FDP|
22.09.2018 - 19:30BEER-Gastbeitrag: Wachsender Antisemitismus in Deutschland – Bund und Länder sind nun gefordert
Die FDP-Generalsekretärin Nicola Beer schrieb für das "Handelsblatt" den folgenden Gastbeitrag:
Ein 14-jähriger Schüler wurde an einer Schule in Berlin monatelang beleidigt und verprügelt. Mitschüler nahmen ihn in den Schwitzkasten, schnürten ihm die Luft ab, richteten eine Spielzeugpistole auf ihn und beschossen ihn mit Plastikteilen. Nicht einmal, sondern ständig.
Nach diesen Vorfällen verließ der Junge traumatisiert die Schule. Der Grund für die monatelangen Quälereien: Er ist jüdischen Glaubens. Die Schulleitung wusste um die aus Judenhass motivierten Misshandlungen des Kindes, griff aber nicht ein, um die Qualen des ihr anvertrauten Schülers zu beenden.
Die Schule, an der das passierte, ist seit 2016 Teil des Netzwerks „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Sie lesen richtig: Courage? Die hat in diesem Fall niemand gezeigt bis auf den Jungen und seine Eltern, die den Mut hatten, in die Öffentlichkeit zu gehen. Nachdem sie erkennen mussten, dass die Schulleitung ihnen nicht helfen wird, suchten sie für ihr Kind eine andere Schule.
Die Öffentlichkeit war erschüttert, empört, es entbrannte eine Diskussion über Judenhass an Schulen. Immerhin. Doch derartige Vorfälle nahmen in den letzten Jahren an Anzahl und Brutalität zu. Judenfeindliches Mobbing an nichtjüdischen Schulen ist leider alles andere als ein Einzelfall oder eine Ausnahme.
Latent antijüdische Bemerkungen von Mitschülern wie „Du siehst ja gar nicht jüdisch aus“ oder „Deine Eltern sind bestimmt reich“ sind zwar relativ harmlos, zeigen jüdischen Schülern jedoch, dass sie nicht so ganz dazugehören, lassen sie Stigmatisierung empfinden.
Der israelbezogene Antisemitismus macht vor den Schultoren ebenfalls nicht halt. So wie Juden überall mit dem sogenannten neuen oder auch politischen Antisemitismus konfrontiert werden, ergeht es auch jüdischen Schülern insbesondere in höheren Klassenstufen: Jugendliche sollen sich für die Politik Israels rechtfertigen müssen. Oder werden wegen der Politik eines Staates angegriffen – nicht nur verbal –, in dem sie nicht leben, und dessen Bürger sie gar nicht sind.
Antijüdische Ressentiments gibt es in allen gesellschaftlichen Gruppen und damit auch unter Lehrern. Dass jüdische Schüler von ihnen aufgefordert werden, Stellung zur Politik Israels zu beziehen, ist leider keine traurige Ausnahme, sondern kommt immer wieder vor.
Sind denn alle Deutschen für die Politik der Bundesregierung verantwortlich und müssen sie rechtfertigen, selbst wenn sie sie nicht gewählt haben? Sind Muslime in Deutschland für elementare Menschenrechte verletzendes Unrecht in ihren Heimatländern verantwortlich, vor dem sie teilweise geflohen sind?
Judenfeindliche Vorfälle unter Schülern werden viel zu oft als übliche Rangeleien unter Pubertierenden abgetan und damit bagatellisiert. Gemobbte jüdische Schüler und deren Eltern werden von den Klassenkameraden, den Lehrkräften und der Schulleitung zu häufig im Stich gelassen, erfahren keine Unterstützung.
Erst vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass ein Neuntklässler an einer deutsch-amerikanischen Berliner Schule monatelang rassistischen antijüdischen Attacken ausgesetzt war. Auch hier ignorierte die Schulleitung die Vorfälle viel zu lange, schritt nicht wirkungsvoll ein. Es ist zu oft das gleiche Muster.
