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13.01.2018 - 12:45BUSCHMANN-Gastbeitrag: Dahrendorf statt Dutschke
Das FDP-Präsidiumsmitglied Dr. Marco Buschmann schrieb für die „Welt“ (Samstagausgabe) und „Welt Online“ den folgenden Gastbeitrag.
2018, ein halbes Jahrhundert nach 1968. Für Rechte war es ein Wendepunkt in der Geschichte, der ihrer Meinung nach auf einen Kurs in den Abgrund führt. Sie rufen heute nach einer „konservativen Revolution“. Für Linke war es ein Annus mirabilis, das einen Impuls der Befreiung ausgelöst und direkt zum Höhepunkt und „Ende der Geschichte“ geführt habe. Sie wollen das Erreichte gegen jede Anfeindung bewahren. Da reibt man sich die Augen angesichts dieser kuriosen Dialektik: Die Konservativen wollen Revolution, und die Linken tun so, als seien sie Agent des bestehenden Systems.
Die Ursachen für das alles waren schon im Januar 1968 sichtbar. Veränderung lag in der Luft. Die Wohlstandsnarkotisierung der Nachkriegsjahre kam an ihr Ende. Der junge Soziologie-Professor Ralf Dahrendorf hielt seine ersten Reden als FDP-Politiker. „Es wird Zeit“, rief er, „dass in Deutschland wieder Politik gemacht wird.“
Den bleiernen Quietismus und die Ambitionslosigkeit der Großen Koalition, die Fragen der Vergangenheit wie der Zukunft gleichermaßen verdrängte, prangerte er gnadenlos an. Er plädierte für mehr Demokratie, den Rechtsstaat, Bildung als Bürgerrecht und eine offene Gesellschaft. Offenheit bedeutete nicht Beliebigkeit. Sie meinte Chancen, um durch eigene Leistung seine Situation zu verbessern. Auch „das katholische Mädchen vom Lande“ sollte Zugriff auf Bildung und sozialen Aufstieg haben.
Reform rief den sozialistischen Studentenführer Rudi Dutschke auf den Plan. Er wollte lieber Revolution. Für ihn waren Leute wie Dahrendorf „Scheißliberale“, die „reaktionären Kräften“ dienten. Leute wie er seien „Fachidioten“. Doch Dahrendorf konterte ihn gelassen als „Protestidioten“. Damit war der begriffliche Stammvater des „Wutbürgers“ von heute geschaffen. Der „rote Rudi“ zog geknickt ab.
Ganz anders erging es einem anderen Reformer. Sein Denken wurde gewissermaßen erfolgreich gekapert. Im Januar 1968 verwendete Jacques Derrida erstmals öffentlich seinen Neologismus „la différance“. Eine wesentliche Grundlage des poststrukturalistischen Denkens war gelegt. Das Konzept besagt, dass erst die Sprache unsere Wirklichkeit schaffe. Wer Begriffe beherrsche, habe den Schlüssel zur Veränderung der Welt in der Hand. Dabei seien begriffliche Gegensätze wie „gut und böse“ von entscheidender Bedeutung. Sie transportierten Werte und Herrschaftsstrukturen.
Derridas Absicht war keinesfalls revolutionär. Er mahnte nur dazu, ein geistiges Erbe reflektiert anzutreten. So wie Karl Popper lehrte, dass es keine endgültigen Wahrheiten in der Naturwissenschaft gibt, erinnerte Derrida daran, dass es keine endgültige Wahrheit in Kultur, Gesellschaft und Sprache geben könne.
Doch die Gesinnungsgenossen Dutschkes erkannten die revolutionäre Strategie, die sich daraus ableiten ließ. Die begrifflichen Gegensatzpaare, die für die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft von Bedeutung sind, mussten eingeebnet werden. Die daraus entstehende Indifferenz sollte den innerlichen Zusammenbruch durch begriffliche Entkernung herbeiführen und so die Strukturen des Systems zerstören. Im Prinzip wusste schon Konfuzius um diese Prozedur: „Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande.“
Dieses Programm brach sich schnell Bahn. An einer Wand der Universität des Saarlandes prangten 1968 die Worte: „legal, illegal, scheißegal“. Die Unterscheidung von Recht und Unrecht sollte bedeutungslos werden. Die Gesamtschule bekam 1968 in West-Berlin ihr erstes Modellprojekt und war fortan das Experimentierfeld für leistungsintegrativen Unterricht – also die institutionalisierte Absage an die Unterscheidung verschiedener Leistungsniveaus.
