FDP|
22.06.2017 - 08:15LINDNER-Interview: Sind Sie neoliberal, Herr Lindner?
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Zeit“ (Donnerstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Lisa Nienhaus:
Frage: Herr Lindner, in NRW ist Schwarz-Gelb zurück. Bundesweit läuft es auch gut für die FDP. Ist das die Rückkehr des Neoliberalismus?
Christian Lindner: Mit dem Comeback der Freien Demokraten werden die Gedanken von Liberalität und Individualität wieder stärker.
Frage: Sie sagen liberal statt neoliberal. Wieso?
Lindner: Das Wort neoliberal hat sich von seiner ursprünglichen Bedeutung völlig entfernt und ist ein deformierter Streitbegriff geworden. Joachim Gauck hat einmal versucht, den Begriff zu rehabilitieren. Er ist damit nicht durchgedrungen.
Frage: Auf einer Skala von 0 bis 10: Wie sehr ärgert es Sie, wenn jemand Sie den „neoliberalen Christian Lindner“ nennt?
Lindner: Ach, es gäbe schlimmere Vorwürfe.
Frage: Also sagen wir: eine 4?
Lindner: Nein, wer das Wort als Vorwurf nutzt, blamiert sich doch vor jedem informierten Publikum. Anders als manche glauben machen, war Neoliberalismus ja gerade nie der Gedanke, dass der Markt alles allein richte. Der neue Liberalismus forderte vielmehr einen starken Staat als Schiedsrichter, der in Markt und Gesellschaft die Freiheit jedes Einzelnen verteidigt. Indem zum Beispiel mächtige Monopole zerschlagen werden.
Frage: Wenn Sie nicht neoliberal genannt werden wollen: Ist dann marktliberal das bessere Wort oder wirtschaftsliberal?
Lindner: Ich kann mit diesen Adjektiven nichts anfangen.
Frage: Was ist mit sozialliberal?
Lindner: Auch ein Tarnwort. Wer sagt, er sei sozialliberal, der ist oft eigentlich ein Sozialdemokrat und will das nur progressiver erscheinen lassen. Und wenn es in der AfD Politiker gibt, die von den Medien als wirtschaftsliberal bezeichnet wurden, dann ist das eine gefährliche Verharmlosung. Wie kann man für Freiheit in der Wirtschaft sein, aber nicht für Freiheit in der Gesellschaft? Liberalität gibt es nicht als Spartenprogramm.
Frage: Wer sagt denn, dass Ihre Definition von Liberalismus die richtige ist?
Lindner: Das Sympathische am Liberalismus ist seine Bescheidenheit, nicht im Besitz letzter Wahrheiten sein zu wollen. Machen wir es doch einfach konkret.
Frage: Gut. Im Koalitionsvertrag für NRW haben Sie etwas durchgesetzt, das Sie auch bundesweit anstreben: Sie wollen die Grunderwerbsteuer bis zu einer gewissen Höhe abschaffen. Damit helfen Sie vor allem den Wohlhabenderen in Deutschland. Ist das liberal?
Lindner: Man kann die Vermögensverteilung dadurch zu verändern versuchen, dass man wenigen etwas wegnimmt. Das ist in Frankreich gescheitert. Man kann aber auch die Verteilung der Vermögen verändern, indem man es vielen erleichtert, überhaupt zu einer Form von Wohlstand zu kommen. Die eigene Wohnung ist nicht nur ein Lebenstraum, sondern auch Vorsorge gegen Altersarmut.
Frage: Aber alle profitieren: nicht nur die, die sich endlich eine kleine Wohnung leisten können, sondern auch die, die sich eine Villa zulegen.
Lindner: Mit diesen Argumenten wird die Mittelschicht seit Jahren in Geiselhaft genommen. Weil von einer Entlastung der Ingenieur profitieren würde, geht der Facharbeiter leer aus. Ja, es sollen alle profitieren.
Frage: Bis auf diejenigen, die sich gar kein Haus leisten können.
