FDP|
21.07.2017 - 12:15LINDNER-Interview: Politik des Beschwichtigens ist am Ende
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Eßlinger Zeitung“ (Freitag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Hermann Neu:
Frage: Der Konflikt mit der Türkei eskaliert. Was soll die Bundesregierung tun? Bisher hat sie ja versucht, den Ball flach zu halten.
Lindner: Die Politik der Beschwichtigung und des Abwartens gegenüber der Türkei ist spätestens jetzt an ihrem Ende angekommen. Mit der Regierung Erdogan kann nicht kooperiert werden. Wir können nicht akzeptieren, dass der lange Arm aus Ankara über Ditib bis in die deutsche Gesellschaft reicht. Es kann keine Gespräche geben über eine Ausweitung der Zollunion, über Visaerleichterungen kann man nicht sprechen, zusätzliche Bürgschaften für Exporte in die Türkei kann es nicht geben. Erdogan muss verdeutlicht werden, dass er einen wirtschaftlichen Preis zahlt für seine autoritäre Politik.
Frage: Ihre Partei ist in NRW in eine schwarz-gelbe und in Schleswig-Holstein in eine Jamaika-Koalition mit der CDU eingezogen. Im Bund erscheint Schwarz-Gelb möglich. Nach früheren Wahlen war in solcher Lage die Rede von einem Richtungsentscheid, erinnert sei an Kohls geistig-moralische Wende oder das rot-grüne Projekt Schröders. Sie raten da eher zu ideologischer Abrüstung. Warum?
Lindner: Koalitionen sind Zweckgemeinschaften zur Lösung von Problemen. So sollte man auch die Gespräche führen. Die FDP geht eigenständig in die Bundestagswahl. Wir haben ein eigenes Programm, im Zentrum steht der einzelne Mensch. Den wollen wir durch Bildung stark machen, dem trauen wir zu, sein Leben selbstverantwortlich zu führen, wir wollen ihn schützen vor den Tentakeln der Bürokratie, dem Abkassieren der Gehaltserhöhungen und dem Bespitzeln im Privaten. Wir wollen regieren – aber eben nur, wenn wir die liberale Handschrift sichtbar machen können. Und wenn man nicht hinreichend viel realisieren kann, gehen wir – wie in Baden-Württemberg – in die Opposition.
Frage: Laut Analysen der Wählerwanderungen hat die FDP in NRW stärker von der SPD und den Grünen profitiert als von der CDU. Was heißt das über Ihren Kurs in der neuen Landesregierung?
Lindner: Dass wir an den Themen prioritär festhalten, die für die Wählerinnen und Wähler der FDP wichtig waren. Das war die Priorität für die Bildungspolitik, die im Alltag funktionieren muss und sich verabschieden muss von ideologisch umgesetzten Vorhaben wie einer Inklusion ohne Qualität. Das heißt Verbesserung der frühkindlichen Betreuung, weil das für die Familien wichtig und für die Vorbereitung für den späteren Bildungsweg der Kinder entscheidend ist. Es ist die Schaffung innovativer Arbeitsplätze, die Wohlstand in der Zukunft garantieren und es ist vor allem die Verwirklichung der Digitalisierung, endlich ein Glasfasernetz und ein Bürgeramt, das man zu jeder Zeit und an jedem Ort mit dem Smartphone erreicht. Dafür sind wir gewählt worden und dafür haben wir übrigens auch die Ministerien ausgewählt: Kinder, Jugend und Familie, Integration und Flüchtlinge, Schule und Bildung sowie Digitales und Energie.
Frage: War es kein Problem, dass Sie wie angekündigt als Nummer eins in NRW schon nach wenigen Monaten in Richtung Bundespolitik abwandern wollen?
Lindner: Das hat uns im Gegenteil geholfen. Wir haben geworben dafür, dass es in Nordrhein-Westfalen einen politischen Wechsel geben sollte. Und ich habe zugleich schon vor Jahren erklärt, dass ich meine politische Tätigkeit in Berlin fortsetzen möchte. Ich habe die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen gebeten, die FDP mit einem Mandat auszustatten, auch als Empfehlung an den Rest der Republik, dass ein Comeback der FDP sinnvoll ist. Und die Menschen waren so großzügig, uns mit dem besten Wahlergebnis seit dem Bestehen des Landes auszustatten.