„Das Private ist politisch“ begann als Parole wenig später die sphärische Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem aufzuheben. Die Unterscheidung zwischen kunstvollem Können und Dilettantismus riss Joseph Beuys mit größter Lust nieder: Auch eine zufällig verkohlte Tür konnte Kunst sein, wenn man sie ins Museum stellt.
Dieses Denken begann seinen Marsch durch die Institutionen. Den protestierenden Studenten in Frankreich rief der Schriftsteller Marcel Jouhandeau im Mai 1968 noch zu: „Geht nach Hause, in zehn Jahren seid ihr Notare!“ In Deutschland wurden sie Rechtsanwälte wie Otto Schily und gingen in den Bundestag. Sie gelangten am Ende ihres Marsches in höchste Regierungsämter.
Die Gegensatzpaare der verhassten bürgerlichen Gesellschaft wurden aber nicht ersatzlos geschliffen. Die alte Herrschaftsstruktur sollte durch eine neue ersetzt werden. Das Programm war nicht Derridas Poststrukturalismus, der Herrschaft durch Begriffe überwindet, sondern ein Restrukturalismus, der lediglich andere Herrschaftsstrukturen errichtet. Das zentrale Gegensatzpaar lautete nun links und rechts. Es trat an die Stelle von gut und böse, richtig und falsch oder legal und illegal.
Es hatte den enormen Vorteil, dass das erbarmungslose Entweder-oder von links oder rechts die Möglichkeit der Reform aus der politischen Mitte durch „Scheißliberale“, wie sie Dahrendorf verkörperte, ausblendete und zum blinden Fleck machte. Zugleich war die Alternative rechts stets mit einem Makel belegt: Wer rechts sagt, löst Assoziationen mit Neonazis, Glatzen und Springerstiefeln aus. Da ist man im Zweifel lieber links als rechts.
Diese sprachlogische Lenkungsfunktion war gegen die Sachlogik vieler Themen extrem erfolgreich und führte in zahllosen Debatten zu etwas, das der kulturkritische Philosoph Friedrich Nietzsche wohl eine „Umwertung aller Werte“ genannt hätte. Die Folge war eine große Verunsicherung der politischen Bewertungsmaßstäbe. Kein Wunder also, dass heute Linke und Rechte die Rollen der Revolutionäre und Bewahrer vertauschen!
Die bis heute wirkenden Beispiele sind Legion und sind es wert, wie Derrida sagen würde, dekonstruiert zu werden: Linke Diktatoren wie Fidel Castro waren gut, rechte wie Augusto Pinochet dagegen schlecht. Dass beide Menschenrechte missachteten, schien nicht ins Bild zu passen. Ist es daher ein Wunder, dass sich Deutschland so lange schwer tat im Umgang mit Recep Erdogan?
Alles, was politisch unerwünscht war, wurde rechts genannt: Markt und Wettbewerb zum Beispiel. Ist das nicht besonders widersinnig? Denn politische Linke wie Rechte sind sich weltweit in nichts so nahe wie ihrer gemeinsamen Skepsis gegenüber Markt und Wettbewerb. AfD und Linke polemisieren gemeinsam gegen Freihandelsabkommen wie TTIP und Ceta. Die Durchsetzung des Rechtsstaates gegen Personen, die in Hamburg ganze Stadtteile zerlegen oder in Berlin fremde Häuser besetzen, ist angeblich rechts. Aber muss eine Politik, die Schwache schützen möchte, nicht einen starken Rechtsstaat wollen?
Eine Bildungspolitik, die auf berufliche Kompetenzen setzt, gilt als rechts, weil sie Menschen angeblich einer „kapitalistischen Verwertungslogik“ unterwerfe. Aber sind es nicht gerade solche Ausbildungsgänge, die sozialen Aufstieg durch Bildung ermöglichen? War das nicht einmal ein Anliegen der Arbeiterbewegung?
