FDP|
26.02.2009 - 01:00WESTERWELLE-Interview für den "Cicero"
Berlin. Der FDP-Partei- und -Fraktionsvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab dem "Cicero" (März-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte FRANK A. MEYER:
Frage: Guido Westerwelle, Sie haben vor Jahren in einem Interview gesagt: "Etwa Mitte vierzig möchte ich aussteigen, um etwas Neues zu machen." Nun sind Sie siebenundvierzig, also über das angekündigte Rücktrittsalter hinaus, es geht Ihnen prächtig, persönlich wie politisch. Wie steht es mit der Rücktrittsankündigung? Machen Sie die jetzt wahr oder ist sie obsolet?
WESTERWELLE: Ich muss über mich selbst lachen, denn das Interview habe ich vor zehn Jahren gegeben. Ich habe mir damals wahrscheinlich nicht vorstellen können, wie schnell man Mitte vierzig ist, und Sie können ganz sicher davon ausgehen, meine Arbeit macht mir sehr viel Freude. Wenn die Wähler es zulassen und meine Partei es zulässt, dann bleibe ich auch in der Politik - und zwar mit ganzer Kraft.
Frage: Aber damals haben Sie geglaubt, was Sie sagten?
WESTERWELLE: Das habe ich damals gesagt, das habe ich auch geglaubt, vielleicht war ich damals auch ein bisschen frustriert. Wenn ich mich recht erinnere, war es direkt nach der verlorenen Bundestagswahl für die FDP, 1998.
Frage: Wie sind Sie zur Politik gekommen? Durch Ihre Herkunft, durch das Milieu, in dem Sie aufgewachsen sind?
WESTERWELLE: Ich glaube, dass das ganz viele Ursachen hat. Politik im engeren Sinne habe ich natürlich erst sehr viel später entdeckt. Aber dass ich mich für das große Ganze interessiert habe, das war schon früher der Fall. Das hängt einmal mit Lehrern zusammen, die man getroffen hat. Dann hängt das damit zusammen, dass ich mit drei Brüdern groß geworden bin, das prägt natürlich auch. Einerseits lernt man da miteinander umzugehen, sich zu arrangieren, andererseits kann man sich vorstellen: Wenn vier Jungs beim alleinerziehenden Vater groß werden, lernt man auch das Kämpfen, das Durchsetzen. Also: Die Prägung in der Kindheit, in der Jugend, das hat schon etwas damit zu tun, wie ich heute bin, und ich meine damit nicht nur mein Sein als solches, sondern natürlich auch meine Arbeit als Politiker.
Frage: Sie sind in einer Patchwork-Familie aufgewachsen, und zwar in einem katholischen Umfeld. Hat Sie dieses Anderssein geprägt - evangelisch und Patchwork-Familie?
WESTERWELLE: Eindeutig: Ja. Wir reden hier über die sechziger Jahre, das darf man nicht vergessen, da war schon das Thema Scheidung ein unglaublicher Vorgang. Wir haben damals die Trennung unserer Eltern erlebt, es war keine leichte Zeit, und dann kam es eben so, dass beim Vater ein gewisses offenes Haus organisiert wurde. Es waren sehr viele Freunde da, immer auch sehr viele Verwandte und Bekannte. In meiner Erinnerung gab es kaum einen Mittag, bei dem wir alle um einen Tisch sitzen konnten: Wir mussten in zwei Schichten essen, weil zu viele da waren.
Frage: Sie lebten beim Vater - einem alleinerziehenden Vater. Sie haben mal, als man Sie nach Helden fragte, geantwortet, der alleinerziehende Vater sei Ihr Held.
WESTERWELLE: Ich habe geantwortet, dass ich alleinerziehende Eltern besonders beeindruckend finde. Aber das soll ja nicht heißen, dass das zulasten meiner Mutter geht, sondern sie haben sich eben damals getrennt. Aus verschiedenen Gründen ist damals so entschieden worden, dass wir beim Vater groß werden. Wir haben alle, meine Brüder und ich selbst auch, ein tolles Verhältnis zu unserer Mutter, einer fabelhaften Frau, die aber auch wiederum für ihre Zeit ungewöhnlich war
Frage:
weil berufstätig
WESTERWELLE:
genau, sie war eben damals schon Rechtsanwältin. Das war in dieser Zeit ungewöhnlich. Damals wurden Frauen vielleicht als Krankenschwester besonders gern gesehen, oder vielleicht als Lehrerin. Aber als Rechtsanwältin sich dann auch gegen die Männer in einer Männerdomäne durchzusetzen, das war nicht selbstverständlich.
Frage: Welche Prägung haben Sie von Ihrer Mutter?
WESTERWELLE: Das ist ganz schwer zu beantworten, das werde ich vielleicht irgendwann später mal richtig wissen, aber ich fühle mich, wenn ich so
Frage: Sie wissen es nicht, aber Sie vermuten es doch.
WESTERWELLE:
wenn ich so an meine Eltern denke, erinnere ich mich an Eigenschaften, die ich heute bei mir wiederentdecke - das ungebremste, ungestüme Temperament meines Vaters, das erkenne ich manchmal bei mir selbst und ärgere mich dann über mich. Andererseits das sehr Überlegte, sehr Abwägende, manchmal sogar Zögerliche, Kluge meiner Mutter, das entdecke ich auch gelegentlich bei mir, und manchmal ärgere ich mich auch darüber.
