FDP|
06.12.2018 - 14:00KUBICKI-Interview: Ich höre das Gras wachsen
Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki gab der "Zeit" (aktuelle Ausgabe) folgendes Interview. Die Fragen stellte Stefan Willeke.
Frage: Herr Kubicki, gibt es im Deutschen Bundestag Verbrecher?
Wolfgang Kubicki: Nicht im juristischen Sinne, aber es gibt im Bundestag natürlich Menschen, die schon mal darüber nachgedacht haben, ein Verbrechen zu begehen.
Frage: Kennen Sie solche Abgeordneten?
Kubicki: Wenn Sie von sich selbst behaupten, Sie hätten in Ihrem ganzen Leben noch nie darüber nachgedacht, eine Straftat zu begehen, dann können wir das Gespräch beenden. Die allermeisten Menschen in meiner Umgebung haben gelegentlich Gewaltfantasien.
Frage: Sie auch?
Kubicki: Selten. Denn einen Teil meiner Aggressionen kann ich dank meiner Tätigkeit als Politiker und Rechtsanwalt legal ausleben. Aber ich treffe manchmal Leute, bei denen ich spüre, dass ich mit ihnen nicht gemeinsam in einem Raum sein will, weil ich merke, dass die mich aggressiv machen.
Frage: Wer zum Beispiel?
Kubicki: Anton Hofreiter von den Grünen. Er könnte mich zu Dingen verleiten, die ich eigentlich nicht will: ihm eine knallen zum Beispiel.
Frage: Wann haben Sie diesen Drang zuletzt verspürt?
Kubicki: Während der Sondierungsgespräche im Herbst vergangenen Jahres, als es darum ging, womöglich eine Jamaika-Koalition zu bilden. Hofreiter – und dafür kann er vielleicht nichts – ist ein Mensch, der meine Aggressionsschwelle drastisch senkt. Da ich das aber nicht will, vermeide ich es, dass wir zusammen in einem Raum sind. Ich könnte verstehen, wenn ich bei ihm ähnliche Fantasien auslöse.
Frage: Von Hofreiter heißt es, er habe zu Ihnen gesagt: „Gegen alles, was Sie, Herr Kubicki, verkörpern, habe ich mein Leben lang gekämpft.“
Kubicki: Das hat er zu mir und auch zu Christian Lindner gesagt. Und das würde er heute mit Sicherheit genauso wiederholen.
Frage: Das war eine Situation für Gewaltfantasien?
Kubicki: Ich dachte: Noch so’n Spruch – Kieferbruch. Auch wegen der Art, wie Hofreiter es gesagt hat. Er hat es überhaupt nicht freundlich gesagt. Ich kann Ihnen auch in freundlichem Ton zu verstehen geben: Sie haben einen Job, den ich zutiefst verachte. Auch darin steckt die Botschaft: Du bist ein dummes Schwein. Es klingt nur anders.
Frage: Sie wurden mal im Bundestag entwaffnet.
Kubicki: Wie bitte? Ich wurde entwaffnet?
Frage: Vor einigen Monaten mussten Sie vor dem Zimmer eines Fraktionskollegen Ihr Handy zurücklassen, damit das Gespräch auf keinen Fall abgehört werden konnte. Worum ging es?
Kubicki: Um einen Konflikt mit einem FDP-Kollegen. Er hatte die wahnsinnige Idee, der Kreml würde mich bezahlen. Ich hatte zuvor die Lockerung der EU-Sanktionen gegenüber Russland gefordert. Er glaubte offenbar, ich hätte russische Mandanten. Er wollte dann ein Sechs-Augen-Gespräch mit mir und dem Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann. Als der Kollege eintraf, bat er darum, dass alle Handys draußen bleiben, weil sonst unsere amerikanischen, russischen oder chinesischen Freunde alles mithören könnten. Das war nicht bloß übertrieben, es hatte für mich schon pathologische Züge. Während des Gesprächs sagte er dann zu mir, ich solle zugeben, dass die Russen mich bezahlen, es komme doch sowieso alles raus.
Frage: Hat er recht?
Kubicki: Ach was. Ich habe ihm ganz ruhig geantwortet: Wenn du zugibst, dass du von der CIA bezahlt wirst, können wir uns verständigen.
Frage: Sie waren, als es um die Bildung einer Jamaika-Koalition ging, als Bundesfinanzminister im Gespräch. Ihr Parteichef hat Sie mit dieser Begründung empfohlen: Wenn jemand etwas von Steuerschlupflöchern versteht, dann Wolfgang Kubicki, der viele Steuersünder verteidigt hat. Also weiß Kubicki auch, wie man die Löcher stopft.
Kubicki: Das hat Christian Lindner sogar öffentlich über mich gesagt. Und ich stimme ihm zu.