Lindner: Die Eigentümerquote ist überall in Europa höher. In Deutschland geht sie in der jüngeren Generation sogar noch zurück. Damit darf man sich nicht abfinden! Abgesehen davon, wollen wir die Entlastung nicht auf wenige konzentrieren.
Frage: Was haben Sie vor?
Lindner: Erstens: Sorgen wir dafür, dass die Sozialbeiträge nicht weiter steigen, vielleicht sogar sinken. Zweitens: Schaffen wir die Stromsteuer ab. Die zahlt auch der Bafög-Empfänger. Drittens: Gestalten wir die Zuverdienstgrenzen zu Hartz IV großzügig neu, damit von jeder Stunde, die jemand im Minijob arbeitet, auch etwas bleibt. Und viertens sollten wir den Solidaritätszuschlag und die kalte Progression abschaffen.
Frage: Da sind wir beim ewigen FDP-Thema Steuersenkung – einem Grund dafür, dass Sie von manchen als neoliberal beschimpft werden.
Lindner: Wenn man angesichts des maßlosen Etatismus eine faire Balance von Staat und Bürger fordert, wird man beschimpft? Das lasse ich mir gerne gefallen. Im Übrigen haben Sie von Steuern angefangen, nicht ich.
Frage: Steuersenkungen sind Ihr zentrales Wahlversprechen.
Lindner: Nein, wir haben eine umfassende Agenda. Unsere zentralen Themen sind weltbeste Bildung, die Chancen der Digitalisierung, Bürgerrechte und Flexibilität statt Bürokratismus. Deshalb haben wir uns in Nordrhein-Westfalen bewusst für die Übernahme des Bildungsministeriums, des Integrations-und Familienministeriums sowie des ersten Digitalministeriums entschieden. Die Entlastung der Steuerzahler ist nur ein Programmpunkt, wenngleich ein wichtiger. Denn die Mittelschicht ist in Deutschland so stark belastet wie nahezu nirgendwo sonst.
Frage: Und was soll das alles zusammen kosten?
Lindner: Wir haben das mit insgesamt 30 bis 40 Milliarden Euro jährlich beziffert.
Frage: Wie groß ist der Anteil der Steuersenkungen daran?
Lindner: 100 Prozent. Die Sozialabgaben muss man getrennt vom Haushalt betrachten.
Frage: Die SPD will nicht nur Steuern senken wie Sie, sondern sie auch für Besserverdiener erhöhen. Ist das nicht sozial gerechter?
Lindner: Das Konzept der SPD ist einigermaßen maßvoll, was mich überrascht hat. Beim Solidaritätszuschlag hat sie sich sogar unserer Position angenähert. Da ist die CDU nun allein. Im Kern halte ich die Steuerpolitik der SPD aber nicht für fair oder klug. Wir haben in Deutschland schon Umverteilung at its best. Ich sehe nur noch Konzerne wie beispielsweise Apple, deren Steuerlast unangemessen niedrig ist. Die SPD will, dass die Reichensteuer künftig schon vom Ingenieur bezahlt wird. Aus der Steuer für Millionäre wird eine Steuer für den Mittelstand. Diese Steuererhöhung schwächt ausgerechnet das Kleingewerbe.
Frage: Wieso schlagen Sie Ihr Steuersenkungsprogramm gerade jetzt vor, da die Immobilienmärkte boomen und es der Wirtschaft gut geht? Ist das nicht ein Konjunkturprogramm zur falschen Zeit?
Lindner: Das Gegenteil ist richtig. Denn die wirtschaftliche Stärke basiert zu einem großen Teil auf den Drogen, unter denen die Wirtschaft steht, etwa durch den niedrigen Außenwert des Euro. Mit der Digitalisierung haben wir eine Disruption, die alle Geschäftsmodelle verändert. Die wirtschaftliche Sonderlage ist eine Chance, Deutschland ohne große Schmerzen zu modernisieren. Jetzt müssen wir aber einen Schnitt machen. Sie wollten bisher nur über Geld und Steuern reden, aber ich will die FDP darauf nicht reduzieren lassen. Liberalismus ist mehr.
Frage: Nämlich?