Aufklärung und Einschreiten erfolgen erst, wenn es den Druck von außen auf die Schulen gibt. Häufig meinen Eltern, aus guten Gründen übrigens, ihrem Kind die öffentliche Erörterung von Rassismus gegenüber Juden nicht zumuten zu können und nehmen stattdessen ihre Kinder leise von der Schule.
Recht muss Unrecht weichen? Immer mehr jüdische Eltern raten ihren Kindern, um sie zu schützen, sich nicht als Jüdin oder Jude zu „outen“. Wohin führt das, wenn es jeder tut? Das Tragen einer Kippa muss an jedem Ort in Deutschland Normalität sein können. Deshalb bedarf es solidarischen Verhaltens auch der Nicht-Betroffenen, wenn Durchsetzung und Dominanz rassistischen Gedankenguts nicht Platz greifen soll.
Es ist mehr als ein Jahr vergangen, seitdem judenfeindliche Vorfälle an der Schule in Berlin-Friedenau öffentlich wurden. Konkret geändert hat sich seitdem für die Betroffenen kaum etwas. Die Bundesregierung hat inzwischen einen Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland und gegen Antisemitismus eingesetzt. Ist dies ein ausreichend starkes Signal in die Gesellschaft, dass wir in Deutschland keinen Judenhass dulden?
Dass wir nicht wie in Frankreich in den letzten Jahren die Auswanderung tausender jüdischer Familien erleben wollen, weil sie sich dort nicht mehr sicher fühlten? Sonntagsreden allein helfen nicht gegen Antisemitismus. Taten müssen folgen.
Die Regierung muss mehr gegen Antisemitismus unternehmen, sie ist hier in der Verantwortung. Wir erleben, dass immer mehr Tabus fallen durch rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppierungen, die es sogar in Parlamente geschafft haben. Dass islamistischer Extremismus mit wütendem Antisemitismus und antiliberalen Einstellungen immer mehr Menschen beeinflusst bis hin zu unvorstellbarer Radikalisierung.
Der Kampf gegen antijüdischen Rassismus ist immer auch ein Eintreten für unsere freiheitliche Demokratie. Wir als Bürger, als Schulleitung, als Lehrer, als Mitschüler und als Eltern von Mitschülern - jeder einzelne von uns ist gefragt, sich antijüdischem Verhalten entgegen zu stellen. Nicht länger wegsehen. Nicht länger bagatellisieren. Das hat der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung deutlich zu machen. Bundesweit. Zügig.
Er plant, bis Ende 2018 in allen großen Städten Anlaufstellen zur Meldung antisemitischer Taten zu installieren. Dies ist dringend erforderlich, und hierfür hat er meine volle Unterstützung. Aber das reicht nicht, um ungestörten Schulbesuch wieder für alle Schüler sicherzustellen, gerade auch der jüdischen. Gerade wegen der gesellschaftspolitischen, illiberalen Entwicklungen in unserer Gesellschaft müssen Lehrerinnen und Lehrer geschult werden, wie sie antijüdische Ressentiments erkennen und vermeiden.
Für Inhalte der Aus- und Weiterbildung von Lehrern sind die Bundesländer verantwortlich. Kultusministerkonferenz und Länder müssen dafür sorgen, dass Lehrer so sensibilisiert werden, dass Antisemitismus in unseren Schulen keinen Raum mehr findet. Dass sie das notwendige Handwerkszeug mitbekommen, wirksam gegen Antisemitismus an ihren Schulen vorzugehen. Judenfeindliches Mobbing muss konsequent geahndet werden.
Nicht die Opfer haben die Schulen zu verlassen, sondern die Täter. Konsequent und ohne Wenn und Aber. Denn Judenhass darf in unserer Gesellschaft und auch an deutschen Schulen keinen Platz haben. Wohlgemerkt: Es ist eine gemeinsame Verantwortung, wahrgenommen sowohl durch staatliches Handeln als auch unser couragiertes Verhalten als Bürger dieses Landes.
