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15.06.2023 - 14:00BUSCHMANN-Gastbeitrag: Wenn das Recht bloßes Herrschaftsinstrument ist
FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesminister der Justiz Dr. Marco Buschmann schrieb für die „FAZ“ den folgenden Gastbeitrag:
Das Deutsche Richtergesetz enthält eine wichtige Regelung. Sie besagt, dass der juristische Stoff des Studiums, so verlangt es der Text wörtlich, „in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur“ erfolgen solle. Unrecht war der zentrale Baustein der SED-Herrschaft. Diesen Unrechtskern veränderte auch die Ummäntelung mit formalen Genres wie Gesetz und Verordnung nicht. Das sollen Studentinnen und Studenten, die die Befähigung zum Richteramt erwerben wollen, lernen. Und der Staat, den die selbst ernannte Avantgarde des Proletariats errichtet hatte, war ein Unrechtsstaat – das wird man gerade angesichts des 70. Jahrestages des 17. Junis festhalten müssen.
In Berlin demonstrierten damals Zehntausende Menschen. Auch überall im Land, an mehr als 700 Orten, bricht der Aufstand aus und verbreiten sich die Forderungen: darunter freie und geheime Wahlen. Eine Million Menschen sind auf der Straße. Unter dem Druck der Bewegung werden mancherorts politische Gefangene aus den Gefängnissen entlassen.
Doch der SED-Staat schlägt zurück. Allgemeine Schießbefehle werden erteilt. Sowjetische Panzer rücken vor. Soldaten eröffnen das Feuer. Es gibt viele Tote und Schwerverletzte. An jenen Tagen und in den Wochen danach werden 10.000 Menschen festgenommen. Gerichte und Militärtribunale verhängen und vollstrecken Todesurteile und verurteilen zu Zwangsarbeit in Arbeitslagern und zu mehr als 1500 Haftstrafen. An den Aufständen beteiligte Personen werden entlassen oder degradiert.
Um den schlechten Eindruck zu verwischen, den die Geschehnisse auf die eigene Bevölkerung gemacht haben, organisiert in den Tagen danach die Regierung staatstreue Gegendemonstrationen. Der staatliche Sicherheitsapparat wird noch einmal ausgebaut. Ein Früherkennungssystem gegen oppositionelle Kräfte wird errichtet. All dies geschah vor jetzt 70 Jahren, am 17. Juni 1953 und in den Wochen danach in der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik.
Einigkeit besteht heute darin, dass die DDR kein Rechtsstaat war. Denn niemals ging es um die Rechte des einzelnen Menschen oder gesicherte Rechtspositionen, auf die sich Menschen verlassen konnten. Es ging nie um die Mäßigung von Macht durch Recht, sondern um die nackte Ausübung von Macht. Rechtliche Genres waren bloßes Herrschaftsinstrument, um die Diktatur des SED-Regimes zu festigen und auszubauen.
Juristen denken in der Dichotomie von Recht und Unrecht. Daraus folgt der Schluss, dass ein Staat, der kein Rechtsstaat war, ein Unrechtsstaat sein muss. Tertium non datur! Doch löst dieser logische Schluss bei einigen scheinbar Störgefühle aus. Es ist noch nicht lange her, dass Gregor Gysi gesagt hat: „Es stimmt eben nicht, dass, wenn man kein Rechtsstaat ist, dass man dann automatisch ein Unrechtsstaat ist.“ Aber was war die DDR dann?
Die Qualität eines Rechtsstaates, das sollen gerade junge Juristen lernen, bemisst sich nicht an Formalien allein. Natürlich ist die Form wichtig im Rechtsstaat. Aber was nützt ein Text, der sich Gesetz nennt, wenn er in beliebiger Weise verformt oder entstellt wird, um den Mächtigen zu dienen, statt nach anerkannten und transparenten Maßstäben in Unabhängigkeit ausgelegt zu werden? Recht soll Verlässlichkeit schaffen und die Macht über Menschen mäßigen. Wenn die Arbeit von Richtern nicht der Auslegung von Gesetzen, sondern der Huldigung der Mächtigen dient, dann nützen alle Genres nichts: Dann haben wir es nicht mit einem Rechtsstaat zu tun. Recht ist eben nicht nur juristisches Handwerk – und schon gar nicht ist es Gegenstand des Gutdünkens von wem auch immer. Und was nicht Recht ist, das ist eben Unrecht.
Der Staat der DDR konnte sich ohne die ständige Bereitschaft zu Gewalt gegen seine eigene Bevölkerung nicht erhalten. All die Freiheits- und Rechtsverletzungen, die Wahlfälschungen, die Todesopfer, nicht nur an der Mauer – man muss all dies eigentlich nicht mehr aufzählen. Warum zögern dann noch immer so viele, und gerade die, die in diesem System gelebt haben, es ein Unrechtssystem zu nennen?