Frage: Warum sind reiche Menschen so hemmungslos, wenn sie eine Möglichkeit sehen, Steuern zu sparen?
Kubicki: Wenn Sie Steuerhinterziehung meinen, dann gibt es ein interessantes Phänomen. Die erste Welle von Geldtransfers in die Schweiz begann, als Willy Brandt Kanzler war, Anfang der Siebzigerjahre. Die Älteren fürchteten sich damals davor, dass die Russen kommen. Eine Reihe dieser Personen habe ich kennengelernt. Die sind sehr niedlich. Die fürchteten sich vor der Macht der Kommunisten. Die zweite Welle kam nach der deutschen Einheit, als viele Leute viel Geld machten, oft illegal. Dieses Geld erben heute ihre Kinder. Die Erben können sich entscheiden, ehrlich zu werden und Selbstanzeige zu erstatten, dann ist das Geld weg. Oder sie bleiben unehrlich und behalten das Geld. Diese Mandanten, auch solche aus dem öffentlichen Dienst, sitzen dann vor mir, und ich sage: „Ich kann jetzt all Ihre Unterlagen schreddern, aber ich weise Sie darauf hin: Von jetzt an sind Sie ein Krimineller.“ Das nehmen leider viele hin. Lieber kriminell als drei Millionen Euro ärmer.
Frage: Sie kennen den Konzern Volkswagen gut, seit Sie vor zehn Jahren einen der Manager verteidigt haben, die in der VW-Korruptionsaffäre um Prostituierte auf Firmenkosten und gekaufte Betriebsräte vor Gericht standen. Hat der heutige VW-Skandal um manipulierte Abgaswerte etwas mit dem damaligen Skandal gemein?
Kubicki: Beide Male saßen und sitzen im VW-Aufsichtsrat Politiker und Gewerkschafter von der SPD. Das heißt nicht, dass die SPD auch noch am Dieselskandal schuld ist. Aber es weist auf eine verhängnisvolle Philosophie hin, die lautet: „Wir sind so stark mit der Politik verwoben, dass man uns nichts mehr kann. Die Nähe und die Größe machen uns unangreifbar.“ Der damalige Justiziar von VW sagte zu mir: „Herr Kubicki, die Staatsanwaltschaft haben wir im Griff.“ Oder der damalige Chef des VW-Betriebsrates, Volkert, der erklärt hat: „Wenn ich dazu aufrufe, stehen 90.000 Leute vor dem Werk.“ Das Bewusstsein ist: Gegen uns geht gar nichts. Die Schwelle zum Rechtsbruch wird dadurch extrem niedrig.
Frage: Gibt es Menschen, die Sie niemals verteidigen würden?
Kubicki: Es gibt Taten, die ich nicht verteidige. Keine Taten von Rechtsradikalen, keine Taten von Neonazis. Und ich übernehme keine Drogendelikte, weil man damit sehr leicht in die Nähe von organisierten Strukturen geraten kann. Ich verteidige auch keine Sexualstraftäter.
Frage: Warum nicht?
Kubicki: Meine Verteidigung wäre beeinträchtigt, weil ich emotional zu sehr beteiligt wäre. Ich halte Sexualstraftäter nicht nur für kriminell, sondern für behandlungsbedürftig. Männer, die Frauen vergewaltigen, müssen im Prinzip in geschlossenen Anstalten behandelt werden.
Frage: Gibt es Verbrechen, für die Sie ein gewisses Verständnis haben?
Kubicki: Verständnis heißt ja nicht Rechtfertigung. Es gab eine Frau in Niedersachsen, die ihren Ehemann erschlagen hat, nachdem die Familie von ihm ein Leben lang gequält worden war. Die Frau sah keinen anderen Ausweg, und dann verstehe ich, dass sie sagt: Der Typ muss jetzt weg. Ein anderes Beispiel, aus dem Jahr 1981: Als Marianne Bachmeier im Gerichtssaal in Lübeck den mutmaßlichen Mörder ihres Kindes erschoss, habe ich diese Tat verstanden, auch wenn Selbstjustiz komplett gegen mein Denken verstößt.
Frage: Sind Sie mit einigen Ihrer Mandanten befreundet?
Kubicki: Mit Mandanten entwickelt sich manchmal eine Beziehung, aber keine Freundschaft. Es ist andersherum: Ich habe auch schon Freunde vertreten, die mit dem Gesetz in Konflikt kamen.
Frage: Könnten Sie mit einem Verbrecher befreundet sein?