Frage: Das war jetzt eine schöne Hommage an Ihre Eltern. Kommt auch das Politische aus Ihrem Elternhaus?
WESTERWELLE: Nein, überhaupt nicht. Wir haben zwar viel über Politik gesprochen, aber in ganz anderem Sinne: Wir haben über Ungerechtigkeiten gesprochen, bei Gericht, in der Welt. Wir haben nicht über Parteien gesprochen oder über den Wettstreit von parteipolitischen Ideen. Wir haben mehr gesprochen über das, was unser Leben beeinflusst hat. Der Klassiker von meinem Vater war immer: mittags, wenn er vom Gericht kam, furchtbar aufgelöst, dann hat er sich hingesetzt und hat geschimpft, und dann gab es Nudelauflauf, und er hat wieder geschimpft, und dann hat er noch einmal nachgenommen und hat wieder geschimpft darüber, dass irgendein völlig ungerechter Richter einen völlig unschuldigen Mandanten, natürlich seinen eigenen, mit einer geradezu unverantwortlich hohen Strafe verurteilt hat, darüber hat er sich aufgeregt.
Frage: Das ist vielleicht auch ein Teil von Ihnen, Sie können auch ganz schön empört sein.
WESTERWELLE: Ja, das stimmt, das ist auch wieder
Frage:
vom Vater
WESTERWELLE:
das ist eindeutig so. Aber, das ist ja das Schöne, mit den Jahren, die dazukommen, kriegt man dann auch das Ungestüme besser in den Griff
Frage: Das hofft man immer.
WESTERWELLE:
jedenfalls die vergangenen zehn Jahre entdecke ich bei mir allmählich Fortschritte.
Frage: Manchmal ist das auch schade.
WESTERWELLE: Manchmal ist es aber auch gut. Je mehr man in der Öffentlichkeit steht, und je mehr Verantwortung man trägt, umso wichtiger ist es, dass man die berühmte Regel beherzigt, bei ganz großen Sachen: darüber nachdenken, darüber schlafen und dann erst entscheiden.
Frage: Sie entdeckten irgendwann, dass Sie sich mehr für Jungen interessieren als für Mädchen. War das eine große Belastung für Sie?
WESTERWELLE: Nein, das war überhaupt keine Belastung. Wir sind zu Hause zu selbstbewusst erzogen worden, als dass wir damit größere Probleme gehabt hätten. Es war bei uns zu Hause kein peinliches Thema oder irgendwie eine große Schwierigkeit, sondern, als man herausgefunden hat, dass man, was das Sexualleben angeht, eben nicht so ist wie alle anderen auf der Realschule, hat man das eher mit sich selber ausgemacht und sicherlich auch manchmal schlaflose Nächte gehabt, ich kann mich nicht mehr wirklich daran erinnern. Aber darunter habe ich, soweit ich mich zurückerinnern kann, nicht wirklich gelitten.
Frage: Hatten Sie bei Ihrer politischen Karriere nicht Befürchtungen, es könnte Sie belasten, wenn es bekannt wird?
WESTERWELLE: Nein, ich habe ja aus meinem Leben nie ein Geheimnis gemacht, ich habe es nur nicht ins Schaufenster gestellt, weil wir zu Hause auch so groß geworden sind, dass wir sagen, das Private ist privat. Die Generation vor mir, die 68er, haben ja die Idee gehabt, alles Private sei auch politisch und alles Politische auch privat. Wir sind eher so groß geworden, dass man sich nicht gehen lässt, dass man sich nicht hängen lässt, dass man ein gewisses Maß an Disziplin im Leben zeigt, und dass man sein Leben nicht verleugnet, es aber auch nicht auf dem Jahrmarkt herumträgt.
Frage: Wer hat Sie in die Politik geholt? In der Regel hat man ja Väter. Wer war das bei Ihnen?
WESTERWELLE: Bei mir war es eine ganz einfache Veranstaltung im Bundestagswahlkampf 1980: Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff in der Bonner Beethovenhalle - und mein bester Freund Werner Hümmrich und ich, wir waren da, unter den vielen Hundert, die zuhörten. Wir haben uns angeguckt und haben gesagt, so sind wir, so denken wir - leistungsbereit, andererseits aber auch leben und leben lassen, das fanden wir toll.
Frage: Aber eigentlich tritt man doch in der Jugend, wenn man sich für Politik interessiert, als Rebell an. Gab es etwas Rebellisches an Ihnen?
WESTERWELLE: Ich bin überhaupt nicht aus Rebellion in die Politik gegangen, und ich habe mich auch nicht entschieden, FDP-Mitglied zu werden aus rebellischen Motiven heraus, sondern weil ich das gut fand. Wir wussten, welche Meinung von Parteien vertreten wird, wir erlebten, wie sehr Franz Josef Strauß polarisierte, wir fanden Hans-Dietrich Genscher großartig, wir fanden übrigens auch Helmut Schmidt als Bundeskanzler sehr bewundernswert, wir erinnerten uns noch an Willy Brandt, das ist alles etwas, was wir erlebt haben. Wir wussten schon ungefähr, wo die Parteien weltanschaulich stehen, aber das hätte uns nicht dazu gebracht, in eine Partei einzutreten. Eingetreten sind wir in die Partei, weil wir es erlebt haben, dass die Repräsentanten der Liberalen so waren, wie wir es uns dachten, wie wir es für uns fühlten.
