Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab dem „Focus“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Olaf Opitz, Jan Wolf Schäfer und Robert Schneider.
Frage: Herr Lindner, Sie wirken verschnupft . . .
Lindner: Ja, ich habe seit Montag eine Erkältung. Jeder kennt das doch: Im Stress funktioniert der Körper. Doch wenn der Druck nachlässt, ist er schnell angreifbar.
Frage: Sie sind erleichtert, dass die Sondierungen vorbei sind?
Lindner: Nein, denn Deutschland ist dadurch in einer Situation, in der es noch nie war: Es gibt keine Regierung.
Frage: Ist das eine Staatskrise, wie viele behaupten?
Lindner: Natürlich nicht. Von einer Staatskrise sind wir weit entfernt. Wir haben ein Parlament und eine geschäftsführende Regierung. Aus der Lage kann sogar eine Stärke erwachsen. Oft wird gesagt, die etablierten Parteien unterschieden sich nicht, und Politiker erinnerten sich nach der Wahl nicht an das, was sie vor der Wahl gesagt hätten. Beides wurde widerlegt. Das entzieht Linkspartei und AfD das Protestpotenzial. Aber es ist eine neue Situation, die nicht leicht zu lösen ist.
Frage: . . . in der die FDP den Schwarzen Peter gezogen hat. Haben Sie mit der heftigen Kritik nach Abbruch der Sondierungen gerechnet?
Lindner: Mir war klar, dass es einen großen Shitstorm geben würde. Das halten wir Freien Demokraten aus. Wir ziehen vor, lieber für Konsequenz und Haltung angegriffen zu werden als
für Beliebigkeit und Postenschacher. Leichtfertig oder taktisch haben wir nicht entschieden. Von morgens bis abends sitzt man zusammen. Danach und dazwischen noch Beratungen mit den eigenen Leuten und mit Experten. Wenn das Ganze dann nicht mit Erfolg belohnt wird, ist es frustrierend.
Frage: Wie viel haben Sie während der Sondierungen geschlafen?
Lindner: Selten mehr als fünf Stunden die Nacht.
Frage: Wann haben Sie das erste Mal gedacht, das mit Jamaika wird nicht klappen?
Lindner: Das war rund zwei Wochen vor der Bundestagswahl. Da hatte ich im FOCUS-Interview geäußert, dass mir für ein Jamaika-Bündnis die Fantasie fehlt.
Frage: Wie kam es zu der Einschätzung?
Lindner: Ich habe mir die Wahlprogramme genau angeschaut und festgestellt, dass die Unterschiede – gerade zwischen FDP und Grünen – bei vielen Themen sehr groß sind. Übrigens auch weltanschaulich, weil Freie Demokraten dem einzelnen Menschen, seiner Vernunft und seinem Verantwortungsgefühl vertrauen. Die Grünen dagegen glauben immer noch, dass sie über das beste Wissen und die beste Moral exklusiv verfügen. Ich habe deshalb auch immer gesagt, die Wahrscheinlichkeit für ein Jamaika-Bündnis steht bei 50:50.
Frage: Wenn Ihnen vorher klar war, Jamaika geht wohl nicht – waren die Sondierungen dann nur Scheinverhandlungen?
Lindner: Der Krafteinsatz über 50 Tage räumt doch jeden Verdacht aus. Wir haben Kompromisse gemacht und Maximalforderungen im Sinne der Einigung geräumt. Die FDP hat beispielsweise auf eine große Steuerreform verzichtet, weil sie nicht durchsetzbar war. Dafür haben wir uns auf die Abschaffung des Solidaritätszuschlags konzentriert. Das Ergebnis: ebenfalls nicht möglich. Eine weitere Forderung von uns: keine zusätzlichen Geldtöpfe in der Währungsunion, die Reformanreize und finanzpolitische Verantwortung schwächen. Erst stärkte uns die Union in dieser Frage den Rücken. Am Sonntagabend sollten die mit der FDP gefundenen Formulierungen dann relativiert werden, um die Grünen im Boot zu halten. Wir waren zu Kompromissen bereit – aber wir haben rote Linien.