Frage: In der Bundespolitik hat die SPD ihre Vorstellungen etwa zur Wirtschaftspolitik, zur Sozialpolitik und zur Zuwanderung unterbreitet. Die Union hält sich bewusst im Ungefähren. Was halten Sie davon?
Lindner: Das Programm der SPD ist ein sprudelnder Quell immer neuer Ideen, wo der Staat eingreifen sollte. Die CDU macht es sich leichter, deren Programm kann man mit zwei Worten zusammenfassen. Das erste ist „Weiter“, das andere „so“. Wir wollen das Land voranbringen, ich mache es mal an einem einzigen Beispiel deutlich: der Steuerpolitik. Die CDU will von den 145 Milliarden Euro, die der Staat bis 2021 mehr erhält, den Bürgern nur 15 Milliarden zurückgeben. Das halte ich für eine fiskalische Maßlosigkeit. Wir sind der Ansicht, dass man in der Mitte der Gesellschaft die Menschen entlasten muss. Zum Beispiel dadurch, dass wir bei der Grunderwerbsteuer einen Freibetrag schaffen, damit es Familien leichter gemacht wird, den Lebenstraum vom Eigentum zu erfüllen. So schützt man sich auch vor Altersarmut.
Frage: In der Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik steuern Sie einen anderen Kurs als etwa die Union. Was wären in einem möglichen Bündnis für Sie die wichtigsten Aspekte, etwa eines Zuwanderungsgesetzes für Fachkräfte?
Lindner: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, das klar trennt. Flüchtlinge kommen auf Zeit zu uns, werden gefördert, müssen aber in der Regel in ihre alte Heimat zurückkehren, wenn dort keine Gefahr mehr besteht. Das humanitäre Völkerrecht kann kein allgemeines Einwanderungsrecht begründen. Da müssen wir auch bei den Abschiebungen bei denen, die sich nicht legal bei uns aufhalten, besser werden. Zum anderen brauchen wir nach kanadischem Vorbild ein Punktesystem für Fachkräfte, die uns fehlen. Im Bereich der Altenpflege, Schweißer, Ingenieure, IT-Fachkräfte. Dazu brauchen wir endlich eine Rechtsgrundlage. Ich weiß nicht, wieso das in Deutschland nicht möglich ist und warum das so lange gedauert hat.
Frage: Sie sprechen sich gegen eine staatlich verordnete Verkehrswende weg vom Verbrennungsmotor aus. Die vergangenen Jahrzehnte zeigen allerdings von der Einführung bleifreien Benzins bis hin zur Katalysatorpflicht, dass es in Deutschland ohne zumindest sanften Druck auf die Wirtschaft nicht gegangen ist. China macht beim Elektroauto Druck. Verliert die deutsche Wirtschaft da nicht den Anschluss?
Lindner: Deshalb muss man klug vorgehen. Ich bin beim Begriff Verkehrswende bereits alarmiert, weil die Nähe zur Energiewende mich begrifflich warnt. Die Fehler der Energiewende, auf Planwirtschaft zu setzen, sollten wir beim Verkehr nicht wiederholen. Ich bin für die Perspektive eines klimaschonenden und klimaneutralen Verkehrs. Aber was die Technologie für den Weg dorthin angeht, plädiere ich für Offenheit und für Vertrauen in die Kreativität unserer Ingenieure gerade hier im deutschen Südwesten. Ob also die Elektrifizierung das Mittel der Wahl ist, wer weiß das? Wenn die Grünen 2030 den Verbrennungsmotor verbieten wollen und wir alle Batterien haben, deren seltene Erden unter unmenschlichen Bedingungen im Ausland gewonnen werden müssen, und die zu 40 Prozent mit Strom aus Kohle geladen werden, ist nichts gewonnen. Auf der anderen Seite gibt es synthetische Kraftstoffe, die klimaneutral in Verbrennungsmotoren eingesetzt werden können, oder auch Wasserstoff-Optionen. Im Ziel gibt es einen großen Konsens. Nur Bornierte und Ewiggestrige lehnen das ab. Aber über den Weg streiten die Marktwirtschaftler, zu denen wir uns zählen, mit den Leuten, die das im wahrsten Sinn des Wortes am grünen Tisch machen wollen. Dazu hat Herr Kretschmann ja alles Notwendige gesagt.