Kubicki: Kommt drauf an. Meine Frau Annette, die Strafverteidigerin ist, und ich haben mal die Schauspielerin Ingrid van Bergen kennengelernt, die lange im Gefängnis war, nachdem sie 1977 ihren Geliebten erschossen hatte. Das Bild von ihr, das wir bis dahin nur aus der Zeitung hatten, drehte sich nach unserem Gespräch. Die Frau war mir sofort sympathisch. Daraus hat sich zwar keine Freundschaft entwickelt, aber ich finde sie auf sehr angenehme Weise interessant.
Frage: Wären Sie gern Richter geworden?
Kubicki: Ich bin sehr froh, es nicht zu sein. Ich möchte gewisse Dinge nicht entscheiden. Als Verteidiger darf ich Fakten nicht falsch präsentieren oder sie verschwinden lassen, aber ich muss keine Position beziehen. Wir verteidigen immer nur Unschuldige, weil die Schuld erst durch ein Gericht festgestellt wird. Ein Richter aber muss zu einem Urteil kommen. Ich habe Zweifel, ob ich diese Erkenntnisfähigkeit besitze. Ein Richter muss eine Position beziehen, das muss ich als Anwalt nicht. Manchmal hängt eine solche Entscheidung auch davon ab, ob Sie morgens schlecht gelaunt aufgestanden sind oder Stress mit Ihrer Frau haben. Bei mir hätte das nur zur Folge, dass ich schlecht verteidige. Passiert es einem Richter, dann kann das den Angeklagten die Existenz kosten. Deswegen war ich auch immer gegen die Todesstrafe. Dieses Urteil ist nicht reversibel. Wer hingerichtet wird, lässt sich nicht wieder zum Leben erwecken.
Frage: Gibt es berühmte Verbrecher, auf die Sie mit Bewunderung blicken? Al Capone?
Kubicki: Die Männer, die im letzten Jahr die zentnerschwere Goldmünze aus dem Bode-Museum in Berlin geklaut haben, imponieren mir, allein wegen der körperlichen Kraftanstrengung. Aber auch eine intellektuelle Leistung, alles, was mit Witz und Verstand zu tun hat, beeindruckt mich. Oder nehmen Sie den Fall der Mona Lisa, des Gemäldes, das vor mehr als hundert Jahren aus dem Louvre gestohlen wurde: sensationell. Für die britischen Posträuber der Sechzigerjahre habe ich auch eine gewisse Bewunderung. Das war sehr professionell.
Frage: Der Bankraub ist ja etwas aus der Mode gekommen.
Kubicki: Nicht unbedingt. Erst neulich ist in Berlin eine Bank durch einen Tunnel hindurch komplett ausgeraubt worden. Da sind Profis am Werk, denke ich, wenn ich so etwas lese.
Frage: Wenn es ein Museum spektakulärer Verbrechen gäbe, dann wären Sie dort bestimmt ein ständiger Besucher.
Kubicki: Glaube ich auch. Gewöhnliche Tötungsdelikte sind nicht interessant, aber alles, was schlau gemacht ist. Neulich las ich, dass ein junger Mann einer Sparkasse unechtes Gold untergejubelt hatte. Und die Bank wollte sogar noch weitere Lieferungen von ihm. Da muss ich sagen: Junge, eigentlich hast du keine Strafe verdient, sondern man sollte dich anheuern. Oder schauen Sie sich manche Hacker an: Wenn es jemandem gelingt, den amerikanischen Geheimdienst NSA zu knacken, dann sollte man ihn nicht einsperren, sondern einstellen.
Frage: In Schleswig-Holstein, Ihrer politischen Heimat, ereignete sich vor langer Zeit die Barschel-Affäre, gefolgt von der Engholm-Affäre, gefolgt von anderen politischen Skandalen. Ist Schleswig-Holstein ein besonders kriminelles Bundesland?
Kubicki: Nicht alles, was eine politische Affäre ausmacht, ist damit sofort kriminell. Schleswig-Holstein ist nicht kriminogener als andere Bundesländer. Man kann das Land schnell abriegeln. Im Süden ist die Elbe, im Norden ist Dänemark, und rechts und links sind die Ostsee und die Nordsee. Man kommt schlecht raus.
Frage: Also zieht man sich besser ins Regierungsviertel zurück, um politische Verbrechen zu begehen?
Kubicki: Das lässt sich aus der Geschichte erklären. Schleswig-Holstein war nach dem Krieg durchsetzt von Nazis, die unter falschem Namen herumliefen oder untertauchen konnten. Viele von ihnen waren auch in der Justiz und der Politik aktiv. So hielt sich lange ein System, das durch Intrigen, Unwahrheiten und schmutzige Methoden das gesellschaftliche Leben bestimmt hat. Ich bin so aufgewachsen. Ich habe das alles mitbekommen und gelernt.
Frage: Wie hat Sie das geprägt?
