FDP|
24.12.2017 - 10:15LINDNER-Interview: Ich bin mit mir im Reinen
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" das folgende Interview. Die Fragen stellten Ralph Bollmann und Inge Kloepfer.
Frage: Aufstieg, Ausstieg, Abstieg: Wie war 2017 für die FDP, Herr Lindner?
Lindner: Wir haben das Comeback geschafft. Die FDP regiert in drei Bundesländern und stellt eine starke Fraktion im Bundestag. Wir geben allen eine Stimme, die an die Selbstverantwortung der Menschen glauben und unser Land erneuern wollen. Dafür haben wir die Partei erneuert. Unseren klassischen Werten sind wir treu, allerdings sind wir so unabhängig und angstfrei wie nie. Diesen Kulturwechsel bringen wir aus den Jahren außerhalb des Parlaments dorthin mit.
Frage: Sie sind so angstfrei, dass Sie nach Neuwahlen abermals über eine Jamaika-Koalition verhandeln wollen. Das meinen Sie nicht ernst, oder?
Lindner: Was die aktuelle Wahlperiode betrifft, haben wir uns für die Opposition entschieden. Dabei bleibt es. Aber Konstellationen ändern sich. Die Grünen zum Beispiel hielten eine Regierungsbeteiligung 2013 nicht für möglich, vier Jahre später waren sie bereit, eigentlich Unvereinbares zu verbinden. Auch bei der CDU gibt es in irgendwann vielleicht andere Wahlprogramme und andere Entscheider, die eine Neubewertung der Lage erlauben.
Frage: Sie denken an Jens Spahn, dessen Wohnung Sie übernommen haben?
Lindner: Ein Mieter muss nicht alle politischen Positionen des Eigentümers teilen.
Frage: Wenn Frau Merkel bei Neuwahlen nicht mehr antritt, wie in der CDU schon spekuliert wird, wollen Sie wieder an den Verhandlungstisch?
Lindner: Ich gehe davon aus, dass sich bei schnellen Neuwahlen an den handelnden Personen nichts ändern würde.
Frage: Glauben Sie im Ernst, dass die anderen Parteien das Jamaika-Drama noch mal mitmachen –von den Wählern ganz zu schweigen?
Lindner: Welches Drama? Wir haben vier Wochen ernsthaft sondiert, dann aber keine Grundlage gesehen. Am Ende wären wir nur der Mehrheitsbeschaffer für eine schwarz-grüne Koalition gewesen. Jetzt sind die anderen beleidigt, dass wir diese Träume vereitelt haben.
Frage: Sie würden, im Nachhinein betrachtet, bei der Sondierung gar nichts anders machen?
Lindner: Doch. Wir hätten wir uns besser an den schwarz-grünen Gesprächen von 2013 orientiert. Das Verfahren war damals viel kürzer und schlanker. Dieses Jahr stieg mit der Dauer der Sondierungen und der Zahl der Beteiligten die Erwartung, dass es schon zur Regierungsbildung kommt. Deshalb war bei manchen die Überraschung und Enttäuschung groß. Dabei war schon bei der Lektüre Wahlprogramme klar, dass es schwierig werden würde.
Frage: Seit wann war Ihnen bewusst, dass Sie womöglich regieren müssen?
Lindner: Wieso „müssen“? Wir übernehmen gerne Verantwortung. Allerdings habe ich schon im Wahlkampf gesagt: Mir fehlt die Phantasie, wie man in einer Jamaika-Konstellation zusammenkommt. CDU und CSU strebten Kontinuität unter Frau Merkel an, also das Gegenteil von Veränderung oder Erneuerung. Die Grünen wollen Wirtschaft und Gesellschaft lenken und Menschen moralisch erziehen. Beides passt nicht zu liberalen Werten. Umso mehr staune ich über die Verwunderung, dass wir an unseren Wahlaussagen festgehalten haben.
Frage: Bereits im Mai, am Wahlabend in Nordrhein-Westfalen, sahen Sie nicht besonders regierungswillig aus.
Lindner: Gemeinsam mit Armin Laschet habe ich rasch und geräuschlos einen Koalitionsvertrag verhandelt. Allerdings musste ich am Wahlabend in der Tat den Eindruck korrigieren, die FDP sei der automatische Mehrheitsbeschaffer der CDU. Die Union hatte schließlich offen gegen uns Wahlkampf geführt und vor der Wahl der FDP gewarnt. Außerdem musste geklärt werden, dass eine Koalition in Düsseldorf nicht die verlängerte Werkbank von Frau Merkel wird. Wie wichtig das war, hat sich bei den Jamaika-Sondierungen gezeigt, als wichtige Wirtschaftsinteressen des Bundeslandes beinahe unter den Tisch gefallen wären.