Ein Grund dafür mag sein, dass sie das Wort als persönlichen Vorwurf nehmen. Aber das sollten sie nicht! Es ist kein Urteil über die Menschen, sondern ein Urteil über den Staat, in dem sie leben mussten. Wohlgemerkt: Das Wort ist ja nicht „Unrechtsgesellschaft“, sondern eben „Unrechtsstaat“. Nicht die Gesellschaft, soll damit gesagt sein, nicht die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger, war schuldhaft von Unrecht durchtränkt. Nein: Die Menschen, die in diesem System gelebt haben, stempelt der Begriff des Unrechtsstaates nicht als Täter ab. Im Zweifel waren sie seine Opfer.
Und natürlich gab es „Alltag in der durchherrschten Gesellschaft“. So lautet eine inzwischen gängige Kategorie in der Erforschung der DDR-Geschichte. Und natürlich gab es – wie immer in der Geschichte – sehr viel Grau abseits des moralischen Schwarz-Weiß. Richard Schröder hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Selbstverständlich gab es auch in der DDR erfülltes Leben und glückliche Tage, aber nicht wegen, sondern trotz der Diktatur.“ Das ist kein Makel der Menschen, sondern eher eine besondere Leistung: nämlich unter Bedingungen der Diktatur sein Glück zu finden, ohne seinen Anstand zu verlieren. Chapeau für all die Millionen Menschen, denen das gelungen ist!
Doch einige führen an, man müsse den Abstand zum Naziterror markieren. Dieser meist mitschwingende Vergleich ist ein weiterer Grund, warum die Debatte stets so schnell verhärtet. Doch wir wissen um die Unterschiede! Nichts ist vergleichbar mit dem Menschheitsverbrechen der Schoa! Doch nur, weil es immer noch größeres Unrecht gibt, macht das das Unrecht noch lange nicht zum Recht und den Unrechtsstaat mithin nicht zu etwas anderem, als er ist. Das Deutsche Richtergesetz spricht diesen Gedanken gelassen aus, indem es beide Formen des Unrechts nüchtern gemeinsam aufzählt: „in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur“.
Aus all dem folgt: Die DDR war ein Unrechtsstaat – am 17. Juni 1953 so sehr wie in den ersten Tagen des Novembers 1989. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben sich mutig dieses Unrechtsstaates entledigt. Ein Umstand, auf den sie stolz sein dürfen und für den sie sich den ewigen Respekt aller in der westdeutschen BRD Geborenen verdient haben.
BUSCHMANN-Gastbeitrag: Wenn das Recht bloßes Herrschaftsinstrument ist
FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesminister der Justiz Dr. Marco Buschmann schrieb für die „FAZ“ den folgenden Gastbeitrag:
Das Deutsche Richtergesetz enthält eine wichtige Regelung. Sie besagt, dass der juristische Stoff des Studiums, so verlangt es der Text wörtlich, „in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur“ erfolgen solle. Unrecht war der zentrale Baustein der SED-Herrschaft. Diesen Unrechtskern veränderte auch die Ummäntelung mit formalen Genres wie Gesetz und Verordnung nicht. Das sollen Studentinnen und Studenten, die die Befähigung zum Richteramt erwerben wollen, lernen. Und der Staat, den die selbst ernannte Avantgarde des Proletariats errichtet hatte, war ein Unrechtsstaat – das wird man gerade angesichts des 70. Jahrestages des 17. Junis festhalten müssen.
In Berlin demonstrierten damals Zehntausende Menschen. Auch überall im Land, an mehr als 700 Orten, bricht der Aufstand aus und verbreiten sich die Forderungen: darunter freie und geheime Wahlen. Eine Million Menschen sind auf der Straße. Unter dem Druck der Bewegung werden mancherorts politische Gefangene aus den Gefängnissen entlassen.
Doch der SED-Staat schlägt zurück. Allgemeine Schießbefehle werden erteilt. Sowjetische Panzer rücken vor. Soldaten eröffnen das Feuer. Es gibt viele Tote und Schwerverletzte. An jenen Tagen und in den Wochen danach werden 10.000 Menschen festgenommen. Gerichte und Militärtribunale verhängen und vollstrecken Todesurteile und verurteilen zu Zwangsarbeit in Arbeitslagern und zu mehr als 1500 Haftstrafen. An den Aufständen beteiligte Personen werden entlassen oder degradiert.
Um den schlechten Eindruck zu verwischen, den die Geschehnisse auf die eigene Bevölkerung gemacht haben, organisiert in den Tagen danach die Regierung staatstreue Gegendemonstrationen. Der staatliche Sicherheitsapparat wird noch einmal ausgebaut. Ein Früherkennungssystem gegen oppositionelle Kräfte wird errichtet. All dies geschah vor jetzt 70 Jahren, am 17. Juni 1953 und in den Wochen danach in der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik.