Frage: Die Liberalen haben immer die Selbstbestimmung und wirtschaftliche Freiheit der Menschen auf ihre Fahnen geschrieben. Inzwischen ist bei der Chancengerechtigkeit einiges durcheinandergeraten. In Ballungszentren ist die auch für die Alterssicherung bedeutsame eigene Wohnung für Normalverdiener inzwischen eine Illusion. Wie wollen Sie hier umsteuern?
Lindner: Nicht nur für den Normalverdiener. Wir wollen es generell leichter machen, zu privatem Eigentum zu kommen. Man muss bei der Wohnungspolitik mehrere Maßnahmen gleichzeitig ergreifen. Die erste Maßnahme ist, dass gebaut wird. In Deutschland wird zu wenig gebaut, weil die Baugenehmigung zu langsam kommen, es zu wenige Flächen gibt, die Umnutzung von Gewerbe zu Wohnen schwerfällt. Zweitens werden die Baustandards immer weiter getrieben, dadurch steigen die Kosten selbst für die Mieter im kommunalen Wohneigentum. Drittens: Wir wollen den genannten Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer. Dann würde eine Familie etwa erst dann Grunderwerbsteuer bezahlen, wenn die Immobilie mehr als 500 000 Euro kostet. Viertens bin ich dafür, dass man bei Neubauprojekten, die geplant werden, Investoren in die Verantwortung nimmt. Wer als Bauträger an der Penthouse-Wohnung im Dachgeschoss gut verdient, den muss man gleichzeitig im gemäßigten Rahmen verpflichten, in den mittleren Etagen bezahlbaren Wohnraum, gerne auch zur Miete, anbieten.
Frage: Zur Europapolitik: Aktuell mit der faktischen Abschaffung der Gewaltenteilung in Polen, latent in Ungarn etwa mit der Einschränkung der Pressefreiheit – Rechtspopulisten haben sich darangemacht, den freiheitlichen Rechtsstaat zu demontieren. Wie kann eine Reaktion der anderen europäischen Staaten aussehen?
Lindner: Europa muss sich zu seinen Werten und Prinzipien bekennen. Das ist viel zu lange nicht passiert. Beim Euro werden fortwährend die roten Linien überschritten und es wird Geld ausbezahlt, obwohl nach allem, was verabredet worden ist, das nicht hätte passieren dürfen. In Polen und Ungarn erlauben wir Veränderungen in Richtung auf antiliberale Demokratien und autoritäre Strukturen, mit denen diese Länder niemals hätten Mitglieder der EU werden können. Gerade mit Blick auf Herrn Orban und Herrn Kaczynski ist es erforderlich, dass auch über die Ahndung der Regelverstöße nachgedacht wird. Etwa indem etwa Zahlungen nicht mehr geleistet werden, oder bis am Ende zum Entzug des Stimmrechts. Da sind die Standards verloren gegangen. Als ÖVP und FPÖ in Wien regiert haben, stand Europa Kopf. Was nehmen wir jetzt hin, was in diesen Ländern passiert? Das kann nicht so weitergehen.
Frage: Laut einer Studie finden junge Menschen die Demokratie zwar ganz gut, sie wissen aber oft nicht, wie sie funktioniert. Was ist da in der Erziehung und Lehre schiefgelaufen?
Lindner: Es ist eine Aufgabe für uns alle, für die Eltern, die Medien, die Politik und auch für den Staat, Demokratiebildung zu machen. Allerdings kann man nicht alles auf die öffentliche Verantwortung schieben. Es gibt auch in den Familien eine Verantwortung, den Nachwuchs mit einer zivilisatorischen Mitgift auszustatten. Ich gehe gerne in Hörsäle. Dort diskutieren wir nicht nur FDP-Themen, sondern ganz grundlegende Fragen zum Funktionieren von Staat und Wirtschaft. Vielleicht machen andere das auch.