Frage: Wurden Sie 2017 von Ihrem eigenen Erfolg überrollt?
Lindner: Nein. Zwei Regierungen haben wir dieses Jahr neu gebildet. Wir haben mit starken Persönlichkeiten neue Akzente in den Kabinetten gesetzt – bei Integration, Bildung, Digitalem und Energie.
Frage: Aber nicht im Bund?
Lindner: Jamaika ist nicht an uns gescheitert, sondern am Unwillen zu neuem Denken. Die Klimaziele der Grünen hätte man nicht mit den alten Instrumenten von Quote, Subvention und gesetzlichem Kohleausstieg angehen sollen, sondern mit liberaler Technologieoffenheit und einem marktwirtschaftlichen CO2-Handel. In Schleswig-Holstein gelang es einem CDU-Ministerpräsidenten der neuen Generation, Grüne und FDP zusammenzubringen.
Frage: In Berlin scheiterte es an einer alten Frau?
Lindner: Das hat nichts mit dem Lebensalter zu tun, sondern mit dem Dienstalter. Selbstverständlich will Frau Merkel nach zwölf Jahren im Amt nicht in Widerspruch zum eigenen Handeln geraten. Wir wollen aber Teil eines Erneuerungsprojekts werden.
Frage: War es altes Denken zu glauben, die FDP macht das sowieso mit?
Lindner: Zweifelsohne.
Frage: Fühlten Sie sich von Angela Merkel nicht ernst genommen?
Lindner: Die CDU hatte die Absicht, die Grünen als linke Partei mit vielen Kompromissen in das bürgerliche Lager zu holen. Ich glaube, dass die Union dadurch mittelfristig viele Wähler an die AfD verloren hätte. Vor allem wurde die FDP aus der Koalition herausgedrängt, denn wir hätten als Teil eines schwarz-grünen Projekts unsere Glaubwürdigkeit verloren. Mir wurde früh klar, dass hier eine Situation entsteht, in der wir nur verlieren können.
Frage: Inwiefern?
Lindner: Wir mussten zwangsläufig einen Teil unserer Wähler enttäuschen. Entweder diejenigen, die uns gerne in der Regierung gesehen hätten. Oder diejenigen, die gesagt hätten: Für die Dienstwagen habt ihr alle Überzeugungen aufgegeben. Wir haben uns dafür entschieden, unseren Grundsätzen und Projekten treu zu bleiben. Ich wundere mich darüber, wie die FDP regelrecht zum Wortbruch gegenüber ihren Wahlaussagen aufgerufen wird – als ob dadurch das Vertrauen in die Parteien insgesamt gestärkt würde.
Frage: Wann war Ihnen das klar?
Lindner: Donnerstagnacht der letzten Verhandlungswoche. Da sollte es ja eigentlich einen Abschluss geben. Wir haben dann das Tempo erhöht, um zu Klärungen zu kommen. Sonntagabend war klar, dass der für uns wesentliche Richtungswechsel weg von der Umverteilung, dem Status quo, dem Bürokratismus hin zu Freiheit, Erneuerung und Erwirtschaften nicht erreichbar ist. Dass die Union mit den Zwischenergebnissen zufrieden war, sagt mehr über die CDU aus als über die tatsächlichen politischen Vorhaben.
Frage: Sie hätten es in der Hand gehabt, die große Koalition zu verhindern. Können Sie Merkel und Schulz jetzt überhaupt noch kritisieren?
Lindner: Es wäre die kärglichste Form eines Gestaltungsanspruchs, in eine Regierung nur einzutreten, um Schlimmeres zu verhindern. Lieber stellen wir der Regierung aus der Opposition heraus Konzepte entgegen, als im Kabinett den Bremsklotz zu spielen. Eine solche Art von Koalition wäre zum Wählerbeschaffungsprogramm für die AfD geworden. Im Übrigen: All das, was die SPD für eine große Koalition an zusätzlichen Ausgaben fordert, hatte auch Jamaika im Gepäck. Es ging um Mehrausgaben von 60 Milliarden Euro. Bei der SPD gibt es immerhin noch Ansätze für eine vernünftige Industriepolitik, vor allem mit Blick auf den Energiebereich. Das wäre mit den Grünen schlimmer gekommen.
Frage: Eine Abschaffung der privaten Krankenkassen oder einen höheren Spitzensteuersatz, beides SPD-Wünsche, hätte es mit Jamaika nicht gegeben.