Lindner: Er ist ein einzigartiges Programm zur Emanzipation des Einzelnen und zur Bekämpfung von Machtballung. Wenn man das ernst nimmt, dass keiner zu mächtig werden darf, haben wir eine riesige Ordnungsaufgabe.
Frage: Was wollen Sie konkret?
Lindner: Zu viel Macht beim Staat heißt Bürokratismus. Zu viel Macht in der Wirtschaft heißt Monopol. Gegen beides bin ich. Wir müssen beispielsweise die Strukturen im Silicon-Valley-Plattformkapitalismus genauer beobachten. Und wir müssen dagegen angehen, dass Banken mit den Staaten so stark verwachsen sind.
Frage: Das fordern viele. Nur wenige haben einen Plan. Haben Sie einen?
Lindner: In Europa sollte keine Bank mehr von der Politik gerettet werden. In Italien wird das gerade wieder vorbereitet. Marode Institute müssen auf Kosten der Eigentümer und Gläubiger abgewickelt werden. Dieses Prinzip sollten wir in die Verfassung schreiben.
Frage: Das klingt nach Kapitalismuskritik. Und das vom Vorsitzenden der FDP?!
Lindner: Das ist Marktwirtschaft. Zu der gehört die Haftung. Wir sind schließlich nicht dem Kapital verpflichtet, sondern der Freiheit.
Frage: In der Vergangenheit gab es allerhand Gründe, daran zu zweifeln. Unvergessen ist die Hotelsteuer, ein Wahlgeschenk aus dem Jahr 2009.
Lindner: (seufzt) Nachdem die FDP aus dem Bundestag verschwunden war, hat niemand versucht, das zu ändern. Die Steuer gehört jetzt genauso Union, SPD und Grünen.
Frage: So einfach werden Sie das nicht los!
Lindner: Angesichts der fatalen Wahlgeschenke der großen Koalition bei der Rente, der verrückten Pkw-Maut, den Volten bei Flüchtlingspolitik und Euro- Rettung kann ich damit leben. Wer uns wegen Entscheidungen aus 2009 im Jahr 2017 nicht wählen will, den kann ich nicht überzeugen. Die Geschichte der FDP begann 1949 und nicht 2009.
Frage: Sie könnten es auch zum Programm machen, die Mehrwertsteuer- Vergünstigung für Hotels wieder abzuschaffen.
Lindner: Warum sollte ich? Es gab so gute Gründe dafür, dass CDU, SPD und Grüne daran festhalten. Wenn Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble aber einen Vorschlag macht für ein neues, widerspruchsfreies Mehrwertsteuersystem, dann schaue ich mir das gerne an. Übrigens, kennen Sie die Position der FDP zum Versandhandel von Medikamenten?
Frage: Sie meinen zu Internet-Apotheken? Nein.
Lindner: Schade. Denn wir sind die einzige Partei, die klar für den Versand verschreibungspflichtiger Medikamente ist.
Frage: Die Apotheker dürfte das nicht freuen. Dabei galt die FDP doch immer als Apothekerpartei.
Lindner: Den Shitstorm der stationären Apotheker haben wir hingenommen, weil wir uns der Wahlfreiheit der Kunden verpflichtet fühlen.
Frage: Es wird also nicht mehr jedes Klientel bedient. Aber weiter: Neben den Banken haben Sie die Internetkonzerne angesprochen, deren Macht Sie stärker kontrollieren wollen. Wie?
Lindner: Ich wünsche mir ein neues Recht für Daten-Souveränität, das uns eine Art Eigentumsrecht an unseren Daten einräumt. Damit wir erfahren können: Was weiß ein Unternehmen von mir? Was macht es mit den Daten? Ich möchte, dass alles gelöscht wird, wenn ein Nutzer das will. Außerdem sollten wir unsere Daten von der einen Plattform zur anderen mitnehmen können. Das sind Eckpunkte einer Ordnungspolitik 4.0. Erhard reloaded.
Frage: Das geht aber nur auf EU-Ebene, oder?