LINDNER-Interview: Politik des Beschwichtigens ist am Ende
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Eßlinger Zeitung“ (Freitag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Hermann Neu:
Frage: Der Konflikt mit der Türkei eskaliert. Was soll die Bundesregierung tun? Bisher hat sie ja versucht, den Ball flach zu halten.
Lindner: Die Politik der Beschwichtigung und des Abwartens gegenüber der Türkei ist spätestens jetzt an ihrem Ende angekommen. Mit der Regierung Erdogan kann nicht kooperiert werden. Wir können nicht akzeptieren, dass der lange Arm aus Ankara über Ditib bis in die deutsche Gesellschaft reicht. Es kann keine Gespräche geben über eine Ausweitung der Zollunion, über Visaerleichterungen kann man nicht sprechen, zusätzliche Bürgschaften für Exporte in die Türkei kann es nicht geben. Erdogan muss verdeutlicht werden, dass er einen wirtschaftlichen Preis zahlt für seine autoritäre Politik.
Frage: Ihre Partei ist in NRW in eine schwarz-gelbe und in Schleswig-Holstein in eine Jamaika-Koalition mit der CDU eingezogen. Im Bund erscheint Schwarz-Gelb möglich. Nach früheren Wahlen war in solcher Lage die Rede von einem Richtungsentscheid, erinnert sei an Kohls geistig-moralische Wende oder das rot-grüne Projekt Schröders. Sie raten da eher zu ideologischer Abrüstung. Warum?
Lindner: Koalitionen sind Zweckgemeinschaften zur Lösung von Problemen. So sollte man auch die Gespräche führen. Die FDP geht eigenständig in die Bundestagswahl. Wir haben ein eigenes Programm, im Zentrum steht der einzelne Mensch. Den wollen wir durch Bildung stark machen, dem trauen wir zu, sein Leben selbstverantwortlich zu führen, wir wollen ihn schützen vor den Tentakeln der Bürokratie, dem Abkassieren der Gehaltserhöhungen und dem Bespitzeln im Privaten. Wir wollen regieren – aber eben nur, wenn wir die liberale Handschrift sichtbar machen können. Und wenn man nicht hinreichend viel realisieren kann, gehen wir – wie in Baden-Württemberg – in die Opposition.
Frage: Laut Analysen der Wählerwanderungen hat die FDP in NRW stärker von der SPD und den Grünen profitiert als von der CDU. Was heißt das über Ihren Kurs in der neuen Landesregierung?
Lindner: Dass wir an den Themen prioritär festhalten, die für die Wählerinnen und Wähler der FDP wichtig waren. Das war die Priorität für die Bildungspolitik, die im Alltag funktionieren muss und sich verabschieden muss von ideologisch umgesetzten Vorhaben wie einer Inklusion ohne Qualität. Das heißt Verbesserung der frühkindlichen Betreuung, weil das für die Familien wichtig und für die Vorbereitung für den späteren Bildungsweg der Kinder entscheidend ist. Es ist die Schaffung innovativer Arbeitsplätze, die Wohlstand in der Zukunft garantieren und es ist vor allem die Verwirklichung der Digitalisierung, endlich ein Glasfasernetz und ein Bürgeramt, das man zu jeder Zeit und an jedem Ort mit dem Smartphone erreicht. Dafür sind wir gewählt worden und dafür haben wir übrigens auch die Ministerien ausgewählt: Kinder, Jugend und Familie, Integration und Flüchtlinge, Schule und Bildung sowie Digitales und Energie.
Frage: War es kein Problem, dass Sie wie angekündigt als Nummer eins in NRW schon nach wenigen Monaten in Richtung Bundespolitik abwandern wollen?
Lindner: Das hat uns im Gegenteil geholfen. Wir haben geworben dafür, dass es in Nordrhein-Westfalen einen politischen Wechsel geben sollte. Und ich habe zugleich schon vor Jahren erklärt, dass ich meine politische Tätigkeit in Berlin fortsetzen möchte. Ich habe die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen gebeten, die FDP mit einem Mandat auszustatten, auch als Empfehlung an den Rest der Republik, dass ein Comeback der FDP sinnvoll ist. Und die Menschen waren so großzügig, uns mit dem besten Wahlergebnis seit dem Bestehen des Landes auszustatten.