Frage: Zu Ihrem FDP-Liberalismus: Ist er ordoliberal wie Lambsdorff in seiner Zeit? Oder ist er sozialliberal? Der Wirtschaftsliberalismus wird gerade heftig diskutiert.
WESTERWELLE: Die deutsche FDP ist eine liberale Partei, und zwar ohne jede Vorsilbe, nicht ordoliberal, nicht sozialliberal, nicht wirtschaftsliberal, nicht rechtsliberal, nicht linksliberal, sondern liberal. Ich glaube: Immer wenn man eine Vorsilbe zum Wort "liberal" hinzufügt, lässt man ja wesentliche andere Facetten auch weg
Frage:
zum Beispiel bei neoliberal.
WESTERWELLE:
das werden Sie von mir auch nicht hören, allenfalls wenn ich mal
Frage: Man hat Ihnen oft Neoliberalismus unterstellt.
WESTERWELLE:
mir ist so viel schon im Leben unterstellt worden. Ich gehe auf das Wort "neoliberal" nur dann ein, wenn das Dummköpfe mal wieder völlig falsch einführen, das zeigt ja ein erstaunliches Maß an Ungebildetheit, denn wir wissen natürlich, dass das, was heute Neoliberalismus genannt wird, in Wahrheit ja auch eine ordnende Antwort war auf die Diktaturen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Frage: Sie reden nicht vom Neoliberalismus, wie er aktuell verstanden wird, als reiner Marktradikalismus. Sie reden von Eucken und Roepke und der Freiburger Schule, die auch ein sozial-philosophisches Credo hat, das ist ganz klar.
WESTERWELLE: Ich will damit nur zum Ausdruck bringen: Heute wird es uns von links, und deswegen beziehe ich mich darauf, ja immer als Kampfbegriff entgegengehalten. "Neoliberal" heiße "kalt" und "Recht des Stärkeren" und "keine persönliche Verantwortung für sein Gegenüber und seinen Nächsten" - genau das Gegenteil haben diejenigen, die damals neoliberale Schule waren, vertreten, darauf will ich ja nur hinweisen. Aber trotzdem würde ich mir eine Vorsilbe nicht zueigen machen wollen - ich bin der Überzeugung, dass das Wort "liberal" schön und aussagekräftig genug ist. Das ist die Freiheit, die wir meinen, die Freiheit nicht von der Verantwortung, sondern die Freiheit zu der Verantwortung, zur Verantwortung für sich selbst und auch für seinen Nächsten.
Frage: Wenn die nächste Regierung schwarz-gelb wird oder Jamaika oder wie die Farbkombinationen alle heißen, dann werden Sie Außenminister. Der Ursprung der europäischen Einigung ist letztlich die deutsch-französische Freundschaft. Was bedeutet Ihnen Frankreich?
WESTERWELLE: Was aus mir persönlich wird, das ist zunächst ganz gewiss das Unwichtigste für Deutschland. Viel wichtiger ist, welche Richtung die deutsche Außenpolitik nimmt. Die deutsch-französische Freundschaft, das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern dafür, dass sich ja noch unsere Eltern und Großeltern als Erzfeinde gegenüberstanden, sich gegenseitig totgeschossen haben, verfolgt haben, verachtet haben, ist es doch unfassbar schön, dass unsere Nachbarn heute unsere besten Freunde sind.
Frage: Kennen Sie Frankreich?
WESTERWELLE: Ich kenne Frankreich, und ich habe auch ein eindringliches Erlebnis mit Frankreich, das mir gezeigt hat, wie sehr Geschichte sich auch in der Volksseele abspielt. Ich habe als Vierzehn-, Fünfzehnjähriger beim Zelten in der Bretagne ein Geschäft besucht mit einem weiteren Schulfreund von mir, wir wollten was einkaufen. Wir gingen in das Geschäft rein, und eine Dame, die mir damals sehr viel älter erschien, die weigerte sich, mich zu bedienen. Ich war völlig fassungslos, ich sah natürlich strohblond und mit blauen Augen genauso aus wie ein Deutscher, und mein Französisch war und ist leider unverändert so schlecht, dass man es auch unschwer hören kann, dass ich aus Deutschland stamme. Plötzlich kam die Tochter rein, die damals in dem Alter war, wie ich es heute bin. Die Mutter ging nach hinten und weinte, und die Tochter sagte zu mir: Junge, mach dir nichts draus, gilt gar nicht dir, aber die Deutschen haben meinen Vater, ihren Mann, im Krieg umgebracht. Sie hat auch noch die grausame Art und Weise erzählt, wie es passiert ist. Und da ist mir plötzlich klar geworden, dass ich, obwohl ich 61er-Jahrgang bin, in einer Geschichte lebe, die wir alle schreiben. Und die Geschichte endet nicht mit meiner Generation. Deshalb ist es für mich ganz großartig, dass wir heute in einem Europa leben, wo kein ernst zu nehmender Mensch mehr auf die Idee kommen könnte, dass Krieg ein Mittel der Politik sei. Ich möchte, dass diese selbstverständliche Aussöhnung, diese tiefe geistige und auch emotionale Verbundenheit, die uns gelungen ist mit Frankreich, dass uns diese eines Tages auch mit den östlichen Nachbarn gelingt.