Kubicki: Ich bin davor gefeit, auf schmutzige Methoden anderer Leute hereinzufallen. Ich höre das Gras wachsen, bevor es eingesät wird. Ich wäre nicht 28 Jahre lang unangefochten an der Spitze der FDP dieses Bundeslandes gewesen, wenn ich diese Fähigkeiten nicht besäße. Das gilt für Ralf Stegner von der SPD genauso, auch für den Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck. Der würde es nur philosophischer ausdrücken. Jeder von uns aus Schleswig-Holstein hat eine Witterung für potenzielle Gefahren. Das gehört zu unserem politischen Handwerkszeug. Das erklärt auch meine Hassliebe zu Ralf Stegner.
Frage: Vermissen Sie ihn jetzt, da Stegner nicht mehr im selben Parlament sitzt wie Sie?
Kubicki: Er vermisst mich mehr als ich ihn.
Frage: Das würde er sicher bestreiten.
Kubicki: Ich erlebe im Bundestag ähnliche Persönlichkeiten wie Stegner, Menschen von ähnlicher rhetorischer Qualität. Aber er hat im Landtag in Kiel keine Typen mehr wie mich. Deswegen sind seine Entzugserscheinungen größer als meine. Der hat mich manchmal gereizt bis aufs Messer, aber er hat viel für unser Bundesland geleistet. Bedauerlicherweise entwickelt er sich seit einigen Jahren nicht weiter. Das wird ihm in der SPD noch zu schaffen machen.
Frage: Anfang der Neunzigerjahre waren Sie in die Affäre um die Mülldeponie Schönberg verstrickt. Ihnen wurde vorgeworfen, sich zulasten des Landes Mecklenburg-Vorpommern bereichert zu haben. Es wurde auch Ihre Verhaftung beantragt.
Kubicki: Eines Nachts, als meine Frau schon schlief, kehrte ich heim und schaltete den Fernseher ein. Auf dem Nachrichtenband der Sendung las ich: »Haftbefehl gegen Kubicki«. Das stimmte zwar nicht, weil lediglich ein solcher Antrag gestellt wurde, aber ich dachte: Jetzt ist alles zu Ende. Wenn meine Mutter das liest, fällt sie tot in der Küche um. Das Trommelfeuer rund um diese Affäre ging ja schon wochenlang, und so cool bin ich dann doch nicht, dass so etwas an mir abprallt. Ich dachte: Das hört nur auf, wenn ich nicht mehr da bin. Ich hatte in dieser Nacht vor, in die Ostsee zu gehen. Ich hatte keine Waffe, mit der ich mich hätte erschießen können, kein Gift, um mich umzubringen. Ein Strick war auch nicht da. Ich hätte auch gar nicht gewusst, wo ich mich hätte anbinden können. Also die Ostsee. Rausschwimmen, bis die Kraft nachlässt. Darüber habe ich mit mir selber diskutiert.
Frage: Diesen Plan haben Sie schnell verworfen.
Kubicki: Ich habe noch einmal sehr unruhig darüber geschlafen, dann war es auch gut. Bei Licht sieht alles anders aus als in der Dunkelheit. Aber aus dieser Nacht weiß ich, was in Jürgen Möllemann vorging.
Frage: Möllemann war Ihr Freund. Er war eine Weile der Leitwolf der FDP und brachte sich im Jahr 2003 bei einem Fallschirmsprung um. Haben Sie noch seinen Brief, den er bei Ihnen hinterlegte – für den Fall, dass ihm was passiert?
Kubicki: Natürlich. Es stand nicht viel drin. Zwei belanglose Kontoauszüge steckten in dem Umschlag, außerdem ein Brief mit der Bitte, dass ich mich um seine Familie kümmern möge. Und die Mitteilung, dass ihm eine bestimmte Person noch eine Million Euro schulde. Dieses Geld sollte ich eintreiben.
Frage: Wer ist diese Person? Ein Politiker?
Kubicki: Dazu will ich nichts sagen. Kein Politiker.
Frage: Ein Geschäftsmann?
Kubicki: Ein Geschäftsmann, ja. Möllemann hatte viele Verträge mit deutschen Konzernen, für die er im arabischen Raum Geschäfte anbahnte. Es ging um Provisionen, falls bestimmte Projekte zustande kamen, um große Geldsummen, um U-Bahnen, Raffinerien und so weiter. Aus einem dieser verschiedenen Projekte wären wohl Zahlungen fällig geworden.
Frage: Haben Sie versucht, die Million abzuholen?
Kubicki: Ja, aber ohne Erfolg. Möllemann hatte mir keine Belege hinterlassen. Dieser Umschlag war nichts wert. Es gab nicht einmal Unterlagen, um die Erbschaft zu regeln, keine Mitteilung an die Ehefrau, gar nichts von Bedeutung. Und ich dachte: Jürgen, was bist du für ein Eierarsch. Du lässt uns alle ratlos zurück.