Frage: Warum sind Sie nicht schon am Samstag aus den Verhandlungen ausgestiegen?
Lindner: Es gab in der kritischen Donnerstagnacht die Absprache, am Wochenende noch Einigungsversuche zu unternehmen. Dem haben wir uns nicht verweigern wollen. Aber jedem war klar, dass die Chancen schwinden. Am Samstag habe ich in einem 6-Augen- Gespräch der Unionsspitze meine Skepsis dargelegt. Am Sonntagvormittag haben Wolfgang Kubicki und ich den versammelten Unionsspitzen ein zweites Mal Alarmstufe Rot signalisiert. Wir haben den Sonntag über noch bei den großen Vorhaben Einigungsmöglichkeiten gesucht, aber nicht gefunden.
Frage: Wer hat gesagt: Jetzt ist Schluss – Sie oder Wolfgang Kubicki?
Lindner: Der Parteivorsitzende und Verhandlungsführer muss so etwas aussprechen. Er trägt ja auch die politische Verantwortung.
Frage: Dann haben Sie ohne Begründung den Verhandlungssaal verlassen?
Lindner: Was muss man angesichts von 237 festgehaltenen Dissenspunkten, Widerspruch bei zentralen Vorhaben und angesichts der wenig vertrauenerweckenden Öffentlichkeitsarbeit der Grünen noch genau begründen? Wir haben am Sonntagabend dargelegt, dass wir unser Sondierungsergebnis gefunden haben. Keine gemeinsame Idee und kein Vertrauen, also keine Koalition.
Frage: Hat Angela Merkel versucht, Sie zum Bleiben zu bewegen?
Lindner: Die Bundeskanzlerin ist Realistin.
Frage: Wie entscheidend für den Abbruch war Jürgen Trittin, der der FDP am Sonntagmorgen in einem Interview unter anderem Europafeindlichkeit vorwarf?
Lindner: Es war symptomatisch. Dass die Partei von Hans-Dietrich Genscher über sich lesen durfte, man sei europaskeptisch oder nach rechts gerückt, stärkt am Entscheidungstag nicht die Hoffnung auf kollegiale Zusammenarbeit.
Frage: Ist Trittin für Sie der heimliche Grünen-Chef?
Lindner: Bei den Grünen gibt es unterschiedliche Strömungen. Während der Gespräche war oft sichtbar, dass die Verhandlungsführer Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir nicht nur mit CDU, CSU und FDP, sondern auch noch mit ihren Flügeln verhandeln.
Frage: Trittin wirft Ihnen jetzt auch vor, dass Sie mit dem Abbruch der Sondierungen Angela Merkel stürzen wollen.
Lindner: Diese Behauptung von Herrn Trittin spricht für sich. Die Bürger können sich selbst ein Bild machen.
Frage: 2013 wurden die Sondierungen von Union und Grünen ohne großes Getöse beendet. Warum gibt es dieses Mal so viel Emotionen und Kritik?
Lindner: Weil mancher Politiker und mancher Publizist glaubt, Schwarz-Grün sei 2013 eine verpasste Chance gewesen, die jetzt hätte repariert werden sollen. Die Aufregung ist vor allem unter jenen groß, die hofften, mit den Grünen in der Regierung könne die Republik nach links verschoben werden. Wir werden kritisiert, weil wir eine Transferpolitik in Europaablehnen, eine kanadische Einwanderungspolitik befürworten und in Zeiten von Rekordeinnahmen die hart arbeitenden Bürger auch einmal entlasten wollen. Und weil die FDP auch auf eine versorgungssichere wie sozialverträgliche Energiepolitik setzt. Wenn man uns dafür in eine rechtspopulistische Ecke rückt, sagt das nichts über uns, aber viel über verlorene Maßstäbe.
Frage: Wie reagieren Parteifreunde, Gegner? Kriegen Sie viele SMS und Briefe?
