03.12.2015FDPWirtschaft

LAMBSDORFF-Gastbeitrag: Höchste Zeit, die Weichen für die Zukunft zu stellen

Berlin. Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments und Vorsitzende der FDP im Europäischen Parlament FDP-Präsidiumsmitglied ALEXANDER GRAF LAMBSDORFF schrieb für „Tagesspiegel Online“ den folgenden Gastbeitrag:

Weitestgehend unbeachtet von den Augen der Weltöffentlichkeit hat sich am 5. Oktober in Atlanta Historisches ereignet. Japan, Kanada, die USA, Australien und acht weitere Anrainerstaaten des Pazifiks schlossen sich zur Trans-Pazifischen-Partnerschaft (TPP) zusammen. Nach siebenjährigem Verhandlungsmarathon steht die bislang größte Freihandelszone der Welt damit kurz vor der Vollendung. Rund 40 Prozent der Weltwirtschaft und ein Drittel des Welthandels sind künftig von TPP umfasst – Europa und seine 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger bleiben dabei außen vor.

Vor diesem Hintergrund ist umso unverständlicher, dass nur wenige Tage später zehntausende Menschen in Berlin gegen das EU-US-Freihandelsabkommen TTIP demonstrierten. TTIP ist die europäische Antwort auf TPP und soll dafür sorgen, dass Europa im globalen Wettlauf nicht den Anschluss verpasst. Als größter Markt der Welt kann sich Europa dieser Entwicklung nicht entziehen – und darf es auch nicht. Denn längst stehen wir dank globaler Wertschöpfungsketten, moderner Kommunikation und internationaler Transportmöglichkeiten mit der gesamten Welt im Wettbewerb. Handelspolitik ist dabei kein Selbstzweck: In den nächsten zehn bis 15 Jahren wird 90 Prozent der globalen Nachfrage außerhalb Europas generiert. Ein Schwerpunkt der EU-Politik muss daher sein, eben diese Märkte für europäische Unternehmen zu öffnen, Exportchancen zu verbessern und so das Wachstum auszulösen, das Europa so dringend braucht.

Gerade in Deutschland sollten wir das zu schätzen wissen, denn der inner- und außereuropäische Handel ist zu einer tragenden Säule unserer Wirtschaft geworden. Im Jahr 2014 exportieren deutsche Unternehmen Güter im Wert von 1133 Milliarden Euro – mehr als je zuvor. Jahrelang verteidigte Deutschland seinen Titel als Exportweltmeister –und wurde damit auch zum Stabilitätsanker für Europa. Doch aus dem Klassenprimus von heute kann schnell wieder der kranke Mann von morgen werden. Daher ist es höchste Zeit, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Die Verabschiedung richtungsweisender Handels- und Investitionsverträge wie TTIP verspricht Wachstum und Arbeitsplätze, ohne dass die Staatshaushalte zusätzlich belastet werden.

Natürlich verhandelt die EU nicht nur mit Nordamerika, sondern auch mit Japan, China oder Singapur. Wirtschaftsabkommen mit zahlreichen Staaten in West-, Ost- und Südafrika stehen kurz vor der Unterzeichnung. Und für das Dienstleistungsabkommen TiSA haben sich neben der EU weitere 22 WTO-Mitglieder am Verhandlungstisch eingefunden, um gemeinsame Regelungen für den Austausch von Dienstleistungen zu schaffen. Wenn die EU alle laufenden Verhandlungen auf einen Schlag erfolgreich abschließen könnte, würde dies das Bruttoinlandsprodukt um bis zu 2,2 Prozent erhöhen. Dies entspricht der Aufnahme eines Mitgliedsstaates der Größe von Österreich oder Dänemark. Zusammen genommen könnten über 2,2 Millionen neue Arbeitsplätze in Europa entstehen. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation sind solche kostenlosen Konjunkturprogramme unverzichtbar.

Doch längst geht es im internationalen Handel nicht mehr ausschließlich um Zollsätze oder Exportquoten. EU-Handelskommissarin Malmström wird an diesem Donnerstag erstmals die neue EU-Handelsstrategie vor deutschem Publikum in Berlin vorstellen. Dabei rücken neue Schlüsselbereiche wie der Austausch von Dienstleistungen, der digitale Handel, die Mobilität von Fachkräften, aber auch regulatorische Kooperation in den Vordergrund. Dadurch wird die Möglichkeit geschaffen, internationale Normen nach westlichem Vorbild zu definieren. Die hohen europäischen Standards, beispielsweise im Verbraucher-, Sozial- und Umweltschutz, sind dabei nicht Teil der Verhandlungsmasse, sondern vielmehr Maßstab für die zu vereinbarenden Normen. Drittländer, die zum Beispiel nach dem Inkrafttreten von TTIP in die größte Wirtschaftszone der Welt exportieren wollen, müssen sich an diesen Vorgaben orientieren. Nicht weniger wichtig sind Ziele wie nachhaltige Entwicklung sowie die Förderung von Menschenrechten und „good governance“, die als eigenständige Kapitel in zahlreiche EU-Handelsabkommen aufgenommen werden.

Natürlich ist die EU bei allen neuen Abkommen an die vereinbarten Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gebunden. Langfristig muss es daher auch Ziel der EU-Handelspolitik sein, wieder zum Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) zurück zu gelangen – das gilt für TTIP ebenso wie für TiSA und all die anderen Abkommen. Mit den Jahren gerieten die Verhandlungen über ein multilaterales Handelssystem zunehmend in eine Sackgasse. Zu viele Beteiligte stritten über zu viele Themen, die Interessenlagen waren undurchsichtig, die Auseinandersetzungen langwierig und zäh. Doch gemeinsame, globale Lösungen sind nach wie vor der Königsweg, da in ihnen ein einheitliches Regelwerk für die Unternehmen fixiert wird, die sich dann nicht auf zahlreiche unterschiedliche Regelsysteme einstellen müssen. Mit Spannung richtet sich daher im Dezember der Blick auch nach Nairobi, wenn die WTO-Ministerkonferenz einem erstarrten Prozess neues Leben einhauchen will.

Die liberale Überzeugung, dass freier Handel Fortschritt, Arbeitsplätze und Wachstum sichert, den Austausch der Kulturen fördert und Frieden schafft, ist aktueller denn je. Gemeinsame Handelspolitik bietet riesige Chancen für die Bürgerinnen und Bürger, für unsere Märkte und Volkswirtschaften. Und sie sorgt dafür, dass die Regeln der Globalisierung nicht nur in Peking, Neu-Delhi oder Atlanta festgelegt werden, sondern auch in Brüssel, Paris und Berlin.

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