Vielleicht ist die Parole „legal, illegal, scheißegal“ sogar im Bundeskanzleramt angekommen. Jedenfalls verfehlte die rot-grüne Bundesregierung 2002 klar die Stabilitätskriterien von Maastricht und sorgte gemeinsam mit der französischen Regierung dafür, dass sich daran gerade nicht das vertraglich vorgesehene Defizitverfahren anknüpfte. Infolgedessen verloren die Maastricht-Kriterien als leges imperfectae ihre Direktivkraft. Andere Staaten folgten Deutschlands Beispiel. Die Verschuldungsgrade der Euro-Staaten stiegen immer mehr an, bis es schließlich zur Euro-Krise kam. Diese wiederum diskreditierte die Marktwirtschaft weit mehr, als es sich der „rote Rudi“ wohl je hätte träumen lassen.
Relevanz und Lehre aus 1968 für unsere Gegenwart sind daher klar: Uns stehen ähnliche Debatten bevor. Den Veränderungsimpuls von 1968, den der Strukturwandel zur „Dienstklassengesellschaft“ ausgelöst hat, bringt heute die Digitalisierung in Gang. Union und SPD narkotisieren das Land damals wie heute mit großen Koalitionen – heute nur unter der Führung Angela Merkels statt Kurt Georg Kiesingers damals. Die aggressive Auflehnung gegen Modernität sammelt sich heute in der AfD Alexander Gaulands, so wie sie sich damals in der NPD Adolf von Thaddens zusammenfand.
In unserer Zeit des Wandels hilft weder liturgische Revolutionsrhetorik von rechts noch politische Begriffsjurisprudenz von links. Die progressive Politik der Mitte muss sich der 1968 geborenen Freund-Feind-Denke des Entweder-oder von links oder rechts entziehen.
Sie muss ihren eigenen Weg finden. Sie muss angreifen, streiten und debattieren. Sie muss mit Ritualen brechen und sich jedem auferlegten Gehäuse der Hörigkeit entziehen. Sie muss dem Land eine lohnende Perspektive der Veränderung aufzeigen. Wenn wir in das Jahr 2018 mit dem Willen starten, dem Land einen Weg weiterer Modernisierung aufzuzeigen, dann dürfen wir ruhig auf das Jahr 1968 Bezug nehmen. Aber es muss gelten: Mehr Dahrendorf, weniger Dutschke.
BUSCHMANN-Gastbeitrag: Dahrendorf statt Dutschke
Das FDP-Präsidiumsmitglied Dr. Marco Buschmann schrieb für die „Welt“ (Samstagausgabe) und „Welt Online“ den folgenden Gastbeitrag.
2018, ein halbes Jahrhundert nach 1968. Für Rechte war es ein Wendepunkt in der Geschichte, der ihrer Meinung nach auf einen Kurs in den Abgrund führt. Sie rufen heute nach einer „konservativen Revolution“. Für Linke war es ein Annus mirabilis, das einen Impuls der Befreiung ausgelöst und direkt zum Höhepunkt und „Ende der Geschichte“ geführt habe. Sie wollen das Erreichte gegen jede Anfeindung bewahren. Da reibt man sich die Augen angesichts dieser kuriosen Dialektik: Die Konservativen wollen Revolution, und die Linken tun so, als seien sie Agent des bestehenden Systems.
Die Ursachen für das alles waren schon im Januar 1968 sichtbar. Veränderung lag in der Luft. Die Wohlstandsnarkotisierung der Nachkriegsjahre kam an ihr Ende. Der junge Soziologie-Professor Ralf Dahrendorf hielt seine ersten Reden als FDP-Politiker. „Es wird Zeit“, rief er, „dass in Deutschland wieder Politik gemacht wird.“
Den bleiernen Quietismus und die Ambitionslosigkeit der Großen Koalition, die Fragen der Vergangenheit wie der Zukunft gleichermaßen verdrängte, prangerte er gnadenlos an. Er plädierte für mehr Demokratie, den Rechtsstaat, Bildung als Bürgerrecht und eine offene Gesellschaft. Offenheit bedeutete nicht Beliebigkeit. Sie meinte Chancen, um durch eigene Leistung seine Situation zu verbessern. Auch „das katholische Mädchen vom Lande“ sollte Zugriff auf Bildung und sozialen Aufstieg haben.
