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04.03.2017 - 09:45WISSING/HAMBRECHT-Doppelinterview: Regierung führt die Bürger an der Nase herum
Das FDP-Präsidiumsmitglied und Landeswirtschaftsminister Dr. Volker Wissing und das Mitglied des FDP-Wirtschaftsforums Dr. Jürgen Hambrecht gaben der „Welt“ (Samstag-Ausgabe) und „Welt.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Jan Dams und Thorsten Jungholt:
Frage: Herr Hambrecht, nach einem Berufsleben als Vorstandschef der BASF sind Sie 2015 in die FDP eingetreten – im Alter von 69 Jahren. Warum tun Sie sich das an?
Hambrecht: Als Vorstandschef ist es oft einfacher, nicht Mitglied einer Partei zu sein. Da muss man mit allen gesprächsfähig sein. Als ich aber aufgehört habe und die FDP dann bei der letzten Bundestagswahl unter die Räder geriet, wurde es Zeit, mich für meine politischen Überzeugungen zu engagieren. Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft braucht eine Stimme in der Politik. Es herrscht zunehmend eine Versorgungsmentalität, die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland ist akut gefährdet.
Frage: Was wäre die wichtigste Maßnahme zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit?
Hambrecht: Zuallererst müssen wir Lust auf Zukunft haben. Politik neigt dazu, den Menschen immer nur Schutz zu versprechen. Ich finde, wir müssen ihnen stattdessen die Angst nehmen und sie zu Eigenverantwortung ermuntern.
Frage: Warum sind die Leute in einem wirtschaftlich erfolgreichen Land so empfänglich für Schutzversprechen?
Wissing: Die Deutschen neigen dazu, sich in Ängsten zu verlieren. Politiker müssen deshalb den Mut aufbringen, Veränderungen als Chancen zu thematisieren, nicht immer nur als Risiko. Nehmen Sie den Verkauf Opels von General Motors an die französische Konkurrenz von PSA. Die Zahlen des Unternehmens sind seit Jahren wenig erfreulich. Wenn dann jemand kommt und sagt, er wolle investieren, ist das doch eine Chance. Außer mir hat sich in der politischen Debatte aber niemand so geäußert.
Frage: Weil der Verkauf mit dem Verlust von Arbeitsplätzen einhergehen wird. Fürchten Sie das als Wirtschaftsminister nicht?
Wissing: Ich fürchte mich erst einmal vor gar nichts. Der Standort hier ist attraktiv. Das sagen wir auch den potenziellen Käufern. Wir haben bei Opel tolle Ingenieure. Gleichzeitig gibt es Fachkräftemangel. Wir als Land werden für gute Rahmenbedingungen am Standort sorgen. Das ist meine Verantwortung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Frage: Das sagen Sie auch den Arbeitnehmern, die ja darüber hinausgehende Erwartungen haben?
Wissing: Den Mut habe ich durchaus. Es ist nicht mein Auftrag, mich in die Unternehmensführung der Firmen einzumischen.
Frage: Die Bundesregierung hat sich beschwert, von nichts gewusst zu haben. Wo steht denn, dass eine Regierung über den Verkauf eines Unternehmens informiert werden muss?
Wissing: Die Frage habe ich mir auch gestellt.
Hambrecht: Das hängt sicherlich auch mit der Bundestagswahl zusammen. Als Politiker muss man sich im Wahlkampf positionieren. Nur nimmt das inzwischen bedenkliche Ausmaße an. General Motors wird vorgeworfen, man habe sich um Opel nie gekümmert. Das ist doch an den Haaren herbeigezogen! Wenn ein Unternehmen wie GM 18 Jahre Verluste hinnimmt und dennoch versucht, die Firma mit Innovationen etwa im Bereich Elektromobilität nach vorn zu bewegen, wo fehlt dann das Engagement? Die Automobilindustrie steht vor einem Transformationsprozess, wie wir ihn selten erlebt haben. Opel ist gut aufgestellt, hat gute Modelle. Und bei Peugeot hat Opel – anders als bei GM – auch endlich die Chance, sich global aufzustellen. Ich würde das positiv angehen, Kampfgeist entwickeln nach dem Motto: Das wuppen wir jetzt.