Lindner: Zur Gesundheit gab es bei Jamaika noch gar keine endgültige Einigung, daher bleibt der Vergleich Spekulation. Im Übrigen zwingt niemand die Union, sich von der SPD erpressen zu lassen. Sie kann zum Beispiel eine Minderheitsregierung bilden. Wir lassen uns nicht die Verantwortung für Kompromisse zuschieben, mit denen sich Frau Merkel jetzt in die große Koalition rettet, damit politisch alles beim Alten bleibt. Wir haben auch die Grünen nicht nach dem Abbruch der Sondierungen 2013 für die Politik der damaligen großen Koalition verantwortlich gemacht
Frage: Laut Umfragen hat sich seit der Wahl ein Drittel der FDP-Wähler abgewandt, auch die Wirtschaft ist enttäuscht. Sie sagen: Das wäre auch passiert, wenn Jamaika geklappt hätte?
Lindner: In der letzten Umfrage der F.A.Z. von dieser Woche lese ich, dass wir seit Wochen bei zehn Prozent stabil sind.
Frage: Im Vergleich zu einer Befragung vom Oktober war auch das ein Rückgang um zwei Punkte.
Lindner: Die Entscheidung zum Abbruch der Sondierungen war unabhängig von Taktik und Demoskopie. Es war eine Investition in Glaubwürdigkeit und die Chance auf eine wirkliche Erneuerung des Landes, selbst wenn jetzt der Anlauf etwas länger ist. Im Übrigen habe ich aus Gesprächen alles andere als den Eindruck, dass „die“ Wirtschaft enttäuscht wäre. Bei allem Respekt vor den Spitzenfunktionären in Berlin, es gibt auch noch den Praktiker aus dem Mittelstand, der klare Kante schätzt.
Frage: Hofften Sie während der Jamaika-Gespräche, dass sich die anderen zerstreiten und der Abbruch der Sondierung nicht an Ihnen hängenbleibt?
Lindner: Nein. Solchen Erwartungen sollte man sich nicht hingeben. Dafür hatten die meisten Verhandler von Union und Grünen auch ein viel zu hohes Eigeninteresse am Zustandekommen dieses Projekts.
Frage: Jetzt sitzen Sie in der Opposition neben der AfD.
Lindner: Man kann es sich nicht aussuchen. Die AfD bildet mit ihrem völkisch-autoritären Gedankengut den größtmöglichen Gegensatz zu den Freien Demokraten, die dem einzelnen Menschen vertrauen. Die AfD kultiviert Phantasien von der ethnischen Einheit des deutschen Volkes, die mit einer individualistischen Partei wie der FDP nicht den geringsten Berührungspunkt haben.
Frage: International heißt es: Deutschland braucht eine Regierung, aus Gesamtverantwortung für den liberalen Westen. Ist das der FDP egal?
Lindner: Nein. Das war sogar eines der wichtigsten Argumente, die Jamaika-Gespräche zu beenden.
Frage: Wie bitte?
Lindner: Die Erneuerung Europas wird die zentrale Aufgabe der nächsten Dekade sein. Nicht auszudenken, was im nächsten Jahr auf den europäischen Gipfeln los gewesen wäre, wenn eine Jamaika-Koalition über die deutsche Linie entscheiden müsste. Da gibt es fundamentale Unterschiede. Die Grünen wollen Risiken und Finanzen vergemeinschaften, wir wollen die finanzpolitische Eigenverantwortung und realwirtschaftliche Investitionen stärken. Dazwischen gibt es keinen Kompromiss. Hätte Frau Merkel dann einfach ihre Position vertreten und hinterher unsere Zustimmung verlangt?
Frage: Ein FDP-Finanzminister hätte die Verhandlungen in Brüssel doch maßgeblich beeinflusst?
Lindner: Da haben Sie falsche Vorstellungen über den Einfluss eines Finanzministers, der nicht die Rückendeckung seiner Regierungschefin hat. Denken Sie nur an die Griechenland-Rettung im Sommer 2015: Da konnte sich Wolfgang Schäuble nicht gegen die Kanzlerin durchsetzen. Als Minister macht man die Politik der Regierung, dafür müssen die Geschäftsgrundlagen klar sein.
Frage: Schäuble war in derselben Partei wie die Kanzlerin, er konnte nicht mit Koalitionsbruch drohen.
Lindner: Ich bitte Sie: Man kann eine Regierung doch nicht darauf aufbauen, dass man schon den Bruch einkalkuliert! Genau aus diesem Grund wäre das eben nicht die stabile Regierung gewesen, die sich international viele wünschen.