Lindner: Es gibt sehr viel Zustimmung zu unserem Kurs. Bundesvorstand und Bundestagsfraktion haben die Entscheidung einstimmig begrüßt. Selbst Gewerkschaftsmitglieder der IG Bergbau und Energie haben sich bei uns bedankt und vor den Verhandlungen demonstriert, weil sie wegen einer grünen Energiepolitik um ihre Arbeitsplätze fürchten mussten.
Frage: Haben Sie seit Sonntag Kontakt zu Angela Merkel gehabt?
Lindner: Selbstverständlich. Wir stehen weiter im Austausch.
Frage: Die Union wirbt weiter um die FDP, Ursula von der Leyen spricht von einer „ausgestreckten Hand“. Ist die Tür für Jamaika doch noch nicht ganz zu?
Lindner: Eine Wiederaufnahme der Gespräche macht keinen Sinn. Die programmatischen Widersprüche verschwinden ja nicht. Auch die fortwährenden Indiskretionen während der Verhandlungen haben gezeigt, dass in einer Jamaika-Konstellation gegenwärtig keine stabile Regierung gebildet werden kann.
Frage: Würden Sie eine CDU-geführte Minderheitsregierung unterstützen?
Lindner: Die Frage hat noch niemand gestellt. Unabhängig von der Regierung werden wir uns konstruktiv einbringen.
Frage: Sie setzen auf Schwarz-Gelb?
Lindner: Wir konzentrieren uns auf die Sache und bleiben eigenständig. Mit der Union wären wir aber vermutlich einig geworden.
Frage: Also wollen Sie Neuwahlen?
Lindner: Auch diese Frage stellt sich uns gegenwärtig nicht.
Frage: Mit welcher Botschaft würde die FDP denn in den nächsten Wahlkampf ziehen?
Lindner: Wir ändern nichts an unseren Positionen und unserer Haltung. Wir wollen, dass Deutschland den Status quo überwindet und bei Bildung, Digitalisierung, Technologie, Europa, Einwanderung und Entlastung wieder gestaltet.
Frage: Warum sollten Wähler der FDP ihre Stimme geben, wenn sie damit rechnen müssen, dass die Freien Demokraten wieder in die Opposition gehen?
Lindner: Die Kernbotschaft ist: Die FDP will gestalten, sie steht aber zu ihren Prinzipien und lässt sich nicht grenzenlos verbiegen. Wir erinnern uns an das, was wir vor der Wahl gesagt haben. Wäre Jamaika ins Amt gekommen, dann hätte die FDP den nützlichen Idioten für eine große Koalition mit ein bisschen Grün gespielt.
Frage: Würde die FDP eine von Merkel geführte Minderheitsregierung mit den Grünen mitwählen?
Lindner: Darüber werde ich nicht spekulieren. Klar ist doch: Eine stabile Regierung ist besser. Deshalb liegt der Ball jetzt im Feld der SPD – die sich, anders als wir, nicht die Mühe einer Sondierung gemacht hat. Aber wenn sich Union und Grüne ja angeblich in den Verhandlungen so nahegekommen sind, dann würden sie die Bildung einer schwarzgrünen Minderheitsregierung ja versuchen. Das müsste dann ziemlich schnell gehen.
Frage: Sind sich Grüne und CDU näher als Union und FDP?
Lindner: Nein, das Gegenteil ist der Fall. Die Grünen waren in den allermeisten Fällen die abweichende Stimme. Die Union war aber leider bereit, die Grünen für das Projekt einzukaufen. Übrig blieb eine große Koalition mit grünem Anstrich. Dem konnten wir nicht die Hand reichen.
Frage: Warum?