Frage: Im größeren Rahmen erleben wir derzeit einen Trend zur Abschottung und Renationalisierung, allen voran durch die neue US-Regierung. Was ändert das für ein Unternehmen wie die BASF, Herr Hambrecht?
Hambrecht: Für die BASF hat sich bisher wenig geändert. Wir haben in den USA rund 15.500 Mitarbeiter und rund 100 Standorte. Das heißt, wir produzieren vor Ort. 2016 haben wir in den USA etwa 15 Milliarden Dollar Umsatz gemacht. Wir exportieren sogar mehr aus den USA, als wir einführen. Dennoch wäre die Erhebung einer Einfuhrsteuer am Ende ein großer Schaden, auch für die USA selbst, weil tatsächlich eine Abschottung stattfände. Alle profitieren von der globalen Arbeitsteilung, vom Entwicklungs- bis hin zum hoch entwickelten Industrieland. Die Bedeutung dieser Vernetzung müssen wir der neuen Administration in Gesprächen klarmachen.
Wissing: Es sind ja nicht nur die USA. Die Briten haben sich für den Brexit entschieden, auch Teile unserer Bevölkerung sehen den weltweiten Handel kritisch. Für ein Exportland wie Deutschland ist das eine ernste Entwicklung, der wir mit offensivem Eintreten für Freihandel und offene Märkte begegnen müssen.
Hambrecht: Dass die Bevölkerung Globalisierung kritisch sieht, ist wirklich ein Problem. Die Wirtschaft hat den Fehler gemacht, die Lobbygruppen nicht ernst zu nehmen. Diese Pressure-Groups sind klein, gemessen an der Zahl ihrer Mitglieder, aber gehen sehr professionell vor. Sie argumentieren mit Emotionen, die Wirtschaft mit Fakten. Und wo Fakten auf Emotionen treffen, bleiben in der Regel die Fakten auf der Strecke. Demokratische Entscheidungen sollten aber immer auf der Analyse von Fakten und deren Bewertung basieren. Wenn uns das nicht mehr gelingt, haben wir alle ein Problem. In diesem Zusammenhang gibt es noch etwas, worüber ich besorgt, oder besser: wirklich wütend bin.
Frage: Nämlich?
Hambrecht: Auch die Bundesregierung verfolgt mittlerweile eine Informationspolitik, die mit der Realität wenig zu tun hat, bezahlt mit Steuergeld. Ich habe gerade einen Prospekt aus dem Wirtschaftsministerium gelesen, zur Energiewende. „Unsere Erfolgsgeschichte“ lautet der Titel, es folgen zig Seiten Lobhudelei über sinkende Stromkosten und sichere Versorgung. Die Wahrheit ist doch: Die Energiewende ist ein Riesenmurks. Die Kosten steigen immer weiter, und die Versorgungssicherheit ist extrem gefährdet, wenn wir nach der Kernkraft nun auch noch aus Kohle und Gas aussteigen wollen. So etwas ärgert mich massiv, damit werden die Bürger an der Nase herumgeführt.
Frage: Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz fordert die Abkehr von der Agenda 2010. Argumentiert er da mit Fakten oder mit Emotionen?
Hambrecht: Die Agenda 2010 ist in Summe eine Erfolgsstory. Dass es Kleinigkeiten gibt, die man korrigieren kann, ist richtig. Aber wenn wir die Balance zwischen Fordern und Fördern verschieben, das Fördern übergewichten, dann sind wir auf dem falschen Weg.
Wissing: Das wäre die Rückkehr zu hoher Arbeitslosigkeit.
Frage: In Rheinland-Pfalz regieren Sie ja mit SPD und Grünen. Ist das auch eine Option für Berlin?
Wissing: So einfach lassen sich solche Koalitionen nicht übertragen. In den Ländern müssen andere Probleme gelöst werden als im Bund. Für mich ist die Koalitionsfrage immer eine Frage nach den Inhalten.
Frage: Passen denn die Inhalte von Martin Schulz zur FDP?
Wissing: Ich halte ein Zurückdrehen der Agenda 2010 für falsch. Wir brauchen mehr und nicht weniger Reformen.