Frage: Die politische Debatte in Europa ist gegenwärtig rund um die Uhr auf Wirtschaftsfragen konzentriert. Waren Sie nicht auch, wie Liberale in großer Zahl, verführt von der Hybris der globalisierten Finanzwirtschaft? Haben Sie Anlass zur Selbstkritik?
WESTERWELLE: Ich finde nicht, dass wir heute unser Haupt mit Asche bestreuen müssen, ganz im Gegenteil. Die FDP ist ja eher dafür beschimpft worden, sie sei eine Klientel-Partei, weil sie sich so stark auf eine mittelständische Wirtschaft konzentriert hat. Wir sehen uns bestätigt darin, dass wir als einziger Anwalt der Mittelschicht gegen immer neue Belastungen, gegen immer mehr Bürokratie und für ein gerechtes Steuersystem als Mutter aller Reformen arbeiten. Ich habe jahrelang in nahezu jeder Parlamentsdebatte vorgehalten bekommen: Ihr seid eine reine Klientel-Partei, weil wir gesagt haben, die mittelständisch geprägte Wirtschaft, und das ist ja die Idee der Eigenverantwortung und der persönlichen Verantwortung auch für das eigene wirtschaftliche Handeln, sei das Überlegene und das Richtige für dieses Land, und dafür sind wir sehr oft beschimpft worden. Wir haben übrigens als FDP schon das ganze Thema "Bankenaufsicht" nicht erst in den vergangenen zwei Jahren entdeckt, da sind wir seit mehr als einem halben Jahrzehnt dran. Seitdem sagen wir: Die Bankenaufsicht muss sich ändern. Was ist das eigentlich für ein Staat, der, wie man frotzelnd sagen darf, beim Rauchverbot jeden Rauchkringel gesetzgeberisch vermessen möchte, aber gleichzeitig bei der Bankenaufsicht mit einer großen Behörde systematisch und über Jahre hinweg wegschaut. Da ist ja etwas falsch gesteuert, stimmt ja irgendetwas nicht.
Frage: Besteht nicht die Gefahr, dass in der Bürgerschaft Empörung hochkocht und unsere Gesellschaft erschüttert?
WESTERWELLE: Was Sie sagen, ist ein berechtigter Einwurf. Von mir werden Sie auch nicht diesen simplen Satz hören: Der Staat hat kein Geld. Ich bin, im Gegenteil, nach jetzt anderthalb Jahrzehnten in der Politik der Überzeugung: Der Staat hat Geld wie Heu. Das Problem ist nur, er verplempert es zu gerne in Bereichen, wo er sich heraushalten sollte. Das sage ich übrigens nicht alleine, sondern das sagt meine Partei seit vielen, vielen Jahren. Einfaches Beispiel: Wie oft haben wir uns anhören müssen, dass für bessere Schulen, für bessere Universitäten kein Geld da sei. Aber jahrzehntelang wird die westdeutsche Steinkohle subventioniert mit Milliardenbeträgen, die man sich gar nicht ausmalen kann. Das heißt also, wir haben über vierzig Jahre lang lieber das Geld, wie man so schön übertragen sagen darf, in dunklen Schächten versenkt, anstatt dass wir es in helle Köpfe investiert haben. Und wenn die Regierung heute sagt, wir müssen mehr für Bildung tun, dann heißt das nur, dass ihr die Bildung in den vergangenen Jahren nicht wichtig genug gewesen ist.
Frage: Was ist Kunst für Sie? Warum müssen Sie Kunst um sich haben?
WESTERWELLE: Das ist erst einmal Leidenschaft, es ist zugegebenermaßen manchmal auch die Eitelkeit des Sammlers, der sich darüber freut, wenn er etwas gefunden hat und es dann auch haben darf. Aber vor allen Dingen ist es das totale Kontrastprogramm zu meinem sonstigen Leben: Ich war mein Leben lang immer relativ zielstrebig, schon in der Schule. Ich war nicht immer gut, ich war oft genug auch furchtbar schlecht, aber ich wusste immer, ich muss mich schon anstrengen, wenn ich nach vorne will und wenn ich weiterkommen möchte, schon als ich von der Realschule auf das Gymnasium gewechselt habe. Die Kunst bietet mir das Kontrastprogramm: Da geht man rein, erfreut sich an den Dingen, befasst sich damit. Da gibt es keine Nützlichkeit und auch keinen Nutzen, sondern da gibt es nur das, was mich anspricht. Das gefällt mir, und ja, ich habe sogar eine Zeit lang in der Schule überlegt, ob ich mal Kunst studieren sollte. Und dann hatte ich einen guten Kunstlehrer, dem ich das offenbart habe, und der hat mir dann gesagt, Guido, dann lieber Kunstgeschichte.
Frage: Würden Sie jetzt, wie vor Jahren angekündigt, aus der Politik aussteigen, könnten Sie das ja noch tun.
WESTERWELLE: Um zu verhungern, nein, nein.
Frage: Na, Sie wären sicher nicht verhungert.
WESTERWELLE: Ich wäre nie talentiert genug gewesen, und das hat mein Kunstlehrer mir Gott sei Dank in der elften Klasse sehr robust und ohne jede Diplomatie klargemacht. Ich habe gut gemalt und auch gerne gezeichnet, aber ein Künstler wäre ich nicht geworden. Ich glaube, es war gut, dass ich Anwalt wurde, später Politiker - und heute ein bisschen Kunst sammeln darf.
Frage: Bereuen Sie es, keine Kinder zu haben?