BEER-Gastbeitrag: Wachsender Antisemitismus in Deutschland – Bund und Länder sind nun gefordert
Die FDP-Generalsekretärin Nicola Beer schrieb für das "Handelsblatt" den folgenden Gastbeitrag:
Ein 14-jähriger Schüler wurde an einer Schule in Berlin monatelang beleidigt und verprügelt. Mitschüler nahmen ihn in den Schwitzkasten, schnürten ihm die Luft ab, richteten eine Spielzeugpistole auf ihn und beschossen ihn mit Plastikteilen. Nicht einmal, sondern ständig.
Nach diesen Vorfällen verließ der Junge traumatisiert die Schule. Der Grund für die monatelangen Quälereien: Er ist jüdischen Glaubens. Die Schulleitung wusste um die aus Judenhass motivierten Misshandlungen des Kindes, griff aber nicht ein, um die Qualen des ihr anvertrauten Schülers zu beenden.
Die Schule, an der das passierte, ist seit 2016 Teil des Netzwerks „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Sie lesen richtig: Courage? Die hat in diesem Fall niemand gezeigt bis auf den Jungen und seine Eltern, die den Mut hatten, in die Öffentlichkeit zu gehen. Nachdem sie erkennen mussten, dass die Schulleitung ihnen nicht helfen wird, suchten sie für ihr Kind eine andere Schule.
Die Öffentlichkeit war erschüttert, empört, es entbrannte eine Diskussion über Judenhass an Schulen. Immerhin. Doch derartige Vorfälle nahmen in den letzten Jahren an Anzahl und Brutalität zu. Judenfeindliches Mobbing an nichtjüdischen Schulen ist leider alles andere als ein Einzelfall oder eine Ausnahme.
Latent antijüdische Bemerkungen von Mitschülern wie „Du siehst ja gar nicht jüdisch aus“ oder „Deine Eltern sind bestimmt reich“ sind zwar relativ harmlos, zeigen jüdischen Schülern jedoch, dass sie nicht so ganz dazugehören, lassen sie Stigmatisierung empfinden.
Der israelbezogene Antisemitismus macht vor den Schultoren ebenfalls nicht halt. So wie Juden überall mit dem sogenannten neuen oder auch politischen Antisemitismus konfrontiert werden, ergeht es auch jüdischen Schülern insbesondere in höheren Klassenstufen: Jugendliche sollen sich für die Politik Israels rechtfertigen müssen. Oder werden wegen der Politik eines Staates angegriffen – nicht nur verbal –, in dem sie nicht leben, und dessen Bürger sie gar nicht sind.
Antijüdische Ressentiments gibt es in allen gesellschaftlichen Gruppen und damit auch unter Lehrern. Dass jüdische Schüler von ihnen aufgefordert werden, Stellung zur Politik Israels zu beziehen, ist leider keine traurige Ausnahme, sondern kommt immer wieder vor.
Sind denn alle Deutschen für die Politik der Bundesregierung verantwortlich und müssen sie rechtfertigen, selbst wenn sie sie nicht gewählt haben? Sind Muslime in Deutschland für elementare Menschenrechte verletzendes Unrecht in ihren Heimatländern verantwortlich, vor dem sie teilweise geflohen sind?
Judenfeindliche Vorfälle unter Schülern werden viel zu oft als übliche Rangeleien unter Pubertierenden abgetan und damit bagatellisiert. Gemobbte jüdische Schüler und deren Eltern werden von den Klassenkameraden, den Lehrkräften und der Schulleitung zu häufig im Stich gelassen, erfahren keine Unterstützung.
Erst vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass ein Neuntklässler an einer deutsch-amerikanischen Berliner Schule monatelang rassistischen antijüdischen Attacken ausgesetzt war. Auch hier ignorierte die Schulleitung die Vorfälle viel zu lange, schritt nicht wirkungsvoll ein. Es ist zu oft das gleiche Muster.