Frage: In der Bundespolitik hat die SPD ihre Vorstellungen etwa zur Wirtschaftspolitik, zur Sozialpolitik und zur Zuwanderung unterbreitet. Die Union hält sich bewusst im Ungefähren. Was halten Sie davon?
Lindner: Das Programm der SPD ist ein sprudelnder Quell immer neuer Ideen, wo der Staat eingreifen sollte. Die CDU macht es sich leichter, deren Programm kann man mit zwei Worten zusammenfassen. Das erste ist „Weiter“, das andere „so“. Wir wollen das Land voranbringen, ich mache es mal an einem einzigen Beispiel deutlich: der Steuerpolitik. Die CDU will von den 145 Milliarden Euro, die der Staat bis 2021 mehr erhält, den Bürgern nur 15 Milliarden zurückgeben. Das halte ich für eine fiskalische Maßlosigkeit. Wir sind der Ansicht, dass man in der Mitte der Gesellschaft die Menschen entlasten muss. Zum Beispiel dadurch, dass wir bei der Grunderwerbsteuer einen Freibetrag schaffen, damit es Familien leichter gemacht wird, den Lebenstraum vom Eigentum zu erfüllen. So schützt man sich auch vor Altersarmut.
Frage: In der Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik steuern Sie einen anderen Kurs als etwa die Union. Was wären in einem möglichen Bündnis für Sie die wichtigsten Aspekte, etwa eines Zuwanderungsgesetzes für Fachkräfte?
Lindner: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, das klar trennt. Flüchtlinge kommen auf Zeit zu uns, werden gefördert, müssen aber in der Regel in ihre alte Heimat zurückkehren, wenn dort keine Gefahr mehr besteht. Das humanitäre Völkerrecht kann kein allgemeines Einwanderungsrecht begründen. Da müssen wir auch bei den Abschiebungen bei denen, die sich nicht legal bei uns aufhalten, besser werden. Zum anderen brauchen wir nach kanadischem Vorbild ein Punktesystem für Fachkräfte, die uns fehlen. Im Bereich der Altenpflege, Schweißer, Ingenieure, IT-Fachkräfte. Dazu brauchen wir endlich eine Rechtsgrundlage. Ich weiß nicht, wieso das in Deutschland nicht möglich ist und warum das so lange gedauert hat.
Frage: Sie sprechen sich gegen eine staatlich verordnete Verkehrswende weg vom Verbrennungsmotor aus. Die vergangenen Jahrzehnte zeigen allerdings von der Einführung bleifreien Benzins bis hin zur Katalysatorpflicht, dass es in Deutschland ohne zumindest sanften Druck auf die Wirtschaft nicht gegangen ist. China macht beim Elektroauto Druck. Verliert die deutsche Wirtschaft da nicht den Anschluss?
Lindner: Deshalb muss man klug vorgehen. Ich bin beim Begriff Verkehrswende bereits alarmiert, weil die Nähe zur Energiewende mich begrifflich warnt. Die Fehler der Energiewende, auf Planwirtschaft zu setzen, sollten wir beim Verkehr nicht wiederholen. Ich bin für die Perspektive eines klimaschonenden und klimaneutralen Verkehrs. Aber was die Technologie für den Weg dorthin angeht, plädiere ich für Offenheit und für Vertrauen in die Kreativität unserer Ingenieure gerade hier im deutschen Südwesten. Ob also die Elektrifizierung das Mittel der Wahl ist, wer weiß das? Wenn die Grünen 2030 den Verbrennungsmotor verbieten wollen und wir alle Batterien haben, deren seltene Erden unter unmenschlichen Bedingungen im Ausland gewonnen werden müssen, und die zu 40 Prozent mit Strom aus Kohle geladen werden, ist nichts gewonnen. Auf der anderen Seite gibt es synthetische Kraftstoffe, die klimaneutral in Verbrennungsmotoren eingesetzt werden können, oder auch Wasserstoff-Optionen. Im Ziel gibt es einen großen Konsens. Nur Bornierte und Ewiggestrige lehnen das ab. Aber über den Weg streiten die Marktwirtschaftler, zu denen wir uns zählen, mit den Leuten, die das im wahrsten Sinn des Wortes am grünen Tisch machen wollen. Dazu hat Herr Kretschmann ja alles Notwendige gesagt.