WESTERWELLE: Ich bedaure es schon, ja.
WESTERWELLE-Interview für den "Cicero"
Berlin. Der FDP-Partei- und -Fraktionsvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab dem "Cicero" (März-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte FRANK A. MEYER:
Frage: Guido Westerwelle, Sie haben vor Jahren in einem Interview gesagt: "Etwa Mitte vierzig möchte ich aussteigen, um etwas Neues zu machen." Nun sind Sie siebenundvierzig, also über das angekündigte Rücktrittsalter hinaus, es geht Ihnen prächtig, persönlich wie politisch. Wie steht es mit der Rücktrittsankündigung? Machen Sie die jetzt wahr oder ist sie obsolet?
WESTERWELLE: Ich muss über mich selbst lachen, denn das Interview habe ich vor zehn Jahren gegeben. Ich habe mir damals wahrscheinlich nicht vorstellen können, wie schnell man Mitte vierzig ist, und Sie können ganz sicher davon ausgehen, meine Arbeit macht mir sehr viel Freude. Wenn die Wähler es zulassen und meine Partei es zulässt, dann bleibe ich auch in der Politik - und zwar mit ganzer Kraft.
Frage: Aber damals haben Sie geglaubt, was Sie sagten?
WESTERWELLE: Das habe ich damals gesagt, das habe ich auch geglaubt, vielleicht war ich damals auch ein bisschen frustriert. Wenn ich mich recht erinnere, war es direkt nach der verlorenen Bundestagswahl für die FDP, 1998.
Frage: Wie sind Sie zur Politik gekommen? Durch Ihre Herkunft, durch das Milieu, in dem Sie aufgewachsen sind?
WESTERWELLE: Ich glaube, dass das ganz viele Ursachen hat. Politik im engeren Sinne habe ich natürlich erst sehr viel später entdeckt. Aber dass ich mich für das große Ganze interessiert habe, das war schon früher der Fall. Das hängt einmal mit Lehrern zusammen, die man getroffen hat. Dann hängt das damit zusammen, dass ich mit drei Brüdern groß geworden bin, das prägt natürlich auch. Einerseits lernt man da miteinander umzugehen, sich zu arrangieren, andererseits kann man sich vorstellen: Wenn vier Jungs beim alleinerziehenden Vater groß werden, lernt man auch das Kämpfen, das Durchsetzen. Also: Die Prägung in der Kindheit, in der Jugend, das hat schon etwas damit zu tun, wie ich heute bin, und ich meine damit nicht nur mein Sein als solches, sondern natürlich auch meine Arbeit als Politiker.
Frage: Sie sind in einer Patchwork-Familie aufgewachsen, und zwar in einem katholischen Umfeld. Hat Sie dieses Anderssein geprägt - evangelisch und Patchwork-Familie?
WESTERWELLE: Eindeutig: Ja. Wir reden hier über die sechziger Jahre, das darf man nicht vergessen, da war schon das Thema Scheidung ein unglaublicher Vorgang. Wir haben damals die Trennung unserer Eltern erlebt, es war keine leichte Zeit, und dann kam es eben so, dass beim Vater ein gewisses offenes Haus organisiert wurde. Es waren sehr viele Freunde da, immer auch sehr viele Verwandte und Bekannte. In meiner Erinnerung gab es kaum einen Mittag, bei dem wir alle um einen Tisch sitzen konnten: Wir mussten in zwei Schichten essen, weil zu viele da waren.
Frage: Sie lebten beim Vater - einem alleinerziehenden Vater. Sie haben mal, als man Sie nach Helden fragte, geantwortet, der alleinerziehende Vater sei Ihr Held.
WESTERWELLE: Ich habe geantwortet, dass ich alleinerziehende Eltern besonders beeindruckend finde. Aber das soll ja nicht heißen, dass das zulasten meiner Mutter geht, sondern sie haben sich eben damals getrennt. Aus verschiedenen Gründen ist damals so entschieden worden, dass wir beim Vater groß werden. Wir haben alle, meine Brüder und ich selbst auch, ein tolles Verhältnis zu unserer Mutter, einer fabelhaften Frau, die aber auch wiederum für ihre Zeit ungewöhnlich war
Frage: weil berufstätig
WESTERWELLE: genau, sie war eben damals schon Rechtsanwältin. Das war in dieser Zeit ungewöhnlich. Damals wurden Frauen vielleicht als Krankenschwester besonders gern gesehen, oder vielleicht als Lehrerin. Aber als Rechtsanwältin sich dann auch gegen die Männer in einer Männerdomäne durchzusetzen, das war nicht selbstverständlich.
Frage: Welche Prägung haben Sie von Ihrer Mutter?
WESTERWELLE: Das ist ganz schwer zu beantworten, das werde ich vielleicht irgendwann später mal richtig wissen, aber ich fühle mich, wenn ich so
Frage: Sie wissen es nicht, aber Sie vermuten es doch.
WESTERWELLE: wenn ich so an meine Eltern denke, erinnere ich mich an Eigenschaften, die ich heute bei mir wiederentdecke - das ungebremste, ungestüme Temperament meines Vaters, das erkenne ich manchmal bei mir selbst und ärgere mich dann über mich. Andererseits das sehr Überlegte, sehr Abwägende, manchmal sogar Zögerliche, Kluge meiner Mutter, das entdecke ich auch gelegentlich bei mir, und manchmal ärgere ich mich auch darüber.