Lindner: Es wäre ein Rückschritt. Eine Szene von Loriot lieferten die Grünen mit einem „Kompromiss“ bei der Arbeitsmarktpolitik. Die FDP will das Arbeitszeitgesetz maßvoll liberalisieren, weil sich die Menschen mehr Flexibilität im Leben wünschen. Stattdessen wurde vorgeschlagen, man könne doch die Experimentierklausel nutzen, die Andrea Nahles geplant hatte. Das grüne Angebot an die FDP war also, den Vorschlag einer SPD-Arbeitsministerin der großen Koalition zu akzeptieren. Ich bitte Sie!
Frage: Wird die SPD eine große Koalition ohne Merkel anbieten?
Lindner: Die Union wird sicher lieber mit Frau Merkel in Neuwahlen gehen, als mit der SPD ohne Frau Merkel regieren.
Frage: Gab es eigentlich auch einen Moment, an dem Sie dachten: Jamaika kann klappen?
Lindner: Ja, da gab es sogar zwei Momente. Zu Beginn der letzten Woche und paradoxerweise am Sonntagnachmittag, als die Vorsitzenden ihre maximalen Kompromisslinien austauschten. Leider hielt diese Hoffnung nur drei Stunden.
Frage: Als Sie 2011 als FDP-Generalsekretär zurücktraten, beendeten Sie Ihr Statement vor Journalisten mit den Worten „Auf Wiedersehen“. Zwei Jahre später wurden Sie FDP-Chef. Sonntagabend gingen Sie wieder mit einem demonstrativen „Auf Wiedersehen“. Ein Vorbote, dass Sie mal Kanzler werden wollen?
Lindner: Nein, ich bin Realist. „Auf Wiedersehen“ war in diesem Fall einfach ein Abschiedsgruß.
Frage: Tja, und ein Schnupfen kommt selten allein. Hat der Jamaika-Frust Sie in Berlin so erfasst, dass Sie mit Ihrer Frau jetzt den grünen Szenebezirk Prenzlauer Berg verlassen und lieber in eine Wohnung im bürgerlichen Schöneberg ziehen?
Lindner: Nein. Aber die gut 50 Quadratmeter unserer bisherigen Wohnung wurden uns jetzt dann doch zu eng.
LINDNER-Interview: Jamaika wäre Große Koalition mit ein bisschen Grün gewesen
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab dem „Focus“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Olaf Opitz, Jan Wolf Schäfer und Robert Schneider.
Frage: Herr Lindner, Sie wirken verschnupft . . .
Lindner: Ja, ich habe seit Montag eine Erkältung. Jeder kennt das doch: Im Stress funktioniert der Körper. Doch wenn der Druck nachlässt, ist er schnell angreifbar.
Frage: Sie sind erleichtert, dass die Sondierungen vorbei sind?
Lindner: Nein, denn Deutschland ist dadurch in einer Situation, in der es noch nie war: Es gibt keine Regierung.
Frage: Ist das eine Staatskrise, wie viele behaupten?
Lindner: Natürlich nicht. Von einer Staatskrise sind wir weit entfernt. Wir haben ein Parlament und eine geschäftsführende Regierung. Aus der Lage kann sogar eine Stärke erwachsen. Oft wird gesagt, die etablierten Parteien unterschieden sich nicht, und Politiker erinnerten sich nach der Wahl nicht an das, was sie vor der Wahl gesagt hätten. Beides wurde widerlegt. Das entzieht Linkspartei und AfD das Protestpotenzial. Aber es ist eine neue Situation, die nicht leicht zu lösen ist.
Frage: . . . in der die FDP den Schwarzen Peter gezogen hat. Haben Sie mit der heftigen Kritik nach Abbruch der Sondierungen gerechnet?
Lindner: Mir war klar, dass es einen großen Shitstorm geben würde. Das halten wir Freien Demokraten aus. Wir ziehen vor, lieber für Konsequenz und Haltung angegriffen zu werden als
für Beliebigkeit und Postenschacher. Leichtfertig oder taktisch haben wir nicht entschieden. Von morgens bis abends sitzt man zusammen. Danach und dazwischen noch Beratungen mit den eigenen Leuten und mit Experten. Wenn das Ganze dann nicht mit Erfolg belohnt wird, ist es frustrierend.