Frage: Sie reden viel von Überzeugungen. Wofür steht eigentlich die neue FDP?
Lindner: Der Markenkern der FDP ist der wohlverstandene liberale Individualismus – verbunden mit sozialer Marktwirtschaft, offener Gesellschaft und Rechtsstaatlichkeit. Dahinter kommen unsere vielen klugen Projekte: die Reform des Bildungsföderalismus, die Entlastung von Bürokratie und von Steuern, die Ordnung des Marktes im Sinne einer offenen Wettbewerbskultur.
Frage: Ist eine Partei bloß eine Marke?
Lindner: Nein. Eine politische Marke zu sein bedeutet, ein klares Profil zu haben – mit eigenständigen Antworten, die den Menschen Orientierung geben. Sie müssen wissen, wen und was sie wählen. Dafür braucht es Berechenbarkeit und einen Qualitätsanspruch: Realismus, Seriosität, Umsetzbarkeit.
Frage: Da sind Sie den Bewegungen von Emmanuel Macron oder Sebastian Kurz näher als den klassischen Parteien, nur nicht so erfolgreich?
Lindner: Nein. Die FDP ist keine Bewegung. Wir sind eine liberale Partei, unser Menschenbild speist sich aus Französischer Revolution und amerikanischer Verfassung, schottischer Philosophie und deutscher Aufklärung. Das ist etwas anderes als der Pragmatismus eines Macron.
Frage: Ist die FDP eine Partei neuen Typs?
Lindner: Wir bemühen uns darum, ein Update zu sein. Aber wir haben ein liberales Grundsatzprogramm, eine kommunalpolitische Basis mit 65.000 Mitgliedern und eine Tradition von Heuss, Scheel, Lambsdorff und Genscher, auf die wir stolz sind. Und wir wollen mehr Verantwortung übernehmen, nächstes Jahr dann in Bayern und Hessen. Von den Volksparteien unterscheidet uns sicher das Bemühen um mehr Basisdemokratie.
Frage: Bei der FDP entscheiden Sie doch alles allein.
Lindner: Bei uns entscheiden alle. Mögliche Koalitionsverträge werden nicht von der Parteiführung durchgewunken, sondern an der Basis abgestimmt. In den Gremien handeln wir kollegial. Diese Rückkopplung nehme ich sehr ernst.
Frage: Wenn Ihr Kollege Kubicki über neue Jamaika-Verhandlungen spekuliert, intervenieren Sie per Twitter.
Lindner: Bei uns sind alle Entscheidungen im Blick auf Jamaika einstimmig getroffen worden, ohne Kontroverse. Und wenn es andere Meinungen gäbe, hätte ich damit kein Problem. Ich vertrete als Vorsitzender das, was meine Partei beschließt.
Frage: Sie halten viel in der Schwebe: Die FDP ist weltoffen, aber kritisch zu Flüchtlingen, proeuropäisch, wenn es nichts kostet, für Steuersenkungen, ohne Steuersenkungspartei zu sein. Kann man so regieren?
Lindner: Ich erkenne mich in der Aufzählung nicht wieder. Wir wollen mehr Europa – in der Sicherheitspolitik, beim digitalen Binnenmarkt, dem Schutz der Außengrenze. Von einem Haushalt für die Euro-Zone halten wir nichts, wenn er eine Art Dispokredit ohne Bedingungen bereitstellt. Und natürlich wollen wir die Steuerlast für alle Bürger verringern. Aber wir lassen uns nicht wie früher darauf reduzieren. Wir wollen eine kanadische Einwanderungsstrategie. Es gibt kein Menschenrecht, sich seinen Standort auf der Welt auszusuchen. Das alles ist ein Programm der Mitte, das die Extreme vermeidet.
Frage: Wo steht die FDP in vier Jahren?
Lindner: Dort, wo sie jetzt steht: in der Mitte der politischen Landschaft. Als Anwalt für die Mitte der Bevölkerung, von der Krankenschwester bis zum Ingenieur. Als die Partei, die Fortschritt nicht fürchtet, sondern beschleunigen will. Und die an einem Erneuerungsprojekt für die nächste Dekade arbeitet, das an Gerhard Schröders Agenda 2010 anknüpft – oder das sich davon inspirieren lässt, was Macron in Frankreich macht.
Frage: Sie setzen darauf, dass die Leute bis zur nächsten Wahl das Jamaika-Debakel vergessen haben?
Lindner: Im Gegenteil. Hoffentlich erinnern sich die Wähler daran, dass sich die FDP auch nach Wahlen daran gebunden fühlt, was sie vor der Wahl gesagt hat. Wir sind mit unserer Entscheidung völlig im Reinen.