Reform rief den sozialistischen Studentenführer Rudi Dutschke auf den Plan. Er wollte lieber Revolution. Für ihn waren Leute wie Dahrendorf „Scheißliberale“, die „reaktionären Kräften“ dienten. Leute wie er seien „Fachidioten“. Doch Dahrendorf konterte ihn gelassen als „Protestidioten“. Damit war der begriffliche Stammvater des „Wutbürgers“ von heute geschaffen. Der „rote Rudi“ zog geknickt ab.
Ganz anders erging es einem anderen Reformer. Sein Denken wurde gewissermaßen erfolgreich gekapert. Im Januar 1968 verwendete Jacques Derrida erstmals öffentlich seinen Neologismus „la différance“. Eine wesentliche Grundlage des poststrukturalistischen Denkens war gelegt. Das Konzept besagt, dass erst die Sprache unsere Wirklichkeit schaffe. Wer Begriffe beherrsche, habe den Schlüssel zur Veränderung der Welt in der Hand. Dabei seien begriffliche Gegensätze wie „gut und böse“ von entscheidender Bedeutung. Sie transportierten Werte und Herrschaftsstrukturen.
Derridas Absicht war keinesfalls revolutionär. Er mahnte nur dazu, ein geistiges Erbe reflektiert anzutreten. So wie Karl Popper lehrte, dass es keine endgültigen Wahrheiten in der Naturwissenschaft gibt, erinnerte Derrida daran, dass es keine endgültige Wahrheit in Kultur, Gesellschaft und Sprache geben könne.
Doch die Gesinnungsgenossen Dutschkes erkannten die revolutionäre Strategie, die sich daraus ableiten ließ. Die begrifflichen Gegensatzpaare, die für die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft von Bedeutung sind, mussten eingeebnet werden. Die daraus entstehende Indifferenz sollte den innerlichen Zusammenbruch durch begriffliche Entkernung herbeiführen und so die Strukturen des Systems zerstören. Im Prinzip wusste schon Konfuzius um diese Prozedur: „Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande.“
Dieses Programm brach sich schnell Bahn. An einer Wand der Universität des Saarlandes prangten 1968 die Worte: „legal, illegal, scheißegal“. Die Unterscheidung von Recht und Unrecht sollte bedeutungslos werden. Die Gesamtschule bekam 1968 in West-Berlin ihr erstes Modellprojekt und war fortan das Experimentierfeld für leistungsintegrativen Unterricht – also die institutionalisierte Absage an die Unterscheidung verschiedener Leistungsniveaus.
„Das Private ist politisch“ begann als Parole wenig später die sphärische Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem aufzuheben. Die Unterscheidung zwischen kunstvollem Können und Dilettantismus riss Joseph Beuys mit größter Lust nieder: Auch eine zufällig verkohlte Tür konnte Kunst sein, wenn man sie ins Museum stellt.
Dieses Denken begann seinen Marsch durch die Institutionen. Den protestierenden Studenten in Frankreich rief der Schriftsteller Marcel Jouhandeau im Mai 1968 noch zu: „Geht nach Hause, in zehn Jahren seid ihr Notare!“ In Deutschland wurden sie Rechtsanwälte wie Otto Schily und gingen in den Bundestag. Sie gelangten am Ende ihres Marsches in höchste Regierungsämter.
Die Gegensatzpaare der verhassten bürgerlichen Gesellschaft wurden aber nicht ersatzlos geschliffen. Die alte Herrschaftsstruktur sollte durch eine neue ersetzt werden. Das Programm war nicht Derridas Poststrukturalismus, der Herrschaft durch Begriffe überwindet, sondern ein Restrukturalismus, der lediglich andere Herrschaftsstrukturen errichtet. Das zentrale Gegensatzpaar lautete nun links und rechts. Es trat an die Stelle von gut und böse, richtig und falsch oder legal und illegal.
Es hatte den enormen Vorteil, dass das erbarmungslose Entweder-oder von links oder rechts die Möglichkeit der Reform aus der politischen Mitte durch „Scheißliberale“, wie sie Dahrendorf verkörperte, ausblendete und zum blinden Fleck machte. Zugleich war die Alternative rechts stets mit einem Makel belegt: Wer rechts sagt, löst Assoziationen mit Neonazis, Glatzen und Springerstiefeln aus. Da ist man im Zweifel lieber links als rechts.