Frage: Wie viel haben Sie während der Sondierungen geschlafen?
Lindner: Selten mehr als fünf Stunden die Nacht.
Frage: Wann haben Sie das erste Mal gedacht, das mit Jamaika wird nicht klappen?
Lindner: Das war rund zwei Wochen vor der Bundestagswahl. Da hatte ich im FOCUS-Interview geäußert, dass mir für ein Jamaika-Bündnis die Fantasie fehlt.
Frage: Wie kam es zu der Einschätzung?
Lindner: Ich habe mir die Wahlprogramme genau angeschaut und festgestellt, dass die Unterschiede – gerade zwischen FDP und Grünen – bei vielen Themen sehr groß sind. Übrigens auch weltanschaulich, weil Freie Demokraten dem einzelnen Menschen, seiner Vernunft und seinem Verantwortungsgefühl vertrauen. Die Grünen dagegen glauben immer noch, dass sie über das beste Wissen und die beste Moral exklusiv verfügen. Ich habe deshalb auch immer gesagt, die Wahrscheinlichkeit für ein Jamaika-Bündnis steht bei 50:50.
Frage: Wenn Ihnen vorher klar war, Jamaika geht wohl nicht – waren die Sondierungen dann nur Scheinverhandlungen?
Lindner: Der Krafteinsatz über 50 Tage räumt doch jeden Verdacht aus. Wir haben Kompromisse gemacht und Maximalforderungen im Sinne der Einigung geräumt. Die FDP hat beispielsweise auf eine große Steuerreform verzichtet, weil sie nicht durchsetzbar war. Dafür haben wir uns auf die Abschaffung des Solidaritätszuschlags konzentriert. Das Ergebnis: ebenfalls nicht möglich. Eine weitere Forderung von uns: keine zusätzlichen Geldtöpfe in der Währungsunion, die Reformanreize und finanzpolitische Verantwortung schwächen. Erst stärkte uns die Union in dieser Frage den Rücken. Am Sonntagabend sollten die mit der FDP gefundenen Formulierungen dann relativiert werden, um die Grünen im Boot zu halten. Wir waren zu Kompromissen bereit – aber wir haben rote Linien.
Frage: Warum sind Sie nicht schon am Samstag aus den Verhandlungen ausgestiegen?
Lindner: Es gab in der kritischen Donnerstagnacht die Absprache, am Wochenende noch Einigungsversuche zu unternehmen. Dem haben wir uns nicht verweigern wollen. Aber jedem war klar, dass die Chancen schwinden. Am Samstag habe ich in einem 6-Augen- Gespräch der Unionsspitze meine Skepsis dargelegt. Am Sonntagvormittag haben Wolfgang Kubicki und ich den versammelten Unionsspitzen ein zweites Mal Alarmstufe Rot signalisiert. Wir haben den Sonntag über noch bei den großen Vorhaben Einigungsmöglichkeiten gesucht, aber nicht gefunden.
Frage: Wer hat gesagt: Jetzt ist Schluss – Sie oder Wolfgang Kubicki?
Lindner: Der Parteivorsitzende und Verhandlungsführer muss so etwas aussprechen. Er trägt ja auch die politische Verantwortung.
Frage: Dann haben Sie ohne Begründung den Verhandlungssaal verlassen?
Lindner: Was muss man angesichts von 237 festgehaltenen Dissenspunkten, Widerspruch bei zentralen Vorhaben und angesichts der wenig vertrauenerweckenden Öffentlichkeitsarbeit der Grünen noch genau begründen? Wir haben am Sonntagabend dargelegt, dass wir unser Sondierungsergebnis gefunden haben. Keine gemeinsame Idee und kein Vertrauen, also keine Koalition.
Frage: Hat Angela Merkel versucht, Sie zum Bleiben zu bewegen?
Lindner: Die Bundeskanzlerin ist Realistin.
Frage: Wie entscheidend für den Abbruch war Jürgen Trittin, der der FDP am Sonntagmorgen in einem Interview unter anderem Europafeindlichkeit vorwarf?