Frage: Wenn eine Partei wie die FDP mit an die Regierung kommt, dann hat sie zwischen fünf und zehn Prozent ...
Hambrecht: Vielleicht auch mehr.
Wissing: Vielleicht sogar 14,6 Prozent.
Frage: Dennoch kann man damit nur begrenzt Schwerpunkte innerhalb eines Koalitionsvertrags setzen. Welche müssten das sein?
Hambrecht: Das erste Thema ist Innovation. Wir müssen Chancen und Risiken neuer Technologien fairer betrachten und nicht ideologisiert nur die Risiken sehen – zum Beispiel bei grüner Gentechnik, Fracking oder Nanotechnologie. Wir brauchen deshalb in der Politik neben dem Vorsorgeprinzip ein Innovationsgebot. So, wie es jetzt bei uns läuft, würde nie mehr wieder ein Auto entstehen.
Frage: Und das zweite Thema?
Hambrecht: Ist Bildung. Die Aufteilung nach Bundesländern ist ein furchtbarer Anachronismus. Jeder macht, was er gerne hätte. Und bei jeder Landtagswahl wird neu diskutiert. Wir müssen das Ganze zentral und standardisiert anpacken. Der Wettbewerb muss dann zwischen den Schulen stattfinden. Die Schulen unterrichten die Kinder, nicht irgendwelche Ministerien.
Frage: Steuern sind kein Thema mehr für die FDP?
Wissing: Und ob. Steuerpolitisch gibt es unter Wolfgang Schäuble seit Jahren Stillstand, er ignoriert drängende Fragen. Wie kriegen wir mehr Risikokapital nach Deutschland? Weltweit stehen 50 Milliarden Dollar Venture Capital zur Verfügung. Davon gehen nur drei Milliarden nach Deutschland. Das ist für die Bedeutung des Standorts eine Katastrophe. Im Koalitionsvertrag von 2013 stand, dass man ein Gesetz machen will. Bis heute ist aber nichts passiert. Dann die Frage: Ist es nachhaltig, wenn der Staat Unternehmensneugründungen in den ersten Jahren maximal besteuert? Wäre es nicht besser, erst zu fördern, um dann später, wenn die Firma erfolgreich als Arbeitgeber und Steuerzahler am Markt etabliert ist, Geld abzuschöpfen? Wir müssen uns mehr um die Gründer kümmern, wieder eine optimistische Risikogesellschaft werden. Das hat uns stark gemacht, und das ist das Einzige, womit wir im internationalen Wettbewerb bestehen können.
Hambrecht: Ich bin privat Investor in Start-up-Unternehmen. Das heißt, hohes Risiko einzugehen. Ich tue das, weil es mir Freude bringt und weil ich etwas beitragen kann zu unserer Zukunft. Und in der Tat: Ich kann nicht einen einzigen Euro Verlust abschreiben. Aber meine Gewinne werden sofort besteuert. Das kann doch nicht sein. Der Finanzminister hatte das Thema auch schon mehrfach auf dem Tisch. Nichts ist passiert. Das Gleiche gilt für die kalte Progression. Seit zehn Jahren reden wir parteiübergreifend darüber. Aber keiner packt es wirklich an!
Wissing: Die kalte Progression sorgt dafür, dass Mehrleistung bestraft wird – ein irrsinniges System angesichts des Fachkräftemangels und der demografischen Entwicklung. Bund und Länder schwimmen derzeit im Geld. Wie wollen deshalb Soli und kalte Progression abschaffen. Wann, wenn nicht jetzt, ist eine Steuerreform möglich?
Hambrecht: In der Tagespolitik kommen gute Konzepte und Visionen oft zu kurz. Ich war ja in der Ethikkommission, die einen Ausstieg aus der Kernenergienutzung bewerten sollte. Wir haben damals vorgeschlagen, beschleunigte Verfahren zum Aufbau der Infrastruktur für die Energiewende zu schaffen. Machen wir, wurde uns versprochen. Doch nichts ist passiert. Wir können uns dieses Nichtstun nicht mehr leisten! Wir brauchen mehr Entschlossenheit und Lust auf Zukunft.