LINDNER-Interview: Ich bin mit mir im Reinen
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" das folgende Interview. Die Fragen stellten Ralph Bollmann und Inge Kloepfer.
Frage: Aufstieg, Ausstieg, Abstieg: Wie war 2017 für die FDP, Herr Lindner?
Lindner: Wir haben das Comeback geschafft. Die FDP regiert in drei Bundesländern und stellt eine starke Fraktion im Bundestag. Wir geben allen eine Stimme, die an die Selbstverantwortung der Menschen glauben und unser Land erneuern wollen. Dafür haben wir die Partei erneuert. Unseren klassischen Werten sind wir treu, allerdings sind wir so unabhängig und angstfrei wie nie. Diesen Kulturwechsel bringen wir aus den Jahren außerhalb des Parlaments dorthin mit.
Frage: Sie sind so angstfrei, dass Sie nach Neuwahlen abermals über eine Jamaika-Koalition verhandeln wollen. Das meinen Sie nicht ernst, oder?
Lindner: Was die aktuelle Wahlperiode betrifft, haben wir uns für die Opposition entschieden. Dabei bleibt es. Aber Konstellationen ändern sich. Die Grünen zum Beispiel hielten eine Regierungsbeteiligung 2013 nicht für möglich, vier Jahre später waren sie bereit, eigentlich Unvereinbares zu verbinden. Auch bei der CDU gibt es in irgendwann vielleicht andere Wahlprogramme und andere Entscheider, die eine Neubewertung der Lage erlauben.
Frage: Sie denken an Jens Spahn, dessen Wohnung Sie übernommen haben?
Lindner: Ein Mieter muss nicht alle politischen Positionen des Eigentümers teilen.
Frage: Wenn Frau Merkel bei Neuwahlen nicht mehr antritt, wie in der CDU schon spekuliert wird, wollen Sie wieder an den Verhandlungstisch?
Lindner: Ich gehe davon aus, dass sich bei schnellen Neuwahlen an den handelnden Personen nichts ändern würde.
Frage: Glauben Sie im Ernst, dass die anderen Parteien das Jamaika-Drama noch mal mitmachen –von den Wählern ganz zu schweigen?
Lindner: Welches Drama? Wir haben vier Wochen ernsthaft sondiert, dann aber keine Grundlage gesehen. Am Ende wären wir nur der Mehrheitsbeschaffer für eine schwarz-grüne Koalition gewesen. Jetzt sind die anderen beleidigt, dass wir diese Träume vereitelt haben.
Frage: Sie würden, im Nachhinein betrachtet, bei der Sondierung gar nichts anders machen?
Lindner: Doch. Wir hätten wir uns besser an den schwarz-grünen Gesprächen von 2013 orientiert. Das Verfahren war damals viel kürzer und schlanker. Dieses Jahr stieg mit der Dauer der Sondierungen und der Zahl der Beteiligten die Erwartung, dass es schon zur Regierungsbildung kommt. Deshalb war bei manchen die Überraschung und Enttäuschung groß. Dabei war schon bei der Lektüre Wahlprogramme klar, dass es schwierig werden würde.
Frage: Seit wann war Ihnen bewusst, dass Sie womöglich regieren müssen?
Lindner: Wieso „müssen“? Wir übernehmen gerne Verantwortung. Allerdings habe ich schon im Wahlkampf gesagt: Mir fehlt die Phantasie, wie man in einer Jamaika-Konstellation zusammenkommt. CDU und CSU strebten Kontinuität unter Frau Merkel an, also das Gegenteil von Veränderung oder Erneuerung. Die Grünen wollen Wirtschaft und Gesellschaft lenken und Menschen moralisch erziehen. Beides passt nicht zu liberalen Werten. Umso mehr staune ich über die Verwunderung, dass wir an unseren Wahlaussagen festgehalten haben.
Frage: Bereits im Mai, am Wahlabend in Nordrhein-Westfalen, sahen Sie nicht besonders regierungswillig aus.
Lindner: Gemeinsam mit Armin Laschet habe ich rasch und geräuschlos einen Koalitionsvertrag verhandelt. Allerdings musste ich am Wahlabend in der Tat den Eindruck korrigieren, die FDP sei der automatische Mehrheitsbeschaffer der CDU. Die Union hatte schließlich offen gegen uns Wahlkampf geführt und vor der Wahl der FDP gewarnt. Außerdem musste geklärt werden, dass eine Koalition in Düsseldorf nicht die verlängerte Werkbank von Frau Merkel wird. Wie wichtig das war, hat sich bei den Jamaika-Sondierungen gezeigt, als wichtige Wirtschaftsinteressen des Bundeslandes beinahe unter den Tisch gefallen wären.