KUBICKI-Interview: Ich höre das Gras wachsen
Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki gab der "Zeit" (aktuelle Ausgabe) folgendes Interview. Die Fragen stellte Stefan Willeke.
Frage: Herr Kubicki, gibt es im Deutschen Bundestag Verbrecher?
Wolfgang Kubicki: Nicht im juristischen Sinne, aber es gibt im Bundestag natürlich Menschen, die schon mal darüber nachgedacht haben, ein Verbrechen zu begehen.
Frage: Kennen Sie solche Abgeordneten?
Kubicki: Wenn Sie von sich selbst behaupten, Sie hätten in Ihrem ganzen Leben noch nie darüber nachgedacht, eine Straftat zu begehen, dann können wir das Gespräch beenden. Die allermeisten Menschen in meiner Umgebung haben gelegentlich Gewaltfantasien.
Frage: Sie auch?
Kubicki: Selten. Denn einen Teil meiner Aggressionen kann ich dank meiner Tätigkeit als Politiker und Rechtsanwalt legal ausleben. Aber ich treffe manchmal Leute, bei denen ich spüre, dass ich mit ihnen nicht gemeinsam in einem Raum sein will, weil ich merke, dass die mich aggressiv machen.
Frage: Wer zum Beispiel?
Kubicki: Anton Hofreiter von den Grünen. Er könnte mich zu Dingen verleiten, die ich eigentlich nicht will: ihm eine knallen zum Beispiel.
Frage: Wann haben Sie diesen Drang zuletzt verspürt?
Kubicki: Während der Sondierungsgespräche im Herbst vergangenen Jahres, als es darum ging, womöglich eine Jamaika-Koalition zu bilden. Hofreiter – und dafür kann er vielleicht nichts – ist ein Mensch, der meine Aggressionsschwelle drastisch senkt. Da ich das aber nicht will, vermeide ich es, dass wir zusammen in einem Raum sind. Ich könnte verstehen, wenn ich bei ihm ähnliche Fantasien auslöse.
Frage: Von Hofreiter heißt es, er habe zu Ihnen gesagt: „Gegen alles, was Sie, Herr Kubicki, verkörpern, habe ich mein Leben lang gekämpft.“
Kubicki: Das hat er zu mir und auch zu Christian Lindner gesagt. Und das würde er heute mit Sicherheit genauso wiederholen.
Frage: Das war eine Situation für Gewaltfantasien?
Kubicki: Ich dachte: Noch so’n Spruch – Kieferbruch. Auch wegen der Art, wie Hofreiter es gesagt hat. Er hat es überhaupt nicht freundlich gesagt. Ich kann Ihnen auch in freundlichem Ton zu verstehen geben: Sie haben einen Job, den ich zutiefst verachte. Auch darin steckt die Botschaft: Du bist ein dummes Schwein. Es klingt nur anders.
Frage: Sie wurden mal im Bundestag entwaffnet.
Kubicki: Wie bitte? Ich wurde entwaffnet?
Frage: Vor einigen Monaten mussten Sie vor dem Zimmer eines Fraktionskollegen Ihr Handy zurücklassen, damit das Gespräch auf keinen Fall abgehört werden konnte. Worum ging es?
Kubicki: Um einen Konflikt mit einem FDP-Kollegen. Er hatte die wahnsinnige Idee, der Kreml würde mich bezahlen. Ich hatte zuvor die Lockerung der EU-Sanktionen gegenüber Russland gefordert. Er glaubte offenbar, ich hätte russische Mandanten. Er wollte dann ein Sechs-Augen-Gespräch mit mir und dem Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann. Als der Kollege eintraf, bat er darum, dass alle Handys draußen bleiben, weil sonst unsere amerikanischen, russischen oder chinesischen Freunde alles mithören könnten. Das war nicht bloß übertrieben, es hatte für mich schon pathologische Züge. Während des Gesprächs sagte er dann zu mir, ich solle zugeben, dass die Russen mich bezahlen, es komme doch sowieso alles raus.
Frage: Hat er recht?
Kubicki: Ach was. Ich habe ihm ganz ruhig geantwortet: Wenn du zugibst, dass du von der CIA bezahlt wirst, können wir uns verständigen.
Frage: Sie waren, als es um die Bildung einer Jamaika-Koalition ging, als Bundesfinanzminister im Gespräch. Ihr Parteichef hat Sie mit dieser Begründung empfohlen: Wenn jemand etwas von Steuerschlupflöchern versteht, dann Wolfgang Kubicki, der viele Steuersünder verteidigt hat. Also weiß Kubicki auch, wie man die Löcher stopft.
Kubicki: Das hat Christian Lindner sogar öffentlich über mich gesagt. Und ich stimme ihm zu.