Frage: Die Liberalen haben immer die Selbstbestimmung und wirtschaftliche Freiheit der Menschen auf ihre Fahnen geschrieben. Inzwischen ist bei der Chancengerechtigkeit einiges durcheinandergeraten. In Ballungszentren ist die auch für die Alterssicherung bedeutsame eigene Wohnung für Normalverdiener inzwischen eine Illusion. Wie wollen Sie hier umsteuern?
Lindner: Nicht nur für den Normalverdiener. Wir wollen es generell leichter machen, zu privatem Eigentum zu kommen. Man muss bei der Wohnungspolitik mehrere Maßnahmen gleichzeitig ergreifen. Die erste Maßnahme ist, dass gebaut wird. In Deutschland wird zu wenig gebaut, weil die Baugenehmigung zu langsam kommen, es zu wenige Flächen gibt, die Umnutzung von Gewerbe zu Wohnen schwerfällt. Zweitens werden die Baustandards immer weiter getrieben, dadurch steigen die Kosten selbst für die Mieter im kommunalen Wohneigentum. Drittens: Wir wollen den genannten Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer. Dann würde eine Familie etwa erst dann Grunderwerbsteuer bezahlen, wenn die Immobilie mehr als 500 000 Euro kostet. Viertens bin ich dafür, dass man bei Neubauprojekten, die geplant werden, Investoren in die Verantwortung nimmt. Wer als Bauträger an der Penthouse-Wohnung im Dachgeschoss gut verdient, den muss man gleichzeitig im gemäßigten Rahmen verpflichten, in den mittleren Etagen bezahlbaren Wohnraum, gerne auch zur Miete, anbieten.
Frage: Zur Europapolitik: Aktuell mit der faktischen Abschaffung der Gewaltenteilung in Polen, latent in Ungarn etwa mit der Einschränkung der Pressefreiheit – Rechtspopulisten haben sich darangemacht, den freiheitlichen Rechtsstaat zu demontieren. Wie kann eine Reaktion der anderen europäischen Staaten aussehen?
Lindner: Europa muss sich zu seinen Werten und Prinzipien bekennen. Das ist viel zu lange nicht passiert. Beim Euro werden fortwährend die roten Linien überschritten und es wird Geld ausbezahlt, obwohl nach allem, was verabredet worden ist, das nicht hätte passieren dürfen. In Polen und Ungarn erlauben wir Veränderungen in Richtung auf antiliberale Demokratien und autoritäre Strukturen, mit denen diese Länder niemals hätten Mitglieder der EU werden können. Gerade mit Blick auf Herrn Orban und Herrn Kaczynski ist es erforderlich, dass auch über die Ahndung der Regelverstöße nachgedacht wird. Etwa indem etwa Zahlungen nicht mehr geleistet werden, oder bis am Ende zum Entzug des Stimmrechts. Da sind die Standards verloren gegangen. Als ÖVP und FPÖ in Wien regiert haben, stand Europa Kopf. Was nehmen wir jetzt hin, was in diesen Ländern passiert? Das kann nicht so weitergehen.
Frage: Laut einer Studie finden junge Menschen die Demokratie zwar ganz gut, sie wissen aber oft nicht, wie sie funktioniert. Was ist da in der Erziehung und Lehre schiefgelaufen?
Lindner: Es ist eine Aufgabe für uns alle, für die Eltern, die Medien, die Politik und auch für den Staat, Demokratiebildung zu machen. Allerdings kann man nicht alles auf die öffentliche Verantwortung schieben. Es gibt auch in den Familien eine Verantwortung, den Nachwuchs mit einer zivilisatorischen Mitgift auszustatten. Ich gehe gerne in Hörsäle. Dort diskutieren wir nicht nur FDP-Themen, sondern ganz grundlegende Fragen zum Funktionieren von Staat und Wirtschaft. Vielleicht machen andere das auch.