Lindner: Wenn es europäisch nicht gelingt, muss der nationale Gesetzgeber damit beginnen. Man kann zum Beispiel das Bundeskartellamt aufrüsten.
Frage: In Ihrem Wahlkampf in NRW haben Sie auf Mini-AfD gemacht. Polizei, innere Sicherheit, Abschiebungen. Was hat das mit Liberalismus zu tun?
Lindner: Bitte betreiben Sie nicht das Geschäft der autoritären AfD, indem Sie denen diese Themen exklusiv zuordnen. Liberalismus lebt vom Gewaltmonopol des Rechtsstaats. Selbstverständlich ist es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass nicht das Recht des Stärkeren gilt. Unsere Mission als FDP ist es, die Stärkung des Rechtsstaats zu versöhnen mit der Achtung der individuellen Freiheit und der Bürgerrechte. Das gelingt uns in NRW gut. Wir werden mehr Polizisten einstellen. Die von der Union gewünschte anlasslose verdachtsunabhängige Fahndung wird aber nicht kommen. Denn damit würden Bürger zu Untertanen gemacht.
Frage: Trotzdem ist das mehr Staat statt weniger.
Lindner: Sie verwechseln Liberalismus mit plumper Anti-Staatlichkeit. Der Staat soll die Menschen bei den großen Lebensrisiken nicht im Stich lassen, aber im Alltag in Ruhe.
Frage: Sie haben sich auch mal an einer Wortschöpfung versucht, dem mitfühlenden Liberalismus. Was sollte das sein?
Lindner: Der Begriff ist mir aus den Händen genommen worden. Ich verwende ihn daher nicht mehr. Ich würde dem jüngeren Christian Lindner von Wortschöpfungen abraten.
Frage: Als Säusel-Liberalismus wurde das veralbert.
Lindner: Ja, in innerparteilichen Auseinandersetzungen. Ich habe an Adam Smith erinnert. An seine Idee, dass ein Zusammenleben in Freiheit ethische Gefühle und Verantwortung voraussetzt. Dazu stehe ich. Gemacht worden ist daraus, ich sei ein Linker in der FDP. SPD und Grüne in NRW, die mich besser kannten, haben sich vor Lachen gebogen. Ich sehe mich weder links noch rechts. Ich bin einfach ein Anhänger der liberalen Idee.
Frage: Wir müssen noch über die Christian-Lindner-Partei reden.
Lindner: Was ist das?
Frage: Das ist Ihre Partei. Außer Ihnen spielt in der Öffentlichkeit kaum jemand eine Rolle.
Lindner: Ulkig, dass manche Medien nur mich und sonst niemanden aus der FDP zum Interview bitten, um dann mich zu fragen, wieso nur ich wahrgenommen werde.
Frage: Touché. Aber auch im FDP-Wahlwerbespot für NRW tauchen nur Sie auf – und den haben Sie selbst zu verantworten.
Lindner: So wie Kraft bei der SPD und Laschet bei der CDU. Fraglos richtig ist, dass ich mir mehr Freie Demokratinnen und Demokraten in der Öffentlichkeit wünsche.
Frage: Kürzlich sind Sie erstmals im ZDF-Politbarometer auf der Liste der zehn wichtigsten Politiker aufgetaucht. Stolz?
Lindner: Stolz ist das falsche Wort. Aber wer freut sich nicht über Zuspruch? Ich betreibe Politik allerdings nicht vorrangig, um populär zu sein. Wer den Applaus des Tages sucht, muss in die CDU gehen.
Frage: Wieso denn das?
Lindner: Keiner hat so richtig etwas gegen die CDU. Aber wer in die FDP geht, der weiß: Du bist Teil einer politischen Mutprobe.
Frage: Das klingt jetzt aber düster. Wieso machen Sie den Job dann?
Lindner: Es ist doch eine großartige Aufgabe, für das eigene Lebensgefühl zu streiten.
Frage: Haben Sie jemals darüber nachgedacht, das Wort neoliberal mit positiver Bedeutung wiederzubeleben?
Lindner: Ich kämpfe nicht gegen Windmühlen.