Einigkeit besteht heute darin, dass die DDR kein Rechtsstaat war. Denn niemals ging es um die Rechte des einzelnen Menschen oder gesicherte Rechtspositionen, auf die sich Menschen verlassen konnten. Es ging nie um die Mäßigung von Macht durch Recht, sondern um die nackte Ausübung von Macht. Rechtliche Genres waren bloßes Herrschaftsinstrument, um die Diktatur des SED-Regimes zu festigen und auszubauen.
Juristen denken in der Dichotomie von Recht und Unrecht. Daraus folgt der Schluss, dass ein Staat, der kein Rechtsstaat war, ein Unrechtsstaat sein muss. Tertium non datur! Doch löst dieser logische Schluss bei einigen scheinbar Störgefühle aus. Es ist noch nicht lange her, dass Gregor Gysi gesagt hat: „Es stimmt eben nicht, dass, wenn man kein Rechtsstaat ist, dass man dann automatisch ein Unrechtsstaat ist.“ Aber was war die DDR dann?
Die Qualität eines Rechtsstaates, das sollen gerade junge Juristen lernen, bemisst sich nicht an Formalien allein. Natürlich ist die Form wichtig im Rechtsstaat. Aber was nützt ein Text, der sich Gesetz nennt, wenn er in beliebiger Weise verformt oder entstellt wird, um den Mächtigen zu dienen, statt nach anerkannten und transparenten Maßstäben in Unabhängigkeit ausgelegt zu werden? Recht soll Verlässlichkeit schaffen und die Macht über Menschen mäßigen. Wenn die Arbeit von Richtern nicht der Auslegung von Gesetzen, sondern der Huldigung der Mächtigen dient, dann nützen alle Genres nichts: Dann haben wir es nicht mit einem Rechtsstaat zu tun. Recht ist eben nicht nur juristisches Handwerk – und schon gar nicht ist es Gegenstand des Gutdünkens von wem auch immer. Und was nicht Recht ist, das ist eben Unrecht.
Der Staat der DDR konnte sich ohne die ständige Bereitschaft zu Gewalt gegen seine eigene Bevölkerung nicht erhalten. All die Freiheits- und Rechtsverletzungen, die Wahlfälschungen, die Todesopfer, nicht nur an der Mauer – man muss all dies eigentlich nicht mehr aufzählen. Warum zögern dann noch immer so viele, und gerade die, die in diesem System gelebt haben, es ein Unrechtssystem zu nennen?
Ein Grund dafür mag sein, dass sie das Wort als persönlichen Vorwurf nehmen. Aber das sollten sie nicht! Es ist kein Urteil über die Menschen, sondern ein Urteil über den Staat, in dem sie leben mussten. Wohlgemerkt: Das Wort ist ja nicht „Unrechtsgesellschaft“, sondern eben „Unrechtsstaat“. Nicht die Gesellschaft, soll damit gesagt sein, nicht die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger, war schuldhaft von Unrecht durchtränkt. Nein: Die Menschen, die in diesem System gelebt haben, stempelt der Begriff des Unrechtsstaates nicht als Täter ab. Im Zweifel waren sie seine Opfer.
Und natürlich gab es „Alltag in der durchherrschten Gesellschaft“. So lautet eine inzwischen gängige Kategorie in der Erforschung der DDR-Geschichte. Und natürlich gab es – wie immer in der Geschichte – sehr viel Grau abseits des moralischen Schwarz-Weiß. Richard Schröder hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Selbstverständlich gab es auch in der DDR erfülltes Leben und glückliche Tage, aber nicht wegen, sondern trotz der Diktatur.“ Das ist kein Makel der Menschen, sondern eher eine besondere Leistung: nämlich unter Bedingungen der Diktatur sein Glück zu finden, ohne seinen Anstand zu verlieren. Chapeau für all die Millionen Menschen, denen das gelungen ist!
Doch einige führen an, man müsse den Abstand zum Naziterror markieren. Dieser meist mitschwingende Vergleich ist ein weiterer Grund, warum die Debatte stets so schnell verhärtet. Doch wir wissen um die Unterschiede! Nichts ist vergleichbar mit dem Menschheitsverbrechen der Schoa! Doch nur, weil es immer noch größeres Unrecht gibt, macht das das Unrecht noch lange nicht zum Recht und den Unrechtsstaat mithin nicht zu etwas anderem, als er ist. Das Deutsche Richtergesetz spricht diesen Gedanken gelassen aus, indem es beide Formen des Unrechts nüchtern gemeinsam aufzählt: „in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur“.
Aus all dem folgt: Die DDR war ein Unrechtsstaat – am 17. Juni 1953 so sehr wie in den ersten Tagen des Novembers 1989. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben sich mutig dieses Unrechtsstaates entledigt. Ein Umstand, auf den sie stolz sein dürfen und für den sie sich den ewigen Respekt aller in der westdeutschen BRD Geborenen verdient haben.