Lindner: Es war symptomatisch. Dass die Partei von Hans-Dietrich Genscher über sich lesen durfte, man sei europaskeptisch oder nach rechts gerückt, stärkt am Entscheidungstag nicht die Hoffnung auf kollegiale Zusammenarbeit.
Frage: Ist Trittin für Sie der heimliche Grünen-Chef?
Lindner: Bei den Grünen gibt es unterschiedliche Strömungen. Während der Gespräche war oft sichtbar, dass die Verhandlungsführer Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir nicht nur mit CDU, CSU und FDP, sondern auch noch mit ihren Flügeln verhandeln.
Frage: Trittin wirft Ihnen jetzt auch vor, dass Sie mit dem Abbruch der Sondierungen Angela Merkel stürzen wollen.
Lindner: Diese Behauptung von Herrn Trittin spricht für sich. Die Bürger können sich selbst ein Bild machen.
Frage: 2013 wurden die Sondierungen von Union und Grünen ohne großes Getöse beendet. Warum gibt es dieses Mal so viel Emotionen und Kritik?
Lindner: Weil mancher Politiker und mancher Publizist glaubt, Schwarz-Grün sei 2013 eine verpasste Chance gewesen, die jetzt hätte repariert werden sollen. Die Aufregung ist vor allem unter jenen groß, die hofften, mit den Grünen in der Regierung könne die Republik nach links verschoben werden. Wir werden kritisiert, weil wir eine Transferpolitik in Europaablehnen, eine kanadische Einwanderungspolitik befürworten und in Zeiten von Rekordeinnahmen die hart arbeitenden Bürger auch einmal entlasten wollen. Und weil die FDP auch auf eine versorgungssichere wie sozialverträgliche Energiepolitik setzt. Wenn man uns dafür in eine rechtspopulistische Ecke rückt, sagt das nichts über uns, aber viel über verlorene Maßstäbe.
Frage: Wie reagieren Parteifreunde, Gegner? Kriegen Sie viele SMS und Briefe?
Lindner: Es gibt sehr viel Zustimmung zu unserem Kurs. Bundesvorstand und Bundestagsfraktion haben die Entscheidung einstimmig begrüßt. Selbst Gewerkschaftsmitglieder der IG Bergbau und Energie haben sich bei uns bedankt und vor den Verhandlungen demonstriert, weil sie wegen einer grünen Energiepolitik um ihre Arbeitsplätze fürchten mussten.
Frage: Haben Sie seit Sonntag Kontakt zu Angela Merkel gehabt?
Lindner: Selbstverständlich. Wir stehen weiter im Austausch.
Frage: Die Union wirbt weiter um die FDP, Ursula von der Leyen spricht von einer „ausgestreckten Hand“. Ist die Tür für Jamaika doch noch nicht ganz zu?
Lindner: Eine Wiederaufnahme der Gespräche macht keinen Sinn. Die programmatischen Widersprüche verschwinden ja nicht. Auch die fortwährenden Indiskretionen während der Verhandlungen haben gezeigt, dass in einer Jamaika-Konstellation gegenwärtig keine stabile Regierung gebildet werden kann.
Frage: Würden Sie eine CDU-geführte Minderheitsregierung unterstützen?
Lindner: Die Frage hat noch niemand gestellt. Unabhängig von der Regierung werden wir uns konstruktiv einbringen.
Frage: Sie setzen auf Schwarz-Gelb?
Lindner: Wir konzentrieren uns auf die Sache und bleiben eigenständig. Mit der Union wären wir aber vermutlich einig geworden.
Frage: Also wollen Sie Neuwahlen?
Lindner: Auch diese Frage stellt sich uns gegenwärtig nicht.
Frage: Mit welcher Botschaft würde die FDP denn in den nächsten Wahlkampf ziehen?