LINDNER-Interview: Sind Sie neoliberal, Herr Lindner?
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Zeit“ (Donnerstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Lisa Nienhaus:
Frage: Herr Lindner, in NRW ist Schwarz-Gelb zurück. Bundesweit läuft es auch gut für die FDP. Ist das die Rückkehr des Neoliberalismus?
Christian Lindner: Mit dem Comeback der Freien Demokraten werden die Gedanken von Liberalität und Individualität wieder stärker.
Frage: Sie sagen liberal statt neoliberal. Wieso?
Lindner: Das Wort neoliberal hat sich von seiner ursprünglichen Bedeutung völlig entfernt und ist ein deformierter Streitbegriff geworden. Joachim Gauck hat einmal versucht, den Begriff zu rehabilitieren. Er ist damit nicht durchgedrungen.
Frage: Auf einer Skala von 0 bis 10: Wie sehr ärgert es Sie, wenn jemand Sie den „neoliberalen Christian Lindner“ nennt?
Lindner: Ach, es gäbe schlimmere Vorwürfe.
Frage: Also sagen wir: eine 4?
Lindner: Nein, wer das Wort als Vorwurf nutzt, blamiert sich doch vor jedem informierten Publikum. Anders als manche glauben machen, war Neoliberalismus ja gerade nie der Gedanke, dass der Markt alles allein richte. Der neue Liberalismus forderte vielmehr einen starken Staat als Schiedsrichter, der in Markt und Gesellschaft die Freiheit jedes Einzelnen verteidigt. Indem zum Beispiel mächtige Monopole zerschlagen werden.
Frage: Wenn Sie nicht neoliberal genannt werden wollen: Ist dann marktliberal das bessere Wort oder wirtschaftsliberal?
Lindner: Ich kann mit diesen Adjektiven nichts anfangen.
Frage: Was ist mit sozialliberal?
Lindner: Auch ein Tarnwort. Wer sagt, er sei sozialliberal, der ist oft eigentlich ein Sozialdemokrat und will das nur progressiver erscheinen lassen. Und wenn es in der AfD Politiker gibt, die von den Medien als wirtschaftsliberal bezeichnet wurden, dann ist das eine gefährliche Verharmlosung. Wie kann man für Freiheit in der Wirtschaft sein, aber nicht für Freiheit in der Gesellschaft? Liberalität gibt es nicht als Spartenprogramm.
Frage: Wer sagt denn, dass Ihre Definition von Liberalismus die richtige ist?
Lindner: Das Sympathische am Liberalismus ist seine Bescheidenheit, nicht im Besitz letzter Wahrheiten sein zu wollen. Machen wir es doch einfach konkret.
Frage: Gut. Im Koalitionsvertrag für NRW haben Sie etwas durchgesetzt, das Sie auch bundesweit anstreben: Sie wollen die Grunderwerbsteuer bis zu einer gewissen Höhe abschaffen. Damit helfen Sie vor allem den Wohlhabenderen in Deutschland. Ist das liberal?
Lindner: Man kann die Vermögensverteilung dadurch zu verändern versuchen, dass man wenigen etwas wegnimmt. Das ist in Frankreich gescheitert. Man kann aber auch die Verteilung der Vermögen verändern, indem man es vielen erleichtert, überhaupt zu einer Form von Wohlstand zu kommen. Die eigene Wohnung ist nicht nur ein Lebenstraum, sondern auch Vorsorge gegen Altersarmut.
Frage: Aber alle profitieren: nicht nur die, die sich endlich eine kleine Wohnung leisten können, sondern auch die, die sich eine Villa zulegen.
Lindner: Mit diesen Argumenten wird die Mittelschicht seit Jahren in Geiselhaft genommen. Weil von einer Entlastung der Ingenieur profitieren würde, geht der Facharbeiter leer aus. Ja, es sollen alle profitieren.
Frage: Bis auf diejenigen, die sich gar kein Haus leisten können.