WISSING/HAMBRECHT-Doppelinterview: Regierung führt die Bürger an der Nase herum
Das FDP-Präsidiumsmitglied und Landeswirtschaftsminister Dr. Volker Wissing und das Mitglied des FDP-Wirtschaftsforums Dr. Jürgen Hambrecht gaben der „Welt“ (Samstag-Ausgabe) und „Welt.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Jan Dams und Thorsten Jungholt:
Frage: Herr Hambrecht, nach einem Berufsleben als Vorstandschef der BASF sind Sie 2015 in die FDP eingetreten – im Alter von 69 Jahren. Warum tun Sie sich das an?
Hambrecht: Als Vorstandschef ist es oft einfacher, nicht Mitglied einer Partei zu sein. Da muss man mit allen gesprächsfähig sein. Als ich aber aufgehört habe und die FDP dann bei der letzten Bundestagswahl unter die Räder geriet, wurde es Zeit, mich für meine politischen Überzeugungen zu engagieren. Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft braucht eine Stimme in der Politik. Es herrscht zunehmend eine Versorgungsmentalität, die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland ist akut gefährdet.
Frage: Was wäre die wichtigste Maßnahme zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit?
Hambrecht: Zuallererst müssen wir Lust auf Zukunft haben. Politik neigt dazu, den Menschen immer nur Schutz zu versprechen. Ich finde, wir müssen ihnen stattdessen die Angst nehmen und sie zu Eigenverantwortung ermuntern.
Frage: Warum sind die Leute in einem wirtschaftlich erfolgreichen Land so empfänglich für Schutzversprechen?
Wissing: Die Deutschen neigen dazu, sich in Ängsten zu verlieren. Politiker müssen deshalb den Mut aufbringen, Veränderungen als Chancen zu thematisieren, nicht immer nur als Risiko. Nehmen Sie den Verkauf Opels von General Motors an die französische Konkurrenz von PSA. Die Zahlen des Unternehmens sind seit Jahren wenig erfreulich. Wenn dann jemand kommt und sagt, er wolle investieren, ist das doch eine Chance. Außer mir hat sich in der politischen Debatte aber niemand so geäußert.
Frage: Weil der Verkauf mit dem Verlust von Arbeitsplätzen einhergehen wird. Fürchten Sie das als Wirtschaftsminister nicht?
Wissing: Ich fürchte mich erst einmal vor gar nichts. Der Standort hier ist attraktiv. Das sagen wir auch den potenziellen Käufern. Wir haben bei Opel tolle Ingenieure. Gleichzeitig gibt es Fachkräftemangel. Wir als Land werden für gute Rahmenbedingungen am Standort sorgen. Das ist meine Verantwortung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Frage: Das sagen Sie auch den Arbeitnehmern, die ja darüber hinausgehende Erwartungen haben?
Wissing: Den Mut habe ich durchaus. Es ist nicht mein Auftrag, mich in die Unternehmensführung der Firmen einzumischen.
Frage: Die Bundesregierung hat sich beschwert, von nichts gewusst zu haben. Wo steht denn, dass eine Regierung über den Verkauf eines Unternehmens informiert werden muss?
Wissing: Die Frage habe ich mir auch gestellt.
Hambrecht: Das hängt sicherlich auch mit der Bundestagswahl zusammen. Als Politiker muss man sich im Wahlkampf positionieren. Nur nimmt das inzwischen bedenkliche Ausmaße an. General Motors wird vorgeworfen, man habe sich um Opel nie gekümmert. Das ist doch an den Haaren herbeigezogen! Wenn ein Unternehmen wie GM 18 Jahre Verluste hinnimmt und dennoch versucht, die Firma mit Innovationen etwa im Bereich Elektromobilität nach vorn zu bewegen, wo fehlt dann das Engagement? Die Automobilindustrie steht vor einem Transformationsprozess, wie wir ihn selten erlebt haben. Opel ist gut aufgestellt, hat gute Modelle. Und bei Peugeot hat Opel – anders als bei GM – auch endlich die Chance, sich global aufzustellen. Ich würde das positiv angehen, Kampfgeist entwickeln nach dem Motto: Das wuppen wir jetzt.