Frage: Warum sind reiche Menschen so hemmungslos, wenn sie eine Möglichkeit sehen, Steuern zu sparen?
Kubicki: Wenn Sie Steuerhinterziehung meinen, dann gibt es ein interessantes Phänomen. Die erste Welle von Geldtransfers in die Schweiz begann, als Willy Brandt Kanzler war, Anfang der Siebzigerjahre. Die Älteren fürchteten sich damals davor, dass die Russen kommen. Eine Reihe dieser Personen habe ich kennengelernt. Die sind sehr niedlich. Die fürchteten sich vor der Macht der Kommunisten. Die zweite Welle kam nach der deutschen Einheit, als viele Leute viel Geld machten, oft illegal. Dieses Geld erben heute ihre Kinder. Die Erben können sich entscheiden, ehrlich zu werden und Selbstanzeige zu erstatten, dann ist das Geld weg. Oder sie bleiben unehrlich und behalten das Geld. Diese Mandanten, auch solche aus dem öffentlichen Dienst, sitzen dann vor mir, und ich sage: „Ich kann jetzt all Ihre Unterlagen schreddern, aber ich weise Sie darauf hin: Von jetzt an sind Sie ein Krimineller.“ Das nehmen leider viele hin. Lieber kriminell als drei Millionen Euro ärmer.
Frage: Sie kennen den Konzern Volkswagen gut, seit Sie vor zehn Jahren einen der Manager verteidigt haben, die in der VW-Korruptionsaffäre um Prostituierte auf Firmenkosten und gekaufte Betriebsräte vor Gericht standen. Hat der heutige VW-Skandal um manipulierte Abgaswerte etwas mit dem damaligen Skandal gemein?
Kubicki: Beide Male saßen und sitzen im VW-Aufsichtsrat Politiker und Gewerkschafter von der SPD. Das heißt nicht, dass die SPD auch noch am Dieselskandal schuld ist. Aber es weist auf eine verhängnisvolle Philosophie hin, die lautet: „Wir sind so stark mit der Politik verwoben, dass man uns nichts mehr kann. Die Nähe und die Größe machen uns unangreifbar.“ Der damalige Justiziar von VW sagte zu mir: „Herr Kubicki, die Staatsanwaltschaft haben wir im Griff.“ Oder der damalige Chef des VW-Betriebsrates, Volkert, der erklärt hat: „Wenn ich dazu aufrufe, stehen 90.000 Leute vor dem Werk.“ Das Bewusstsein ist: Gegen uns geht gar nichts. Die Schwelle zum Rechtsbruch wird dadurch extrem niedrig.
Frage: Gibt es Menschen, die Sie niemals verteidigen würden?
Kubicki: Es gibt Taten, die ich nicht verteidige. Keine Taten von Rechtsradikalen, keine Taten von Neonazis. Und ich übernehme keine Drogendelikte, weil man damit sehr leicht in die Nähe von organisierten Strukturen geraten kann. Ich verteidige auch keine Sexualstraftäter.
Frage: Warum nicht?
Kubicki: Meine Verteidigung wäre beeinträchtigt, weil ich emotional zu sehr beteiligt wäre. Ich halte Sexualstraftäter nicht nur für kriminell, sondern für behandlungsbedürftig. Männer, die Frauen vergewaltigen, müssen im Prinzip in geschlossenen Anstalten behandelt werden.
Frage: Gibt es Verbrechen, für die Sie ein gewisses Verständnis haben?
Kubicki: Verständnis heißt ja nicht Rechtfertigung. Es gab eine Frau in Niedersachsen, die ihren Ehemann erschlagen hat, nachdem die Familie von ihm ein Leben lang gequält worden war. Die Frau sah keinen anderen Ausweg, und dann verstehe ich, dass sie sagt: Der Typ muss jetzt weg. Ein anderes Beispiel, aus dem Jahr 1981: Als Marianne Bachmeier im Gerichtssaal in Lübeck den mutmaßlichen Mörder ihres Kindes erschoss, habe ich diese Tat verstanden, auch wenn Selbstjustiz komplett gegen mein Denken verstößt.
Frage: Sind Sie mit einigen Ihrer Mandanten befreundet?
Kubicki: Mit Mandanten entwickelt sich manchmal eine Beziehung, aber keine Freundschaft. Es ist andersherum: Ich habe auch schon Freunde vertreten, die mit dem Gesetz in Konflikt kamen.
Frage: Könnten Sie mit einem Verbrecher befreundet sein?
Kubicki: Kommt drauf an. Meine Frau Annette, die Strafverteidigerin ist, und ich haben mal die Schauspielerin Ingrid van Bergen kennengelernt, die lange im Gefängnis war, nachdem sie 1977 ihren Geliebten erschossen hatte. Das Bild von ihr, das wir bis dahin nur aus der Zeitung hatten, drehte sich nach unserem Gespräch. Die Frau war mir sofort sympathisch. Daraus hat sich zwar keine Freundschaft entwickelt, aber ich finde sie auf sehr angenehme Weise interessant.