Lindner: Die Eigentümerquote ist überall in Europa höher. In Deutschland geht sie in der jüngeren Generation sogar noch zurück. Damit darf man sich nicht abfinden! Abgesehen davon, wollen wir die Entlastung nicht auf wenige konzentrieren.
Frage: Was haben Sie vor?
Lindner: Erstens: Sorgen wir dafür, dass die Sozialbeiträge nicht weiter steigen, vielleicht sogar sinken. Zweitens: Schaffen wir die Stromsteuer ab. Die zahlt auch der Bafög-Empfänger. Drittens: Gestalten wir die Zuverdienstgrenzen zu Hartz IV großzügig neu, damit von jeder Stunde, die jemand im Minijob arbeitet, auch etwas bleibt. Und viertens sollten wir den Solidaritätszuschlag und die kalte Progression abschaffen.
Frage: Da sind wir beim ewigen FDP-Thema Steuersenkung – einem Grund dafür, dass Sie von manchen als neoliberal beschimpft werden.
Lindner: Wenn man angesichts des maßlosen Etatismus eine faire Balance von Staat und Bürger fordert, wird man beschimpft? Das lasse ich mir gerne gefallen. Im Übrigen haben Sie von Steuern angefangen, nicht ich.
Frage: Steuersenkungen sind Ihr zentrales Wahlversprechen.
Lindner: Nein, wir haben eine umfassende Agenda. Unsere zentralen Themen sind weltbeste Bildung, die Chancen der Digitalisierung, Bürgerrechte und Flexibilität statt Bürokratismus. Deshalb haben wir uns in Nordrhein-Westfalen bewusst für die Übernahme des Bildungsministeriums, des Integrations-und Familienministeriums sowie des ersten Digitalministeriums entschieden. Die Entlastung der Steuerzahler ist nur ein Programmpunkt, wenngleich ein wichtiger. Denn die Mittelschicht ist in Deutschland so stark belastet wie nahezu nirgendwo sonst.
Frage: Und was soll das alles zusammen kosten?
Lindner: Wir haben das mit insgesamt 30 bis 40 Milliarden Euro jährlich beziffert.
Frage: Wie groß ist der Anteil der Steuersenkungen daran?
Lindner: 100 Prozent. Die Sozialabgaben muss man getrennt vom Haushalt betrachten.
Frage: Die SPD will nicht nur Steuern senken wie Sie, sondern sie auch für Besserverdiener erhöhen. Ist das nicht sozial gerechter?
Lindner: Das Konzept der SPD ist einigermaßen maßvoll, was mich überrascht hat. Beim Solidaritätszuschlag hat sie sich sogar unserer Position angenähert. Da ist die CDU nun allein. Im Kern halte ich die Steuerpolitik der SPD aber nicht für fair oder klug. Wir haben in Deutschland schon Umverteilung at its best. Ich sehe nur noch Konzerne wie beispielsweise Apple, deren Steuerlast unangemessen niedrig ist. Die SPD will, dass die Reichensteuer künftig schon vom Ingenieur bezahlt wird. Aus der Steuer für Millionäre wird eine Steuer für den Mittelstand. Diese Steuererhöhung schwächt ausgerechnet das Kleingewerbe.
Frage: Wieso schlagen Sie Ihr Steuersenkungsprogramm gerade jetzt vor, da die Immobilienmärkte boomen und es der Wirtschaft gut geht? Ist das nicht ein Konjunkturprogramm zur falschen Zeit?
Lindner: Das Gegenteil ist richtig. Denn die wirtschaftliche Stärke basiert zu einem großen Teil auf den Drogen, unter denen die Wirtschaft steht, etwa durch den niedrigen Außenwert des Euro. Mit der Digitalisierung haben wir eine Disruption, die alle Geschäftsmodelle verändert. Die wirtschaftliche Sonderlage ist eine Chance, Deutschland ohne große Schmerzen zu modernisieren. Jetzt müssen wir aber einen Schnitt machen. Sie wollten bisher nur über Geld und Steuern reden, aber ich will die FDP darauf nicht reduzieren lassen. Liberalismus ist mehr.
Frage: Nämlich?