Frage: Im größeren Rahmen erleben wir derzeit einen Trend zur Abschottung und Renationalisierung, allen voran durch die neue US-Regierung. Was ändert das für ein Unternehmen wie die BASF, Herr Hambrecht?
Hambrecht: Für die BASF hat sich bisher wenig geändert. Wir haben in den USA rund 15.500 Mitarbeiter und rund 100 Standorte. Das heißt, wir produzieren vor Ort. 2016 haben wir in den USA etwa 15 Milliarden Dollar Umsatz gemacht. Wir exportieren sogar mehr aus den USA, als wir einführen. Dennoch wäre die Erhebung einer Einfuhrsteuer am Ende ein großer Schaden, auch für die USA selbst, weil tatsächlich eine Abschottung stattfände. Alle profitieren von der globalen Arbeitsteilung, vom Entwicklungs- bis hin zum hoch entwickelten Industrieland. Die Bedeutung dieser Vernetzung müssen wir der neuen Administration in Gesprächen klarmachen.
Wissing: Es sind ja nicht nur die USA. Die Briten haben sich für den Brexit entschieden, auch Teile unserer Bevölkerung sehen den weltweiten Handel kritisch. Für ein Exportland wie Deutschland ist das eine ernste Entwicklung, der wir mit offensivem Eintreten für Freihandel und offene Märkte begegnen müssen.
Hambrecht: Dass die Bevölkerung Globalisierung kritisch sieht, ist wirklich ein Problem. Die Wirtschaft hat den Fehler gemacht, die Lobbygruppen nicht ernst zu nehmen. Diese Pressure-Groups sind klein, gemessen an der Zahl ihrer Mitglieder, aber gehen sehr professionell vor. Sie argumentieren mit Emotionen, die Wirtschaft mit Fakten. Und wo Fakten auf Emotionen treffen, bleiben in der Regel die Fakten auf der Strecke. Demokratische Entscheidungen sollten aber immer auf der Analyse von Fakten und deren Bewertung basieren. Wenn uns das nicht mehr gelingt, haben wir alle ein Problem. In diesem Zusammenhang gibt es noch etwas, worüber ich besorgt, oder besser: wirklich wütend bin.
Frage: Nämlich?
Hambrecht: Auch die Bundesregierung verfolgt mittlerweile eine Informationspolitik, die mit der Realität wenig zu tun hat, bezahlt mit Steuergeld. Ich habe gerade einen Prospekt aus dem Wirtschaftsministerium gelesen, zur Energiewende. „Unsere Erfolgsgeschichte“ lautet der Titel, es folgen zig Seiten Lobhudelei über sinkende Stromkosten und sichere Versorgung. Die Wahrheit ist doch: Die Energiewende ist ein Riesenmurks. Die Kosten steigen immer weiter, und die Versorgungssicherheit ist extrem gefährdet, wenn wir nach der Kernkraft nun auch noch aus Kohle und Gas aussteigen wollen. So etwas ärgert mich massiv, damit werden die Bürger an der Nase herumgeführt.
Frage: Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz fordert die Abkehr von der Agenda 2010. Argumentiert er da mit Fakten oder mit Emotionen?
Hambrecht: Die Agenda 2010 ist in Summe eine Erfolgsstory. Dass es Kleinigkeiten gibt, die man korrigieren kann, ist richtig. Aber wenn wir die Balance zwischen Fordern und Fördern verschieben, das Fördern übergewichten, dann sind wir auf dem falschen Weg.
Wissing: Das wäre die Rückkehr zu hoher Arbeitslosigkeit.
Frage: In Rheinland-Pfalz regieren Sie ja mit SPD und Grünen. Ist das auch eine Option für Berlin?
Wissing: So einfach lassen sich solche Koalitionen nicht übertragen. In den Ländern müssen andere Probleme gelöst werden als im Bund. Für mich ist die Koalitionsfrage immer eine Frage nach den Inhalten.
Frage: Passen denn die Inhalte von Martin Schulz zur FDP?
Wissing: Ich halte ein Zurückdrehen der Agenda 2010 für falsch. Wir brauchen mehr und nicht weniger Reformen.