Frage: Das war jetzt eine schöne Hommage an Ihre Eltern. Kommt auch das Politische aus Ihrem Elternhaus?
WESTERWELLE: Nein, überhaupt nicht. Wir haben zwar viel über Politik gesprochen, aber in ganz anderem Sinne: Wir haben über Ungerechtigkeiten gesprochen, bei Gericht, in der Welt. Wir haben nicht über Parteien gesprochen oder über den Wettstreit von parteipolitischen Ideen. Wir haben mehr gesprochen über das, was unser Leben beeinflusst hat. Der Klassiker von meinem Vater war immer: mittags, wenn er vom Gericht kam, furchtbar aufgelöst, dann hat er sich hingesetzt und hat geschimpft, und dann gab es Nudelauflauf, und er hat wieder geschimpft, und dann hat er noch einmal nachgenommen und hat wieder geschimpft darüber, dass irgendein völlig ungerechter Richter einen völlig unschuldigen Mandanten, natürlich seinen eigenen, mit einer geradezu unverantwortlich hohen Strafe verurteilt hat, darüber hat er sich aufgeregt.
Frage: Das ist vielleicht auch ein Teil von Ihnen, Sie können auch ganz schön empört sein.
WESTERWELLE: Ja, das stimmt, das ist auch wieder
Frage: vom Vater
WESTERWELLE: das ist eindeutig so. Aber, das ist ja das Schöne, mit den Jahren, die dazukommen, kriegt man dann auch das Ungestüme besser in den Griff
Frage: Das hofft man immer.
WESTERWELLE: jedenfalls die vergangenen zehn Jahre entdecke ich bei mir allmählich Fortschritte.
Frage: Manchmal ist das auch schade.
WESTERWELLE: Manchmal ist es aber auch gut. Je mehr man in der Öffentlichkeit steht, und je mehr Verantwortung man trägt, umso wichtiger ist es, dass man die berühmte Regel beherzigt, bei ganz großen Sachen: darüber nachdenken, darüber schlafen und dann erst entscheiden.
Frage: Sie entdeckten irgendwann, dass Sie sich mehr für Jungen interessieren als für Mädchen. War das eine große Belastung für Sie?
WESTERWELLE: Nein, das war überhaupt keine Belastung. Wir sind zu Hause zu selbstbewusst erzogen worden, als dass wir damit größere Probleme gehabt hätten. Es war bei uns zu Hause kein peinliches Thema oder irgendwie eine große Schwierigkeit, sondern, als man herausgefunden hat, dass man, was das Sexualleben angeht, eben nicht so ist wie alle anderen auf der Realschule, hat man das eher mit sich selber ausgemacht und sicherlich auch manchmal schlaflose Nächte gehabt, ich kann mich nicht mehr wirklich daran erinnern. Aber darunter habe ich, soweit ich mich zurückerinnern kann, nicht wirklich gelitten.
Frage: Hatten Sie bei Ihrer politischen Karriere nicht Befürchtungen, es könnte Sie belasten, wenn es bekannt wird?
WESTERWELLE: Nein, ich habe ja aus meinem Leben nie ein Geheimnis gemacht, ich habe es nur nicht ins Schaufenster gestellt, weil wir zu Hause auch so groß geworden sind, dass wir sagen, das Private ist privat. Die Generation vor mir, die 68er, haben ja die Idee gehabt, alles Private sei auch politisch und alles Politische auch privat. Wir sind eher so groß geworden, dass man sich nicht gehen lässt, dass man sich nicht hängen lässt, dass man ein gewisses Maß an Disziplin im Leben zeigt, und dass man sein Leben nicht verleugnet, es aber auch nicht auf dem Jahrmarkt herumträgt.
Frage: Wer hat Sie in die Politik geholt? In der Regel hat man ja Väter. Wer war das bei Ihnen?
WESTERWELLE: Bei mir war es eine ganz einfache Veranstaltung im Bundestagswahlkampf 1980: Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff in der Bonner Beethovenhalle - und mein bester Freund Werner Hümmrich und ich, wir waren da, unter den vielen Hundert, die zuhörten. Wir haben uns angeguckt und haben gesagt, so sind wir, so denken wir - leistungsbereit, andererseits aber auch leben und leben lassen, das fanden wir toll.
Frage: Aber eigentlich tritt man doch in der Jugend, wenn man sich für Politik interessiert, als Rebell an. Gab es etwas Rebellisches an Ihnen?
WESTERWELLE: Ich bin überhaupt nicht aus Rebellion in die Politik gegangen, und ich habe mich auch nicht entschieden, FDP-Mitglied zu werden aus rebellischen Motiven heraus, sondern weil ich das gut fand. Wir wussten, welche Meinung von Parteien vertreten wird, wir erlebten, wie sehr Franz Josef Strauß polarisierte, wir fanden Hans-Dietrich Genscher großartig, wir fanden übrigens auch Helmut Schmidt als Bundeskanzler sehr bewundernswert, wir erinnerten uns noch an Willy Brandt, das ist alles etwas, was wir erlebt haben. Wir wussten schon ungefähr, wo die Parteien weltanschaulich stehen, aber das hätte uns nicht dazu gebracht, in eine Partei einzutreten. Eingetreten sind wir in die Partei, weil wir es erlebt haben, dass die Repräsentanten der Liberalen so waren, wie wir es uns dachten, wie wir es für uns fühlten.