Lindner: Er ist ein einzigartiges Programm zur Emanzipation des Einzelnen und zur Bekämpfung von Machtballung. Wenn man das ernst nimmt, dass keiner zu mächtig werden darf, haben wir eine riesige Ordnungsaufgabe.
Frage: Was wollen Sie konkret?
Lindner: Zu viel Macht beim Staat heißt Bürokratismus. Zu viel Macht in der Wirtschaft heißt Monopol. Gegen beides bin ich. Wir müssen beispielsweise die Strukturen im Silicon-Valley-Plattformkapitalismus genauer beobachten. Und wir müssen dagegen angehen, dass Banken mit den Staaten so stark verwachsen sind.
Frage: Das fordern viele. Nur wenige haben einen Plan. Haben Sie einen?
Lindner: In Europa sollte keine Bank mehr von der Politik gerettet werden. In Italien wird das gerade wieder vorbereitet. Marode Institute müssen auf Kosten der Eigentümer und Gläubiger abgewickelt werden. Dieses Prinzip sollten wir in die Verfassung schreiben.
Frage: Das klingt nach Kapitalismuskritik. Und das vom Vorsitzenden der FDP?!
Lindner: Das ist Marktwirtschaft. Zu der gehört die Haftung. Wir sind schließlich nicht dem Kapital verpflichtet, sondern der Freiheit.
Frage: In der Vergangenheit gab es allerhand Gründe, daran zu zweifeln. Unvergessen ist die Hotelsteuer, ein Wahlgeschenk aus dem Jahr 2009.
Lindner: (seufzt) Nachdem die FDP aus dem Bundestag verschwunden war, hat niemand versucht, das zu ändern. Die Steuer gehört jetzt genauso Union, SPD und Grünen.
Frage: So einfach werden Sie das nicht los!
Lindner: Angesichts der fatalen Wahlgeschenke der großen Koalition bei der Rente, der verrückten Pkw-Maut, den Volten bei Flüchtlingspolitik und Euro- Rettung kann ich damit leben. Wer uns wegen Entscheidungen aus 2009 im Jahr 2017 nicht wählen will, den kann ich nicht überzeugen. Die Geschichte der FDP begann 1949 und nicht 2009.
Frage: Sie könnten es auch zum Programm machen, die Mehrwertsteuer- Vergünstigung für Hotels wieder abzuschaffen.
Lindner: Warum sollte ich? Es gab so gute Gründe dafür, dass CDU, SPD und Grüne daran festhalten. Wenn Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble aber einen Vorschlag macht für ein neues, widerspruchsfreies Mehrwertsteuersystem, dann schaue ich mir das gerne an. Übrigens, kennen Sie die Position der FDP zum Versandhandel von Medikamenten?
Frage: Sie meinen zu Internet-Apotheken? Nein.
Lindner: Schade. Denn wir sind die einzige Partei, die klar für den Versand verschreibungspflichtiger Medikamente ist.
Frage: Die Apotheker dürfte das nicht freuen. Dabei galt die FDP doch immer als Apothekerpartei.
Lindner: Den Shitstorm der stationären Apotheker haben wir hingenommen, weil wir uns der Wahlfreiheit der Kunden verpflichtet fühlen.
Frage: Es wird also nicht mehr jedes Klientel bedient. Aber weiter: Neben den Banken haben Sie die Internetkonzerne angesprochen, deren Macht Sie stärker kontrollieren wollen. Wie?
Lindner: Ich wünsche mir ein neues Recht für Daten-Souveränität, das uns eine Art Eigentumsrecht an unseren Daten einräumt. Damit wir erfahren können: Was weiß ein Unternehmen von mir? Was macht es mit den Daten? Ich möchte, dass alles gelöscht wird, wenn ein Nutzer das will. Außerdem sollten wir unsere Daten von der einen Plattform zur anderen mitnehmen können. Das sind Eckpunkte einer Ordnungspolitik 4.0. Erhard reloaded.
Frage: Das geht aber nur auf EU-Ebene, oder?
