10.06.2016FDPAußenpolitik

LAMBSDORFF-Interview: Lammert hat mit seinen Worten die Bundesregierung bloßgestellt

Berlin. Das FDP-Präsidiumsmitglied und Vizepräsident des Europäischen Parlaments ALEXANDER GRAF LAMBSDORFF gab „Focus Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellte JULIAN ROHRER:

Frage: Wie haben Sie die Äußerungen von Erdogan nach der Armenien-Resolution wahrgenommen?

LAMBSDORFF: Erdogan attackiert Abgeordnete auf aggressive und persönliche Weise und schreckt selbst vor Drohungen nicht zurück. Diese stehen im exakten Gegensatz zu den Grundwerten der parlamentarischen Demokratie.

Frage: Darf ein Staatschef Abgeordnete anderer Länder derart hart angreifen?

LAMBSDORFF: Als Staatschef kann er sagen, was er will – aber er muss sich der Konsequenzen in den Beziehungen zwischen unseren Ländern bewusst sein. Ich mache mir große Sorgen um die deutsch-türkischen und die europäisch-türkischen Beziehungen. Wir sind Nachbarn, unsere Schicksale sind miteinander verwoben, unabhängig davon, wer gerade regiert. Erdogan vergiftet den Ton in diesen engen Beziehungen.

Frage: Erdogan kündigte einen Aktionsplan gegen Deutschland an. Können Sie sich vorstellen, welche Maßnahmen er in Angriff nehmen könnte?

LAMBSDORFF: Ich möchte nicht spekulieren. Aber man sollte sich einmal klar machen, wie eng und wichtig die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind. Wir sind über millionenfachen Austausch eng verknüpft. Das sind nicht nur die vielen Familien mit türkischen Wurzeln, es sind Austauschprogramme von Universitäten, Wirtschaftsbeziehungen zwischen Unternehmen, Kulturprogramme, Urlaubsreisen und vieles andere mehr. Diese engen Verflechtungen willkürlich aufs Spiel zu setzten, halte ich für hochgradig unverantwortlich.

Frage: Sollte Erdogan seinen Aktionsplan dennoch umsetzen – was würde daraufhin in Europa passieren?

LAMBSDORFF: Ein Maßnahmenpaket gegen Deutschland würde die anderen Mitgliedstaaten nicht kalt lassen. Es würde eine Welle der Solidarität auslösen und müsste eine gemeinsame Antwort der EU nach sich ziehen.

Frage: Warum glauben Sie, dass das anders als bei der Flüchtlingsverteilung laufen wird?

LAMBSDORFF: Weil es um die Grundwerte der parlamentarischen Demokratie geht. Ja, die Solidarität ist strapaziert, ja, Deutschland war durch die Bundeskanzlerin in Europa isoliert worden. Aber wenn Erdogan Maßnahmen gegen Deutschland ergreift, wie etwa den Abbruch von Wirtschaftsbeziehungen, werden die anderen europäischen Staaten gemeinsam mit Deutschland den Umgang mit Ankara überdenken.

Frage: Martin Schulz richtete einen Brandbrief an Erdogan. Unterstützen Sie das, kommt er zur richtigen Zeit?

LAMBSDORFF: Der Brief ist vollkommen richtig. Wir haben sehr enge Beziehungen zu unseren Kollegen im türkischen Parlament und auch deren Arbeit muss unterstützt werden. Wenn frei gewählte Abgeordnete von legalen Parteien mit willkürlichen Verfahren eingeschüchtert werden, müssen Parlamentarier Parlamentarier schützen.

Frage: Lammert kritisierte Erdogan im Eröffnungsplädoyer der Bundestagsdebatte scharf. Als er sich zuletzt sehr kritisch gegen Erdogan geäußert hatte, haben Sie ihm einen Fehltritt vorgeworfen. Traf er den richtigen Ton?

LAMBSDORFF: Damals war es etwas völlig anderes, weil er eine unnötige Schärfe in die Debatte gebracht hat. Heute kommt die unnötige Schärfe aus Ankara. Lammert hat mit seinen Worten, in denen er Erdogan wohlweislich namentlich gar nicht erwähnte, dieses Mal den Ton sehr gut getroffen. Und er hat damit die Bundesregierung bloßgestellt. Natürlich hätte unsere Regierung sich längst vor unsere Abgeordneten stellen müssen. Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier stehen jetzt da wie begossene Pudel.

Frage: Welche Reaktion wünschen Sie sich von Merkel?

LAMBSDORFF: Der zweithöchste Mann im Staat hat gesprochen. Damit kommt die Bundeskanzlerin zu spät, egal, wann sie sich äußern würde. Aber nun ist gesagt, was gesagt werden musste. Jetzt hoffe ich, dass alle Seiten verbal abrüsten können. Ich erwarte gerade auch von der Türkei und insbesondere von Präsident Erdogan und seiner AKP, dass sie sich zurücknehmen und zur Vernunft zurückkehren. Dabei kann die Bundesregierung helfen, eher hinter als vor den Kulissen.

Frage: Aus der Türkei wurde der Vorwurf laut, dass sich Deutschland nicht ausreichend mit der eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Muss die Bundesrepublik wie von vielen gefordert die Herrero-Vergangenheit aufarbeiten?

LAMBSDORFF: Ich bin seit vielen Jahren für die Türkei zuständig und kann mich nicht erinnern, dass türkische Gesprächspartner in der Vergangenheit jemals über die Herreros mit mir reden wollten. Dass Ankara das gerade jetzt anspricht, lässt vermuten, dass es hier wohl nicht so sehr um die Sache geht. Was das Thema selber betrifft, stehen alle Türen offen für eine ernsthafte, auch kritische Debatte. Wir in Deutschland beweisen doch seit vielen Jahren immer wieder, dass wir uns nicht scheuen, auch die dunklen Kapitel unserer Vergangenheit ernsthaft aufzuarbeiten.

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