Frage: Zu Ihrem FDP-Liberalismus: Ist er ordoliberal wie Lambsdorff in seiner Zeit? Oder ist er sozialliberal? Der Wirtschaftsliberalismus wird gerade heftig diskutiert.
WESTERWELLE: Die deutsche FDP ist eine liberale Partei, und zwar ohne jede Vorsilbe, nicht ordoliberal, nicht sozialliberal, nicht wirtschaftsliberal, nicht rechtsliberal, nicht linksliberal, sondern liberal. Ich glaube: Immer wenn man eine Vorsilbe zum Wort "liberal" hinzufügt, lässt man ja wesentliche andere Facetten auch weg
Frage: zum Beispiel bei neoliberal.
WESTERWELLE: das werden Sie von mir auch nicht hören, allenfalls wenn ich mal
Frage: Man hat Ihnen oft Neoliberalismus unterstellt.
WESTERWELLE: mir ist so viel schon im Leben unterstellt worden. Ich gehe auf das Wort "neoliberal" nur dann ein, wenn das Dummköpfe mal wieder völlig falsch einführen, das zeigt ja ein erstaunliches Maß an Ungebildetheit, denn wir wissen natürlich, dass das, was heute Neoliberalismus genannt wird, in Wahrheit ja auch eine ordnende Antwort war auf die Diktaturen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Frage: Sie reden nicht vom Neoliberalismus, wie er aktuell verstanden wird, als reiner Marktradikalismus. Sie reden von Eucken und Roepke und der Freiburger Schule, die auch ein sozial-philosophisches Credo hat, das ist ganz klar.
WESTERWELLE: Ich will damit nur zum Ausdruck bringen: Heute wird es uns von links, und deswegen beziehe ich mich darauf, ja immer als Kampfbegriff entgegengehalten. "Neoliberal" heiße "kalt" und "Recht des Stärkeren" und "keine persönliche Verantwortung für sein Gegenüber und seinen Nächsten" - genau das Gegenteil haben diejenigen, die damals neoliberale Schule waren, vertreten, darauf will ich ja nur hinweisen. Aber trotzdem würde ich mir eine Vorsilbe nicht zueigen machen wollen - ich bin der Überzeugung, dass das Wort "liberal" schön und aussagekräftig genug ist. Das ist die Freiheit, die wir meinen, die Freiheit nicht von der Verantwortung, sondern die Freiheit zu der Verantwortung, zur Verantwortung für sich selbst und auch für seinen Nächsten.
Frage: Wenn die nächste Regierung schwarz-gelb wird oder Jamaika oder wie die Farbkombinationen alle heißen, dann werden Sie Außenminister. Der Ursprung der europäischen Einigung ist letztlich die deutsch-französische Freundschaft. Was bedeutet Ihnen Frankreich?
WESTERWELLE: Was aus mir persönlich wird, das ist zunächst ganz gewiss das Unwichtigste für Deutschland. Viel wichtiger ist, welche Richtung die deutsche Außenpolitik nimmt. Die deutsch-französische Freundschaft, das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern dafür, dass sich ja noch unsere Eltern und Großeltern als Erzfeinde gegenüberstanden, sich gegenseitig totgeschossen haben, verfolgt haben, verachtet haben, ist es doch unfassbar schön, dass unsere Nachbarn heute unsere besten Freunde sind.
Frage: Kennen Sie Frankreich?
WESTERWELLE: Ich kenne Frankreich, und ich habe auch ein eindringliches Erlebnis mit Frankreich, das mir gezeigt hat, wie sehr Geschichte sich auch in der Volksseele abspielt. Ich habe als Vierzehn-, Fünfzehnjähriger beim Zelten in der Bretagne ein Geschäft besucht mit einem weiteren Schulfreund von mir, wir wollten was einkaufen. Wir gingen in das Geschäft rein, und eine Dame, die mir damals sehr viel älter erschien, die weigerte sich, mich zu bedienen. Ich war völlig fassungslos, ich sah natürlich strohblond und mit blauen Augen genauso aus wie ein Deutscher, und mein Französisch war und ist leider unverändert so schlecht, dass man es auch unschwer hören kann, dass ich aus Deutschland stamme. Plötzlich kam die Tochter rein, die damals in dem Alter war, wie ich es heute bin. Die Mutter ging nach hinten und weinte, und die Tochter sagte zu mir: Junge, mach dir nichts draus, gilt gar nicht dir, aber die Deutschen haben meinen Vater, ihren Mann, im Krieg umgebracht. Sie hat auch noch die grausame Art und Weise erzählt, wie es passiert ist. Und da ist mir plötzlich klar geworden, dass ich, obwohl ich 61er-Jahrgang bin, in einer Geschichte lebe, die wir alle schreiben. Und die Geschichte endet nicht mit meiner Generation. Deshalb ist es für mich ganz großartig, dass wir heute in einem Europa leben, wo kein ernst zu nehmender Mensch mehr auf die Idee kommen könnte, dass Krieg ein Mittel der Politik sei. Ich möchte, dass diese selbstverständliche Aussöhnung, diese tiefe geistige und auch emotionale Verbundenheit, die uns gelungen ist mit Frankreich, dass uns diese eines Tages auch mit den östlichen Nachbarn gelingt.
Frage: Die politische Debatte in Europa ist gegenwärtig rund um die Uhr auf Wirtschaftsfragen konzentriert. Waren Sie nicht auch, wie Liberale in großer Zahl, verführt von der Hybris der globalisierten Finanzwirtschaft? Haben Sie Anlass zur Selbstkritik?
