29.08.2005FDP

KOCH-MEHRIN-Interview für die "Rhein-Zeitung"

Berlin. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Allianz der Liberalen und Demokraten in Europa (ALDE) und Vorsitzende der FDP-Gruppe im Europaparlament, DR. SILVANA KOCH-MEHRIN, gab der "Rhein-Zeitung" (Freitag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten CHRISTIAN LINDER, DIETMAR BRÜCK und URSULA SAMARY.

Frage: Den Wahlkampf empfinden Sie als nicht feurig genug, Deutschland wirkt mutlos auf Sie. Warum sind die Deutschen so verzagt? Ist daran auch Rot-Grün schuld?

KOCH-MEHRIN: Mit Rot-Grün hat sich die Entwicklung noch verstärkt, daß dem Staat immer mehr Verantwortung übertragen wurde. Für Eigenverantwortung bleibt immer weniger Raum. Deshalb sind nicht nur die von uns geforderten Reformen des Steuer- und Sozialsystems notwendig. Wir müssen auch eine neue Aufbruchstimmung für das Ziel schaffen, sein Leben selbst in die Hand nehmen zu können.

Frage: Was hat sich in den rot-grünen Jahren zum Guten, was zum Schlechten verändert?

KOCH-MEHRIN: Gesellschaftspolitisch hat sich sicher viel Positives getan, wenn ich an das Zuwanderungsgesetz oder die eingetragenen Lebenspartnerschaften denke. Es ist auch die Diskussion über die Frage stärker angestoßen worden, wie sich Karriere und Kinder besser vereinbaren lassen - für Frauen wie für Männer. Solchen Gesetzesinitiativen hat die FDP ja auch zum Großteil zugestimmt. Negativ war: Die Reform der Sozialsysteme und die steuerliche Entlastung der Menschen sind verschlafen oder nur halbherzig angepackt worden.

Frage: Muß sich Schwarz-Gelb nicht auch diesen Vorwurf machen?

KOCH-MEHRIN: Andere EU-Staaten haben bereits zur Ära Kohl diese Reformen angepackt.
Ein kleiner Partner wie die FDP hat es oft schwer, sich durchzusetzen. Klar, damals hat es auch Versäumnisse gegeben. Man hat zu oft gedacht, das starke Deutschland müsse seinen Sozialstaat nicht reformieren. Um so dringender muß jetzt gehandelt werden!

Frage: Wenn Sie die bremsenden Reaktionen der Union auf Paul Kirchhofs Steuerkonzept hören, reizt es Sie da, ihm in der FDP politisches Asyl zu gewähren?

KOCH-MEHRIN: Kirchhof steht in der Steuerpolitik für FDP-Programmatik. Deshalb ist die FDP auch seine Hausmacht!

Frage: FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt geht aber auch davon aus, daß Kirchhofs Einheitssteuersatz von 25 Prozent (Flat-Tax) sich "nicht sofort verwirklichen" läßt. Sehen Sie dies anders?

KOCH-MEHRIN: Für unser Modell mit den Steuersätzen von 15, 25 und 35 Prozent liegt eine komplette Gegenfinanzierung vor. Die fehlt für eine Flat-Tax noch. Aber wenn wir es schaffen, unser Drei-Stufen-Programm durchzusetzen, ist das auch schon ein gigantischer Schritt für eine geringere und gerechtere Steuer.

Frage: Sie wollen, daß Mütter Kind und Beruf vereinbaren können. Ist dies in Deutschland schwieriger als in anderen EU-Staaten?

KOCH-MEHRIN: Ich möchte, daß Frauen ohne schlechtes Gewissen die Möglichkeit haben, berufstätig sein zu können, wenn sie dies wollen. Andere europäische Staaten verstehen die deutsche Diskussion nicht. Das Wort von der Rabenmutter gibt es nur im Deutschen. Auffallend ist doch: Wo die Erwerbsquote von Frauen höher ist, werden auch mehr Kinder geboren. Gerade in Frankreich achtet die Politik darauf, daß die Eltern Karriere und Kinder vereinbaren können.

Frage: Welches Signal erhoffen Sie sich vom "Wechselgipfel" von Union und FDP?

KOCH-MEHRIN: Anders als 2002 haben wir eine Koalitionsaussage getroffen. Wir wollen den Wechsel mit der Union schaffen und ein klares Signal gegen eine große Koalition setzen.

Frage: Sie haben das EU-Parlament als das meist unterschätzte Parlament bezeichnet. Gilt das noch?

KOCH-MEHRIN: Die Chemikalienpolitik oder das Dienstleistungsgesetz mit ihren unglaublichen Auswirkungen auf den Standort Deutschland werden auch vom Parlament entschieden. Aber diese Diskussionen werden zu wenig wahrgenommen. Deutschland sollte wie Dänemark zu Beginn von Gesetzesvorgängen darüber im Bundestag diskutieren. Dann könnte sich deutsche und europäische Politik früher verzahnen als bisher.

Frage: Warum ist es so schwer, ein europäisches Wir-Gefühl zu entwickeln?

KOCH-MEHRIN: Das Gefühl "Wir sind Europäer" ist schon ausgeprägter als früher. Aber die EU wird nur mit Bürokratie in Brüssel gleichgesetzt. Daran müssen wir noch arbeiten.

Frage: Wann wird Europa eine gemeinsame Verfassung haben?

KOCH-MEHRIN: Wenn ein Finanzkompromiß zwischen Briten-Rabatt und Agrarsubventionsreform gelingt, könnte man sich den Verfassungsentwurf noch einmal vornehmen. Ich wünsche mir, daß die Grundrechtsfragen und die institutionellen Fragen zur Abstimmung vorgelegt und andere Fragen per Vertrag vereinbart werden. Auf einen neuen Konvent könnten wir ewig warten.

Frage: Wo steht die FDP in der Debatte um den Türkei-Beitritt?

KOCH-MEHRIN: Die Verhandlungen werden im Oktober beginnen. Aber sie müssen - anders als bei der Osterweiterung - ergebnisoffen und auch ohne jede zeitliche Einengung geführt werden. Wir müssen genau beobachten, wie sich der Zustand der EU und der der Türkei entwickelt.

Frage: Hat Schröder zu sehr auf die Achse mit Paris und Moskau gesetzt?

KOCH-MEHRIN: Auf jeden Fall. Bei der De-facto-Abschaffung des Stabilitätspaktes haben sich Deutschland und Frankreich über die kleinen Länder hinweggesetzt, die ihre Leistungen erbracht haben. Deshalb sprechen diese Länder auch von der Allianz der Arroganz. Sie hat letztlich auch das niederländische Nein zum Verfassungsentwurf provoziert.

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