Frage: Wären Sie gern Richter geworden?
Kubicki: Ich bin sehr froh, es nicht zu sein. Ich möchte gewisse Dinge nicht entscheiden. Als Verteidiger darf ich Fakten nicht falsch präsentieren oder sie verschwinden lassen, aber ich muss keine Position beziehen. Wir verteidigen immer nur Unschuldige, weil die Schuld erst durch ein Gericht festgestellt wird. Ein Richter aber muss zu einem Urteil kommen. Ich habe Zweifel, ob ich diese Erkenntnisfähigkeit besitze. Ein Richter muss eine Position beziehen, das muss ich als Anwalt nicht. Manchmal hängt eine solche Entscheidung auch davon ab, ob Sie morgens schlecht gelaunt aufgestanden sind oder Stress mit Ihrer Frau haben. Bei mir hätte das nur zur Folge, dass ich schlecht verteidige. Passiert es einem Richter, dann kann das den Angeklagten die Existenz kosten. Deswegen war ich auch immer gegen die Todesstrafe. Dieses Urteil ist nicht reversibel. Wer hingerichtet wird, lässt sich nicht wieder zum Leben erwecken.
Frage: Gibt es berühmte Verbrecher, auf die Sie mit Bewunderung blicken? Al Capone?
Kubicki: Die Männer, die im letzten Jahr die zentnerschwere Goldmünze aus dem Bode-Museum in Berlin geklaut haben, imponieren mir, allein wegen der körperlichen Kraftanstrengung. Aber auch eine intellektuelle Leistung, alles, was mit Witz und Verstand zu tun hat, beeindruckt mich. Oder nehmen Sie den Fall der Mona Lisa, des Gemäldes, das vor mehr als hundert Jahren aus dem Louvre gestohlen wurde: sensationell. Für die britischen Posträuber der Sechzigerjahre habe ich auch eine gewisse Bewunderung. Das war sehr professionell.
Frage: Der Bankraub ist ja etwas aus der Mode gekommen.
Kubicki: Nicht unbedingt. Erst neulich ist in Berlin eine Bank durch einen Tunnel hindurch komplett ausgeraubt worden. Da sind Profis am Werk, denke ich, wenn ich so etwas lese.
Frage: Wenn es ein Museum spektakulärer Verbrechen gäbe, dann wären Sie dort bestimmt ein ständiger Besucher.
Kubicki: Glaube ich auch. Gewöhnliche Tötungsdelikte sind nicht interessant, aber alles, was schlau gemacht ist. Neulich las ich, dass ein junger Mann einer Sparkasse unechtes Gold untergejubelt hatte. Und die Bank wollte sogar noch weitere Lieferungen von ihm. Da muss ich sagen: Junge, eigentlich hast du keine Strafe verdient, sondern man sollte dich anheuern. Oder schauen Sie sich manche Hacker an: Wenn es jemandem gelingt, den amerikanischen Geheimdienst NSA zu knacken, dann sollte man ihn nicht einsperren, sondern einstellen.
Frage: In Schleswig-Holstein, Ihrer politischen Heimat, ereignete sich vor langer Zeit die Barschel-Affäre, gefolgt von der Engholm-Affäre, gefolgt von anderen politischen Skandalen. Ist Schleswig-Holstein ein besonders kriminelles Bundesland?
Kubicki: Nicht alles, was eine politische Affäre ausmacht, ist damit sofort kriminell. Schleswig-Holstein ist nicht kriminogener als andere Bundesländer. Man kann das Land schnell abriegeln. Im Süden ist die Elbe, im Norden ist Dänemark, und rechts und links sind die Ostsee und die Nordsee. Man kommt schlecht raus.
Frage: Also zieht man sich besser ins Regierungsviertel zurück, um politische Verbrechen zu begehen?
Kubicki: Das lässt sich aus der Geschichte erklären. Schleswig-Holstein war nach dem Krieg durchsetzt von Nazis, die unter falschem Namen herumliefen oder untertauchen konnten. Viele von ihnen waren auch in der Justiz und der Politik aktiv. So hielt sich lange ein System, das durch Intrigen, Unwahrheiten und schmutzige Methoden das gesellschaftliche Leben bestimmt hat. Ich bin so aufgewachsen. Ich habe das alles mitbekommen und gelernt.
Frage: Wie hat Sie das geprägt?