Frage: Wenn eine Partei wie die FDP mit an die Regierung kommt, dann hat sie zwischen fünf und zehn Prozent ...
Hambrecht: Vielleicht auch mehr.
Wissing: Vielleicht sogar 14,6 Prozent.
Frage: Dennoch kann man damit nur begrenzt Schwerpunkte innerhalb eines Koalitionsvertrags setzen. Welche müssten das sein?
Hambrecht: Das erste Thema ist Innovation. Wir müssen Chancen und Risiken neuer Technologien fairer betrachten und nicht ideologisiert nur die Risiken sehen – zum Beispiel bei grüner Gentechnik, Fracking oder Nanotechnologie. Wir brauchen deshalb in der Politik neben dem Vorsorgeprinzip ein Innovationsgebot. So, wie es jetzt bei uns läuft, würde nie mehr wieder ein Auto entstehen.
Frage: Und das zweite Thema?
Hambrecht: Ist Bildung. Die Aufteilung nach Bundesländern ist ein furchtbarer Anachronismus. Jeder macht, was er gerne hätte. Und bei jeder Landtagswahl wird neu diskutiert. Wir müssen das Ganze zentral und standardisiert anpacken. Der Wettbewerb muss dann zwischen den Schulen stattfinden. Die Schulen unterrichten die Kinder, nicht irgendwelche Ministerien.
Frage: Steuern sind kein Thema mehr für die FDP?
Wissing: Und ob. Steuerpolitisch gibt es unter Wolfgang Schäuble seit Jahren Stillstand, er ignoriert drängende Fragen. Wie kriegen wir mehr Risikokapital nach Deutschland? Weltweit stehen 50 Milliarden Dollar Venture Capital zur Verfügung. Davon gehen nur drei Milliarden nach Deutschland. Das ist für die Bedeutung des Standorts eine Katastrophe. Im Koalitionsvertrag von 2013 stand, dass man ein Gesetz machen will. Bis heute ist aber nichts passiert. Dann die Frage: Ist es nachhaltig, wenn der Staat Unternehmensneugründungen in den ersten Jahren maximal besteuert? Wäre es nicht besser, erst zu fördern, um dann später, wenn die Firma erfolgreich als Arbeitgeber und Steuerzahler am Markt etabliert ist, Geld abzuschöpfen? Wir müssen uns mehr um die Gründer kümmern, wieder eine optimistische Risikogesellschaft werden. Das hat uns stark gemacht, und das ist das Einzige, womit wir im internationalen Wettbewerb bestehen können.
Hambrecht: Ich bin privat Investor in Start-up-Unternehmen. Das heißt, hohes Risiko einzugehen. Ich tue das, weil es mir Freude bringt und weil ich etwas beitragen kann zu unserer Zukunft. Und in der Tat: Ich kann nicht einen einzigen Euro Verlust abschreiben. Aber meine Gewinne werden sofort besteuert. Das kann doch nicht sein. Der Finanzminister hatte das Thema auch schon mehrfach auf dem Tisch. Nichts ist passiert. Das Gleiche gilt für die kalte Progression. Seit zehn Jahren reden wir parteiübergreifend darüber. Aber keiner packt es wirklich an!
Wissing: Die kalte Progression sorgt dafür, dass Mehrleistung bestraft wird – ein irrsinniges System angesichts des Fachkräftemangels und der demografischen Entwicklung. Bund und Länder schwimmen derzeit im Geld. Wie wollen deshalb Soli und kalte Progression abschaffen. Wann, wenn nicht jetzt, ist eine Steuerreform möglich?
Hambrecht: In der Tagespolitik kommen gute Konzepte und Visionen oft zu kurz. Ich war ja in der Ethikkommission, die einen Ausstieg aus der Kernenergienutzung bewerten sollte. Wir haben damals vorgeschlagen, beschleunigte Verfahren zum Aufbau der Infrastruktur für die Energiewende zu schaffen. Machen wir, wurde uns versprochen. Doch nichts ist passiert. Wir können uns dieses Nichtstun nicht mehr leisten! Wir brauchen mehr Entschlossenheit und Lust auf Zukunft.