Frage: Wurden Sie 2017 von Ihrem eigenen Erfolg überrollt?
Lindner: Nein. Zwei Regierungen haben wir dieses Jahr neu gebildet. Wir haben mit starken Persönlichkeiten neue Akzente in den Kabinetten gesetzt – bei Integration, Bildung, Digitalem und Energie.
Frage: Aber nicht im Bund?
Lindner: Jamaika ist nicht an uns gescheitert, sondern am Unwillen zu neuem Denken. Die Klimaziele der Grünen hätte man nicht mit den alten Instrumenten von Quote, Subvention und gesetzlichem Kohleausstieg angehen sollen, sondern mit liberaler Technologieoffenheit und einem marktwirtschaftlichen CO2-Handel. In Schleswig-Holstein gelang es einem CDU-Ministerpräsidenten der neuen Generation, Grüne und FDP zusammenzubringen.
Frage: In Berlin scheiterte es an einer alten Frau?
Lindner: Das hat nichts mit dem Lebensalter zu tun, sondern mit dem Dienstalter. Selbstverständlich will Frau Merkel nach zwölf Jahren im Amt nicht in Widerspruch zum eigenen Handeln geraten. Wir wollen aber Teil eines Erneuerungsprojekts werden.
Frage: War es altes Denken zu glauben, die FDP macht das sowieso mit?
Lindner: Zweifelsohne.
Frage: Fühlten Sie sich von Angela Merkel nicht ernst genommen?
Lindner: Die CDU hatte die Absicht, die Grünen als linke Partei mit vielen Kompromissen in das bürgerliche Lager zu holen. Ich glaube, dass die Union dadurch mittelfristig viele Wähler an die AfD verloren hätte. Vor allem wurde die FDP aus der Koalition herausgedrängt, denn wir hätten als Teil eines schwarz-grünen Projekts unsere Glaubwürdigkeit verloren. Mir wurde früh klar, dass hier eine Situation entsteht, in der wir nur verlieren können.
Frage: Inwiefern?
Lindner: Wir mussten zwangsläufig einen Teil unserer Wähler enttäuschen. Entweder diejenigen, die uns gerne in der Regierung gesehen hätten. Oder diejenigen, die gesagt hätten: Für die Dienstwagen habt ihr alle Überzeugungen aufgegeben. Wir haben uns dafür entschieden, unseren Grundsätzen und Projekten treu zu bleiben. Ich wundere mich darüber, wie die FDP regelrecht zum Wortbruch gegenüber ihren Wahlaussagen aufgerufen wird – als ob dadurch das Vertrauen in die Parteien insgesamt gestärkt würde.
Frage: Wann war Ihnen das klar?
Lindner: Donnerstagnacht der letzten Verhandlungswoche. Da sollte es ja eigentlich einen Abschluss geben. Wir haben dann das Tempo erhöht, um zu Klärungen zu kommen. Sonntagabend war klar, dass der für uns wesentliche Richtungswechsel weg von der Umverteilung, dem Status quo, dem Bürokratismus hin zu Freiheit, Erneuerung und Erwirtschaften nicht erreichbar ist. Dass die Union mit den Zwischenergebnissen zufrieden war, sagt mehr über die CDU aus als über die tatsächlichen politischen Vorhaben.
Frage: Sie hätten es in der Hand gehabt, die große Koalition zu verhindern. Können Sie Merkel und Schulz jetzt überhaupt noch kritisieren?
Lindner: Es wäre die kärglichste Form eines Gestaltungsanspruchs, in eine Regierung nur einzutreten, um Schlimmeres zu verhindern. Lieber stellen wir der Regierung aus der Opposition heraus Konzepte entgegen, als im Kabinett den Bremsklotz zu spielen. Eine solche Art von Koalition wäre zum Wählerbeschaffungsprogramm für die AfD geworden. Im Übrigen: All das, was die SPD für eine große Koalition an zusätzlichen Ausgaben fordert, hatte auch Jamaika im Gepäck. Es ging um Mehrausgaben von 60 Milliarden Euro. Bei der SPD gibt es immerhin noch Ansätze für eine vernünftige Industriepolitik, vor allem mit Blick auf den Energiebereich. Das wäre mit den Grünen schlimmer gekommen.
Frage: Eine Abschaffung der privaten Krankenkassen oder einen höheren Spitzensteuersatz, beides SPD-Wünsche, hätte es mit Jamaika nicht gegeben.