Lindner: Wir ändern nichts an unseren Positionen und unserer Haltung. Wir wollen, dass Deutschland den Status quo überwindet und bei Bildung, Digitalisierung, Technologie, Europa, Einwanderung und Entlastung wieder gestaltet.
Frage: Warum sollten Wähler der FDP ihre Stimme geben, wenn sie damit rechnen müssen, dass die Freien Demokraten wieder in die Opposition gehen?
Lindner: Die Kernbotschaft ist: Die FDP will gestalten, sie steht aber zu ihren Prinzipien und lässt sich nicht grenzenlos verbiegen. Wir erinnern uns an das, was wir vor der Wahl gesagt haben. Wäre Jamaika ins Amt gekommen, dann hätte die FDP den nützlichen Idioten für eine große Koalition mit ein bisschen Grün gespielt.
Frage: Würde die FDP eine von Merkel geführte Minderheitsregierung mit den Grünen mitwählen?
Lindner: Darüber werde ich nicht spekulieren. Klar ist doch: Eine stabile Regierung ist besser. Deshalb liegt der Ball jetzt im Feld der SPD – die sich, anders als wir, nicht die Mühe einer Sondierung gemacht hat. Aber wenn sich Union und Grüne ja angeblich in den Verhandlungen so nahegekommen sind, dann würden sie die Bildung einer schwarzgrünen Minderheitsregierung ja versuchen. Das müsste dann ziemlich schnell gehen.
Frage: Sind sich Grüne und CDU näher als Union und FDP?
Lindner: Nein, das Gegenteil ist der Fall. Die Grünen waren in den allermeisten Fällen die abweichende Stimme. Die Union war aber leider bereit, die Grünen für das Projekt einzukaufen. Übrig blieb eine große Koalition mit grünem Anstrich. Dem konnten wir nicht die Hand reichen.
Frage: Warum?
Lindner: Es wäre ein Rückschritt. Eine Szene von Loriot lieferten die Grünen mit einem „Kompromiss“ bei der Arbeitsmarktpolitik. Die FDP will das Arbeitszeitgesetz maßvoll liberalisieren, weil sich die Menschen mehr Flexibilität im Leben wünschen. Stattdessen wurde vorgeschlagen, man könne doch die Experimentierklausel nutzen, die Andrea Nahles geplant hatte. Das grüne Angebot an die FDP war also, den Vorschlag einer SPD-Arbeitsministerin der großen Koalition zu akzeptieren. Ich bitte Sie!
Frage: Wird die SPD eine große Koalition ohne Merkel anbieten?
Lindner: Die Union wird sicher lieber mit Frau Merkel in Neuwahlen gehen, als mit der SPD ohne Frau Merkel regieren.
Frage: Gab es eigentlich auch einen Moment, an dem Sie dachten: Jamaika kann klappen?
Lindner: Ja, da gab es sogar zwei Momente. Zu Beginn der letzten Woche und paradoxerweise am Sonntagnachmittag, als die Vorsitzenden ihre maximalen Kompromisslinien austauschten. Leider hielt diese Hoffnung nur drei Stunden.
Frage: Als Sie 2011 als FDP-Generalsekretär zurücktraten, beendeten Sie Ihr Statement vor Journalisten mit den Worten „Auf Wiedersehen“. Zwei Jahre später wurden Sie FDP-Chef. Sonntagabend gingen Sie wieder mit einem demonstrativen „Auf Wiedersehen“. Ein Vorbote, dass Sie mal Kanzler werden wollen?
Lindner: Nein, ich bin Realist. „Auf Wiedersehen“ war in diesem Fall einfach ein Abschiedsgruß.
Frage: Tja, und ein Schnupfen kommt selten allein. Hat der Jamaika-Frust Sie in Berlin so erfasst, dass Sie mit Ihrer Frau jetzt den grünen Szenebezirk Prenzlauer Berg verlassen und lieber in eine Wohnung im bürgerlichen Schöneberg ziehen?
Lindner: Nein. Aber die gut 50 Quadratmeter unserer bisherigen Wohnung wurden uns jetzt dann doch zu eng.