WESTERWELLE: Ich finde nicht, dass wir heute unser Haupt mit Asche bestreuen müssen, ganz im Gegenteil. Die FDP ist ja eher dafür beschimpft worden, sie sei eine Klientel-Partei, weil sie sich so stark auf eine mittelständische Wirtschaft konzentriert hat. Wir sehen uns bestätigt darin, dass wir als einziger Anwalt der Mittelschicht gegen immer neue Belastungen, gegen immer mehr Bürokratie und für ein gerechtes Steuersystem als Mutter aller Reformen arbeiten. Ich habe jahrelang in nahezu jeder Parlamentsdebatte vorgehalten bekommen: Ihr seid eine reine Klientel-Partei, weil wir gesagt haben, die mittelständisch geprägte Wirtschaft, und das ist ja die Idee der Eigenverantwortung und der persönlichen Verantwortung auch für das eigene wirtschaftliche Handeln, sei das Überlegene und das Richtige für dieses Land, und dafür sind wir sehr oft beschimpft worden. Wir haben übrigens als FDP schon das ganze Thema "Bankenaufsicht" nicht erst in den vergangenen zwei Jahren entdeckt, da sind wir seit mehr als einem halben Jahrzehnt dran. Seitdem sagen wir: Die Bankenaufsicht muss sich ändern. Was ist das eigentlich für ein Staat, der, wie man frotzelnd sagen darf, beim Rauchverbot jeden Rauchkringel gesetzgeberisch vermessen möchte, aber gleichzeitig bei der Bankenaufsicht mit einer großen Behörde systematisch und über Jahre hinweg wegschaut. Da ist ja etwas falsch gesteuert, stimmt ja irgendetwas nicht.
Frage: Besteht nicht die Gefahr, dass in der Bürgerschaft Empörung hochkocht und unsere Gesellschaft erschüttert?
WESTERWELLE: Was Sie sagen, ist ein berechtigter Einwurf. Von mir werden Sie auch nicht diesen simplen Satz hören: Der Staat hat kein Geld. Ich bin, im Gegenteil, nach jetzt anderthalb Jahrzehnten in der Politik der Überzeugung: Der Staat hat Geld wie Heu. Das Problem ist nur, er verplempert es zu gerne in Bereichen, wo er sich heraushalten sollte. Das sage ich übrigens nicht alleine, sondern das sagt meine Partei seit vielen, vielen Jahren. Einfaches Beispiel: Wie oft haben wir uns anhören müssen, dass für bessere Schulen, für bessere Universitäten kein Geld da sei. Aber jahrzehntelang wird die westdeutsche Steinkohle subventioniert mit Milliardenbeträgen, die man sich gar nicht ausmalen kann. Das heißt also, wir haben über vierzig Jahre lang lieber das Geld, wie man so schön übertragen sagen darf, in dunklen Schächten versenkt, anstatt dass wir es in helle Köpfe investiert haben. Und wenn die Regierung heute sagt, wir müssen mehr für Bildung tun, dann heißt das nur, dass ihr die Bildung in den vergangenen Jahren nicht wichtig genug gewesen ist.
Frage: Was ist Kunst für Sie? Warum müssen Sie Kunst um sich haben?
WESTERWELLE: Das ist erst einmal Leidenschaft, es ist zugegebenermaßen manchmal auch die Eitelkeit des Sammlers, der sich darüber freut, wenn er etwas gefunden hat und es dann auch haben darf. Aber vor allen Dingen ist es das totale Kontrastprogramm zu meinem sonstigen Leben: Ich war mein Leben lang immer relativ zielstrebig, schon in der Schule. Ich war nicht immer gut, ich war oft genug auch furchtbar schlecht, aber ich wusste immer, ich muss mich schon anstrengen, wenn ich nach vorne will und wenn ich weiterkommen möchte, schon als ich von der Realschule auf das Gymnasium gewechselt habe. Die Kunst bietet mir das Kontrastprogramm: Da geht man rein, erfreut sich an den Dingen, befasst sich damit. Da gibt es keine Nützlichkeit und auch keinen Nutzen, sondern da gibt es nur das, was mich anspricht. Das gefällt mir, und ja, ich habe sogar eine Zeit lang in der Schule überlegt, ob ich mal Kunst studieren sollte. Und dann hatte ich einen guten Kunstlehrer, dem ich das offenbart habe, und der hat mir dann gesagt, Guido, dann lieber Kunstgeschichte.
Frage: Würden Sie jetzt, wie vor Jahren angekündigt, aus der Politik aussteigen, könnten Sie das ja noch tun.
WESTERWELLE: Um zu verhungern, nein, nein.
Frage: Na, Sie wären sicher nicht verhungert.
WESTERWELLE: Ich wäre nie talentiert genug gewesen, und das hat mein Kunstlehrer mir Gott sei Dank in der elften Klasse sehr robust und ohne jede Diplomatie klargemacht. Ich habe gut gemalt und auch gerne gezeichnet, aber ein Künstler wäre ich nicht geworden. Ich glaube, es war gut, dass ich Anwalt wurde, später Politiker - und heute ein bisschen Kunst sammeln darf.
Frage: Bereuen Sie es, keine Kinder zu haben?
WESTERWELLE: Ich bedaure es schon, ja.