Lindner: Zur Gesundheit gab es bei Jamaika noch gar keine endgültige Einigung, daher bleibt der Vergleich Spekulation. Im Übrigen zwingt niemand die Union, sich von der SPD erpressen zu lassen. Sie kann zum Beispiel eine Minderheitsregierung bilden. Wir lassen uns nicht die Verantwortung für Kompromisse zuschieben, mit denen sich Frau Merkel jetzt in die große Koalition rettet, damit politisch alles beim Alten bleibt. Wir haben auch die Grünen nicht nach dem Abbruch der Sondierungen 2013 für die Politik der damaligen großen Koalition verantwortlich gemacht
Frage: Laut Umfragen hat sich seit der Wahl ein Drittel der FDP-Wähler abgewandt, auch die Wirtschaft ist enttäuscht. Sie sagen: Das wäre auch passiert, wenn Jamaika geklappt hätte?
Lindner: In der letzten Umfrage der F.A.Z. von dieser Woche lese ich, dass wir seit Wochen bei zehn Prozent stabil sind.
Frage: Im Vergleich zu einer Befragung vom Oktober war auch das ein Rückgang um zwei Punkte.
Lindner: Die Entscheidung zum Abbruch der Sondierungen war unabhängig von Taktik und Demoskopie. Es war eine Investition in Glaubwürdigkeit und die Chance auf eine wirkliche Erneuerung des Landes, selbst wenn jetzt der Anlauf etwas länger ist. Im Übrigen habe ich aus Gesprächen alles andere als den Eindruck, dass „die“ Wirtschaft enttäuscht wäre. Bei allem Respekt vor den Spitzenfunktionären in Berlin, es gibt auch noch den Praktiker aus dem Mittelstand, der klare Kante schätzt.
Frage: Hofften Sie während der Jamaika-Gespräche, dass sich die anderen zerstreiten und der Abbruch der Sondierung nicht an Ihnen hängenbleibt?
Lindner: Nein. Solchen Erwartungen sollte man sich nicht hingeben. Dafür hatten die meisten Verhandler von Union und Grünen auch ein viel zu hohes Eigeninteresse am Zustandekommen dieses Projekts.
Frage: Jetzt sitzen Sie in der Opposition neben der AfD.
Lindner: Man kann es sich nicht aussuchen. Die AfD bildet mit ihrem völkisch-autoritären Gedankengut den größtmöglichen Gegensatz zu den Freien Demokraten, die dem einzelnen Menschen vertrauen. Die AfD kultiviert Phantasien von der ethnischen Einheit des deutschen Volkes, die mit einer individualistischen Partei wie der FDP nicht den geringsten Berührungspunkt haben.
Frage: International heißt es: Deutschland braucht eine Regierung, aus Gesamtverantwortung für den liberalen Westen. Ist das der FDP egal?
Lindner: Nein. Das war sogar eines der wichtigsten Argumente, die Jamaika-Gespräche zu beenden.
Frage: Wie bitte?
Lindner: Die Erneuerung Europas wird die zentrale Aufgabe der nächsten Dekade sein. Nicht auszudenken, was im nächsten Jahr auf den europäischen Gipfeln los gewesen wäre, wenn eine Jamaika-Koalition über die deutsche Linie entscheiden müsste. Da gibt es fundamentale Unterschiede. Die Grünen wollen Risiken und Finanzen vergemeinschaften, wir wollen die finanzpolitische Eigenverantwortung und realwirtschaftliche Investitionen stärken. Dazwischen gibt es keinen Kompromiss. Hätte Frau Merkel dann einfach ihre Position vertreten und hinterher unsere Zustimmung verlangt?
Frage: Ein FDP-Finanzminister hätte die Verhandlungen in Brüssel doch maßgeblich beeinflusst?
Lindner: Da haben Sie falsche Vorstellungen über den Einfluss eines Finanzministers, der nicht die Rückendeckung seiner Regierungschefin hat. Denken Sie nur an die Griechenland-Rettung im Sommer 2015: Da konnte sich Wolfgang Schäuble nicht gegen die Kanzlerin durchsetzen. Als Minister macht man die Politik der Regierung, dafür müssen die Geschäftsgrundlagen klar sein.
Frage: Schäuble war in derselben Partei wie die Kanzlerin, er konnte nicht mit Koalitionsbruch drohen.
Lindner: Ich bitte Sie: Man kann eine Regierung doch nicht darauf aufbauen, dass man schon den Bruch einkalkuliert! Genau aus diesem Grund wäre das eben nicht die stabile Regierung gewesen, die sich international viele wünschen.
Frage: Sie reden viel von Überzeugungen. Wofür steht eigentlich die neue FDP?