Diese sprachlogische Lenkungsfunktion war gegen die Sachlogik vieler Themen extrem erfolgreich und führte in zahllosen Debatten zu etwas, das der kulturkritische Philosoph Friedrich Nietzsche wohl eine „Umwertung aller Werte“ genannt hätte. Die Folge war eine große Verunsicherung der politischen Bewertungsmaßstäbe. Kein Wunder also, dass heute Linke und Rechte die Rollen der Revolutionäre und Bewahrer vertauschen!
Die bis heute wirkenden Beispiele sind Legion und sind es wert, wie Derrida sagen würde, dekonstruiert zu werden: Linke Diktatoren wie Fidel Castro waren gut, rechte wie Augusto Pinochet dagegen schlecht. Dass beide Menschenrechte missachteten, schien nicht ins Bild zu passen. Ist es daher ein Wunder, dass sich Deutschland so lange schwer tat im Umgang mit Recep Erdogan?
Alles, was politisch unerwünscht war, wurde rechts genannt: Markt und Wettbewerb zum Beispiel. Ist das nicht besonders widersinnig? Denn politische Linke wie Rechte sind sich weltweit in nichts so nahe wie ihrer gemeinsamen Skepsis gegenüber Markt und Wettbewerb. AfD und Linke polemisieren gemeinsam gegen Freihandelsabkommen wie TTIP und Ceta. Die Durchsetzung des Rechtsstaates gegen Personen, die in Hamburg ganze Stadtteile zerlegen oder in Berlin fremde Häuser besetzen, ist angeblich rechts. Aber muss eine Politik, die Schwache schützen möchte, nicht einen starken Rechtsstaat wollen?
Eine Bildungspolitik, die auf berufliche Kompetenzen setzt, gilt als rechts, weil sie Menschen angeblich einer „kapitalistischen Verwertungslogik“ unterwerfe. Aber sind es nicht gerade solche Ausbildungsgänge, die sozialen Aufstieg durch Bildung ermöglichen? War das nicht einmal ein Anliegen der Arbeiterbewegung?
Vielleicht ist die Parole „legal, illegal, scheißegal“ sogar im Bundeskanzleramt angekommen. Jedenfalls verfehlte die rot-grüne Bundesregierung 2002 klar die Stabilitätskriterien von Maastricht und sorgte gemeinsam mit der französischen Regierung dafür, dass sich daran gerade nicht das vertraglich vorgesehene Defizitverfahren anknüpfte. Infolgedessen verloren die Maastricht-Kriterien als leges imperfectae ihre Direktivkraft. Andere Staaten folgten Deutschlands Beispiel. Die Verschuldungsgrade der Euro-Staaten stiegen immer mehr an, bis es schließlich zur Euro-Krise kam. Diese wiederum diskreditierte die Marktwirtschaft weit mehr, als es sich der „rote Rudi“ wohl je hätte träumen lassen.
Relevanz und Lehre aus 1968 für unsere Gegenwart sind daher klar: Uns stehen ähnliche Debatten bevor. Den Veränderungsimpuls von 1968, den der Strukturwandel zur „Dienstklassengesellschaft“ ausgelöst hat, bringt heute die Digitalisierung in Gang. Union und SPD narkotisieren das Land damals wie heute mit großen Koalitionen – heute nur unter der Führung Angela Merkels statt Kurt Georg Kiesingers damals. Die aggressive Auflehnung gegen Modernität sammelt sich heute in der AfD Alexander Gaulands, so wie sie sich damals in der NPD Adolf von Thaddens zusammenfand.
In unserer Zeit des Wandels hilft weder liturgische Revolutionsrhetorik von rechts noch politische Begriffsjurisprudenz von links. Die progressive Politik der Mitte muss sich der 1968 geborenen Freund-Feind-Denke des Entweder-oder von links oder rechts entziehen.
Sie muss ihren eigenen Weg finden. Sie muss angreifen, streiten und debattieren. Sie muss mit Ritualen brechen und sich jedem auferlegten Gehäuse der Hörigkeit entziehen. Sie muss dem Land eine lohnende Perspektive der Veränderung aufzeigen. Wenn wir in das Jahr 2018 mit dem Willen starten, dem Land einen Weg weiterer Modernisierung aufzuzeigen, dann dürfen wir ruhig auf das Jahr 1968 Bezug nehmen. Aber es muss gelten: Mehr Dahrendorf, weniger Dutschke.