Lindner: Wenn es europäisch nicht gelingt, muss der nationale Gesetzgeber damit beginnen. Man kann zum Beispiel das Bundeskartellamt aufrüsten.
Frage: In Ihrem Wahlkampf in NRW haben Sie auf Mini-AfD gemacht. Polizei, innere Sicherheit, Abschiebungen. Was hat das mit Liberalismus zu tun?
Lindner: Bitte betreiben Sie nicht das Geschäft der autoritären AfD, indem Sie denen diese Themen exklusiv zuordnen. Liberalismus lebt vom Gewaltmonopol des Rechtsstaats. Selbstverständlich ist es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass nicht das Recht des Stärkeren gilt. Unsere Mission als FDP ist es, die Stärkung des Rechtsstaats zu versöhnen mit der Achtung der individuellen Freiheit und der Bürgerrechte. Das gelingt uns in NRW gut. Wir werden mehr Polizisten einstellen. Die von der Union gewünschte anlasslose verdachtsunabhängige Fahndung wird aber nicht kommen. Denn damit würden Bürger zu Untertanen gemacht.
Frage: Trotzdem ist das mehr Staat statt weniger.
Lindner: Sie verwechseln Liberalismus mit plumper Anti-Staatlichkeit. Der Staat soll die Menschen bei den großen Lebensrisiken nicht im Stich lassen, aber im Alltag in Ruhe.
Frage: Sie haben sich auch mal an einer Wortschöpfung versucht, dem mitfühlenden Liberalismus. Was sollte das sein?
Lindner: Der Begriff ist mir aus den Händen genommen worden. Ich verwende ihn daher nicht mehr. Ich würde dem jüngeren Christian Lindner von Wortschöpfungen abraten.
Frage: Als Säusel-Liberalismus wurde das veralbert.
Lindner: Ja, in innerparteilichen Auseinandersetzungen. Ich habe an Adam Smith erinnert. An seine Idee, dass ein Zusammenleben in Freiheit ethische Gefühle und Verantwortung voraussetzt. Dazu stehe ich. Gemacht worden ist daraus, ich sei ein Linker in der FDP. SPD und Grüne in NRW, die mich besser kannten, haben sich vor Lachen gebogen. Ich sehe mich weder links noch rechts. Ich bin einfach ein Anhänger der liberalen Idee.
Frage: Wir müssen noch über die Christian-Lindner-Partei reden.
Lindner: Was ist das?
Frage: Das ist Ihre Partei. Außer Ihnen spielt in der Öffentlichkeit kaum jemand eine Rolle.
Lindner: Ulkig, dass manche Medien nur mich und sonst niemanden aus der FDP zum Interview bitten, um dann mich zu fragen, wieso nur ich wahrgenommen werde.
Frage: Touché. Aber auch im FDP-Wahlwerbespot für NRW tauchen nur Sie auf – und den haben Sie selbst zu verantworten.
Lindner: So wie Kraft bei der SPD und Laschet bei der CDU. Fraglos richtig ist, dass ich mir mehr Freie Demokratinnen und Demokraten in der Öffentlichkeit wünsche.
Frage: Kürzlich sind Sie erstmals im ZDF-Politbarometer auf der Liste der zehn wichtigsten Politiker aufgetaucht. Stolz?
Lindner: Stolz ist das falsche Wort. Aber wer freut sich nicht über Zuspruch? Ich betreibe Politik allerdings nicht vorrangig, um populär zu sein. Wer den Applaus des Tages sucht, muss in die CDU gehen.
Frage: Wieso denn das?
Lindner: Keiner hat so richtig etwas gegen die CDU. Aber wer in die FDP geht, der weiß: Du bist Teil einer politischen Mutprobe.
Frage: Das klingt jetzt aber düster. Wieso machen Sie den Job dann?
Lindner: Es ist doch eine großartige Aufgabe, für das eigene Lebensgefühl zu streiten.
Frage: Haben Sie jemals darüber nachgedacht, das Wort neoliberal mit positiver Bedeutung wiederzubeleben?
Lindner: Ich kämpfe nicht gegen Windmühlen.