Kubicki: Ich bin davor gefeit, auf schmutzige Methoden anderer Leute hereinzufallen. Ich höre das Gras wachsen, bevor es eingesät wird. Ich wäre nicht 28 Jahre lang unangefochten an der Spitze der FDP dieses Bundeslandes gewesen, wenn ich diese Fähigkeiten nicht besäße. Das gilt für Ralf Stegner von der SPD genauso, auch für den Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck. Der würde es nur philosophischer ausdrücken. Jeder von uns aus Schleswig-Holstein hat eine Witterung für potenzielle Gefahren. Das gehört zu unserem politischen Handwerkszeug. Das erklärt auch meine Hassliebe zu Ralf Stegner.
Frage: Vermissen Sie ihn jetzt, da Stegner nicht mehr im selben Parlament sitzt wie Sie?
Kubicki: Er vermisst mich mehr als ich ihn.
Frage: Das würde er sicher bestreiten.
Kubicki: Ich erlebe im Bundestag ähnliche Persönlichkeiten wie Stegner, Menschen von ähnlicher rhetorischer Qualität. Aber er hat im Landtag in Kiel keine Typen mehr wie mich. Deswegen sind seine Entzugserscheinungen größer als meine. Der hat mich manchmal gereizt bis aufs Messer, aber er hat viel für unser Bundesland geleistet. Bedauerlicherweise entwickelt er sich seit einigen Jahren nicht weiter. Das wird ihm in der SPD noch zu schaffen machen.
Frage: Anfang der Neunzigerjahre waren Sie in die Affäre um die Mülldeponie Schönberg verstrickt. Ihnen wurde vorgeworfen, sich zulasten des Landes Mecklenburg-Vorpommern bereichert zu haben. Es wurde auch Ihre Verhaftung beantragt.
Kubicki: Eines Nachts, als meine Frau schon schlief, kehrte ich heim und schaltete den Fernseher ein. Auf dem Nachrichtenband der Sendung las ich: »Haftbefehl gegen Kubicki«. Das stimmte zwar nicht, weil lediglich ein solcher Antrag gestellt wurde, aber ich dachte: Jetzt ist alles zu Ende. Wenn meine Mutter das liest, fällt sie tot in der Küche um. Das Trommelfeuer rund um diese Affäre ging ja schon wochenlang, und so cool bin ich dann doch nicht, dass so etwas an mir abprallt. Ich dachte: Das hört nur auf, wenn ich nicht mehr da bin. Ich hatte in dieser Nacht vor, in die Ostsee zu gehen. Ich hatte keine Waffe, mit der ich mich hätte erschießen können, kein Gift, um mich umzubringen. Ein Strick war auch nicht da. Ich hätte auch gar nicht gewusst, wo ich mich hätte anbinden können. Also die Ostsee. Rausschwimmen, bis die Kraft nachlässt. Darüber habe ich mit mir selber diskutiert.
Frage: Diesen Plan haben Sie schnell verworfen.
Kubicki: Ich habe noch einmal sehr unruhig darüber geschlafen, dann war es auch gut. Bei Licht sieht alles anders aus als in der Dunkelheit. Aber aus dieser Nacht weiß ich, was in Jürgen Möllemann vorging.
Frage: Möllemann war Ihr Freund. Er war eine Weile der Leitwolf der FDP und brachte sich im Jahr 2003 bei einem Fallschirmsprung um. Haben Sie noch seinen Brief, den er bei Ihnen hinterlegte – für den Fall, dass ihm was passiert?
Kubicki: Natürlich. Es stand nicht viel drin. Zwei belanglose Kontoauszüge steckten in dem Umschlag, außerdem ein Brief mit der Bitte, dass ich mich um seine Familie kümmern möge. Und die Mitteilung, dass ihm eine bestimmte Person noch eine Million Euro schulde. Dieses Geld sollte ich eintreiben.
Frage: Wer ist diese Person? Ein Politiker?
Kubicki: Dazu will ich nichts sagen. Kein Politiker.
Frage: Ein Geschäftsmann?
Kubicki: Ein Geschäftsmann, ja. Möllemann hatte viele Verträge mit deutschen Konzernen, für die er im arabischen Raum Geschäfte anbahnte. Es ging um Provisionen, falls bestimmte Projekte zustande kamen, um große Geldsummen, um U-Bahnen, Raffinerien und so weiter. Aus einem dieser verschiedenen Projekte wären wohl Zahlungen fällig geworden.
Frage: Haben Sie versucht, die Million abzuholen?
Kubicki: Ja, aber ohne Erfolg. Möllemann hatte mir keine Belege hinterlassen. Dieser Umschlag war nichts wert. Es gab nicht einmal Unterlagen, um die Erbschaft zu regeln, keine Mitteilung an die Ehefrau, gar nichts von Bedeutung. Und ich dachte: Jürgen, was bist du für ein Eierarsch. Du lässt uns alle ratlos zurück.