Aufklärung und Einschreiten erfolgen erst, wenn es den Druck von außen auf die Schulen gibt. Häufig meinen Eltern, aus guten Gründen übrigens, ihrem Kind die öffentliche Erörterung von Rassismus gegenüber Juden nicht zumuten zu können und nehmen stattdessen ihre Kinder leise von der Schule.
Recht muss Unrecht weichen? Immer mehr jüdische Eltern raten ihren Kindern, um sie zu schützen, sich nicht als Jüdin oder Jude zu „outen“. Wohin führt das, wenn es jeder tut? Das Tragen einer Kippa muss an jedem Ort in Deutschland Normalität sein können. Deshalb bedarf es solidarischen Verhaltens auch der Nicht-Betroffenen, wenn Durchsetzung und Dominanz rassistischen Gedankenguts nicht Platz greifen soll.
Es ist mehr als ein Jahr vergangen, seitdem judenfeindliche Vorfälle an der Schule in Berlin-Friedenau öffentlich wurden. Konkret geändert hat sich seitdem für die Betroffenen kaum etwas. Die Bundesregierung hat inzwischen einen Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland und gegen Antisemitismus eingesetzt. Ist dies ein ausreichend starkes Signal in die Gesellschaft, dass wir in Deutschland keinen Judenhass dulden?
Dass wir nicht wie in Frankreich in den letzten Jahren die Auswanderung tausender jüdischer Familien erleben wollen, weil sie sich dort nicht mehr sicher fühlten? Sonntagsreden allein helfen nicht gegen Antisemitismus. Taten müssen folgen.
Die Regierung muss mehr gegen Antisemitismus unternehmen, sie ist hier in der Verantwortung. Wir erleben, dass immer mehr Tabus fallen durch rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppierungen, die es sogar in Parlamente geschafft haben. Dass islamistischer Extremismus mit wütendem Antisemitismus und antiliberalen Einstellungen immer mehr Menschen beeinflusst bis hin zu unvorstellbarer Radikalisierung.
Der Kampf gegen antijüdischen Rassismus ist immer auch ein Eintreten für unsere freiheitliche Demokratie. Wir als Bürger, als Schulleitung, als Lehrer, als Mitschüler und als Eltern von Mitschülern - jeder einzelne von uns ist gefragt, sich antijüdischem Verhalten entgegen zu stellen. Nicht länger wegsehen. Nicht länger bagatellisieren. Das hat der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung deutlich zu machen. Bundesweit. Zügig.
Er plant, bis Ende 2018 in allen großen Städten Anlaufstellen zur Meldung antisemitischer Taten zu installieren. Dies ist dringend erforderlich, und hierfür hat er meine volle Unterstützung. Aber das reicht nicht, um ungestörten Schulbesuch wieder für alle Schüler sicherzustellen, gerade auch der jüdischen. Gerade wegen der gesellschaftspolitischen, illiberalen Entwicklungen in unserer Gesellschaft müssen Lehrerinnen und Lehrer geschult werden, wie sie antijüdische Ressentiments erkennen und vermeiden.
Für Inhalte der Aus- und Weiterbildung von Lehrern sind die Bundesländer verantwortlich. Kultusministerkonferenz und Länder müssen dafür sorgen, dass Lehrer so sensibilisiert werden, dass Antisemitismus in unseren Schulen keinen Raum mehr findet. Dass sie das notwendige Handwerkszeug mitbekommen, wirksam gegen Antisemitismus an ihren Schulen vorzugehen. Judenfeindliches Mobbing muss konsequent geahndet werden.
Nicht die Opfer haben die Schulen zu verlassen, sondern die Täter. Konsequent und ohne Wenn und Aber. Denn Judenhass darf in unserer Gesellschaft und auch an deutschen Schulen keinen Platz haben. Wohlgemerkt: Es ist eine gemeinsame Verantwortung, wahrgenommen sowohl durch staatliches Handeln als auch unser couragiertes Verhalten als Bürger dieses Landes.