschland heute Rekordbeschäftigung und die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa.

Mit der Einführung des einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns kommt nun ein neuer Faktor in die Tarifpolitik. Gradmesser für die Höhe des Mindestlohns wird die allgemeine Preisentwicklung bzw. die Entwicklung des Regelsatzes von „Hartz IV“ sein. Keine Gewerkschaft wird aber einen Tarifabschluss für ihre Branche akzeptieren, der unterhalb der Entwicklung des Mindestlohns bleibt. Es droht also, dass die gesamte Tarifpolitik in Deutschland ihre Orientierung an der Produktivität verliert und stärker an die allgemeine Preisentwicklung gekoppelt wird. Schon jetzt ist absehbar: In der Perspektive einiger Tarifrunden und einiger Jahre wird dies die deutsche Wettbewerbsfähigkeit erheblich einschränken – und damit im Ergebnis zulasten der Beschäftigten gehen.

Viertens. Viele junge Menschen nutzen Praktika, um einen Einblick in das Berufsleben zu erhalten. Mitnichten werden sie von ihren Arbeitgebern generell als billige Arbeitskräfte missbraucht. Durch die Ausdehnung des Mindestlohns auf freiwillige Praktika, die länger als sechs Wochen dauern, wird die Möglichkeit genommen, berufliche Praxis auch bereits vor Ende der eigenen theoretischen Ausbildung zu erleben.

Schon jetzt haben Unternehmen angekündigt dass sie bestimmte Formen der Praktika nicht mehr anbieten werden. Statt einer für die Berufslaufbahn wichtigen Station werden junge Erwachsene – und insbesondere Studierende – nun weniger anspruchsvolle Aushilfstätigkeiten annehmen oder in ihrem Studium auf Praxiserfahrung gänzlich verzichten.

Fünftens. Die Debatte über den Mindestlohn ist insbesondere von dem Eindruck geprägt, dass Millionen Menschen in Deutschland von ihrem Lohn ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Tatsächlich mag es Geschäftsmodelle geben, die darauf basieren, mit unfair niedrigen Löhnen die Gewinne des Unternehmens zu erhöhen. Das entspricht nicht dem Geist unserer Sozialen Marktwirtschaft.

Einzelne Fälle sollte man aber nicht verallgemeinern und damit neue Probleme für gering qualifizierte Arbeitskräfte schaffen. Tatsächlich ist die Anzahl von Menschen, die ihren eigenen Lebensunterhalt nicht von einem Vollzeitjob bestreiten können, außerordentlich gering. Oftmals handelt es sich um Beschäftigte mit geringer Qualifikation oder sonstigen Benachteiligungen am Arbeitsmarkt. Für sie müssen Lösungen gefunden werden – sie liegen in Qualifikation, besserer Vermittlung oder Lohnuntergrenzen in einer Branche.

Der größten Zahl derer, die bislang neben ihrer Tätigkeit noch Sozialleistungen empfangen, wird der Mindestlohn von 8,50 Euro nicht helfen. Denn in der überwiegenden Anzahl handelt es nicht um Alleinstehende, sondern um Familien. Damit ein Mindestlohn die existierenden Sozialleistungen einer vierköpfigen Familie ersetzen kann, müsste er wesentlich höher liegen – wohl oberhalb von 13 oder 14 Euro. Spätestens bei dieser Höhe ist klar, dass massive Arbeitsplatzverluste unvermeidlich wären.

Der Deutsche Bundestag wird also ein Gesetz beschließen, das die eigentlichen Probleme nicht löst. Er beschneidet dennoch eine der zentralen Freiheiten der Sozialen Marktwirtschaft. Er gefährdet die gute Beschäftigungsentwicklung und die tatsächlichen Einstiegschancen gerade der Schwächeren am Arbeitsmarkt. Ihnen wäre mit einer breit angelegten Qualifikations- und Fortbildungsoffensive besser geholfen. Der Großen Koalition und der parlamentarischen Opposition ist aber offenbar die soziale Fassade ihres Handelns wichtiger, als tatsächliche Verbesserungen für die Menschen in unserem Land zu erzielen.

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