Lindner: Der Markenkern der FDP ist der wohlverstandene liberale Individualismus – verbunden mit sozialer Marktwirtschaft, offener Gesellschaft und Rechtsstaatlichkeit. Dahinter kommen unsere vielen klugen Projekte: die Reform des Bildungsföderalismus, die Entlastung von Bürokratie und von Steuern, die Ordnung des Marktes im Sinne einer offenen Wettbewerbskultur.
Frage: Ist eine Partei bloß eine Marke?
Lindner: Nein. Eine politische Marke zu sein bedeutet, ein klares Profil zu haben – mit eigenständigen Antworten, die den Menschen Orientierung geben. Sie müssen wissen, wen und was sie wählen. Dafür braucht es Berechenbarkeit und einen Qualitätsanspruch: Realismus, Seriosität, Umsetzbarkeit.
Frage: Da sind Sie den Bewegungen von Emmanuel Macron oder Sebastian Kurz näher als den klassischen Parteien, nur nicht so erfolgreich?
Lindner: Nein. Die FDP ist keine Bewegung. Wir sind eine liberale Partei, unser Menschenbild speist sich aus Französischer Revolution und amerikanischer Verfassung, schottischer Philosophie und deutscher Aufklärung. Das ist etwas anderes als der Pragmatismus eines Macron.
Frage: Ist die FDP eine Partei neuen Typs?
Lindner: Wir bemühen uns darum, ein Update zu sein. Aber wir haben ein liberales Grundsatzprogramm, eine kommunalpolitische Basis mit 65.000 Mitgliedern und eine Tradition von Heuss, Scheel, Lambsdorff und Genscher, auf die wir stolz sind. Und wir wollen mehr Verantwortung übernehmen, nächstes Jahr dann in Bayern und Hessen. Von den Volksparteien unterscheidet uns sicher das Bemühen um mehr Basisdemokratie.
Frage: Bei der FDP entscheiden Sie doch alles allein.
Lindner: Bei uns entscheiden alle. Mögliche Koalitionsverträge werden nicht von der Parteiführung durchgewunken, sondern an der Basis abgestimmt. In den Gremien handeln wir kollegial. Diese Rückkopplung nehme ich sehr ernst.
Frage: Wenn Ihr Kollege Kubicki über neue Jamaika-Verhandlungen spekuliert, intervenieren Sie per Twitter.
Lindner: Bei uns sind alle Entscheidungen im Blick auf Jamaika einstimmig getroffen worden, ohne Kontroverse. Und wenn es andere Meinungen gäbe, hätte ich damit kein Problem. Ich vertrete als Vorsitzender das, was meine Partei beschließt.
Frage: Sie halten viel in der Schwebe: Die FDP ist weltoffen, aber kritisch zu Flüchtlingen, proeuropäisch, wenn es nichts kostet, für Steuersenkungen, ohne Steuersenkungspartei zu sein. Kann man so regieren?
Lindner: Ich erkenne mich in der Aufzählung nicht wieder. Wir wollen mehr Europa – in der Sicherheitspolitik, beim digitalen Binnenmarkt, dem Schutz der Außengrenze. Von einem Haushalt für die Euro-Zone halten wir nichts, wenn er eine Art Dispokredit ohne Bedingungen bereitstellt. Und natürlich wollen wir die Steuerlast für alle Bürger verringern. Aber wir lassen uns nicht wie früher darauf reduzieren. Wir wollen eine kanadische Einwanderungsstrategie. Es gibt kein Menschenrecht, sich seinen Standort auf der Welt auszusuchen. Das alles ist ein Programm der Mitte, das die Extreme vermeidet.
Frage: Wo steht die FDP in vier Jahren?
Lindner: Dort, wo sie jetzt steht: in der Mitte der politischen Landschaft. Als Anwalt für die Mitte der Bevölkerung, von der Krankenschwester bis zum Ingenieur. Als die Partei, die Fortschritt nicht fürchtet, sondern beschleunigen will. Und die an einem Erneuerungsprojekt für die nächste Dekade arbeitet, das an Gerhard Schröders Agenda 2010 anknüpft – oder das sich davon inspirieren lässt, was Macron in Frankreich macht.
Frage: Sie setzen darauf, dass die Leute bis zur nächsten Wahl das Jamaika-Debakel vergessen haben?
Lindner: Im Gegenteil. Hoffentlich erinnern sich die Wähler daran, dass sich die FDP auch nach Wahlen daran gebunden fühlt, was sie vor der Wahl gesagt hat. Wir sind mit unserer Entscheidung völlig im Reinen.