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18.07.2016 - 08:15LINDNER-Interview: Beitrittsverhandlungen beenden, Partnerschaft erhalten
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab dem „Deutschlandfunk“ am Sonntag das folgende „Interview der Woche“. Die Fragen stellte KLAUS REMME.
Frage: Wir haben uns für ein so ausführliches Gespräch das letzte Mal im Januar hier zusammengesetzt. Ich habe mir das gestern noch einmal angehört. Auch da haben wir ausführlich über die Türkei gesprochen. Sie waren ausgesprochen kritisch, was Erdogan und seine Politik anging. Haben Sie Freitagabend, als die Bilder und die ersten Nachrichten kamen, für einen Moment insgeheim gehofft, der Militärputsch möge gelingen?
LINDNER: Nein, Herr Remme. Die Kritik an Herrn Erdogan und seiner autoritären Amtsführung darf ja nicht dazu führen, dass man ihn ersetzen will durch ein Militärregime. Also eine schlecht funktionierende Demokratie durch eine Militärdiktatur zu ersetzen, das kann ich nicht als einen zivilisatorischen Fortschritt begreifen. Klar ist aber, dass die Bedenken und Befürchtungen hinsichtlich der inneren Entwicklung der Türkei, die ich zuletzt geäußert hatte, sich jetzt bestätigt haben. Denn dieser Militärputschversuch ist ja nichts anderes als ein Signal, dass es innerhalb der Türkei starke Oppositionskräfte gibt, die mit dem Kurs von Herrn Erdogan, aus der Türkei, einem säkularen westlich orientierten Staat, eine islamische Republik machen zu wollen, nicht einverstanden sind.
Frage: Hat der Vorsitzende der türkischen Gemeinde in Deutschland recht, wenn er sagt, die Demokratie hat gesiegt?
LINDNER: Ich halte Herrn Erdogan nicht für einen lupenreinen Demokraten. Und meine Befürchtung ist, dass er die jetzige Situation zu seinen Zwecken nutzt, erst recht voranzutreiben, aus der Türkei einen autoritären, islamischen Staat zu machen. Also bei aller Erleichterung darüber, dass es bei der gewählten Regierung bleibt, ein lupenreiner Demokrat ist Herr Erdogan nicht. Und wir müssen schauen, wie in den nächsten Wochen die Entwicklung in der Türkei ist. Ich bin in größter Sorge, dass nach dem Putschversuch des Militärs jetzt Herr Erdogan die Gunst der Stunde nutzt, um aus der Türkei ein anderes Land zu machen – letztlich ein islamisches Land, das zugeschnitten ist auf die Führung durch seine Person.
Frage: Alle sagen – und das war ja gestern eindeutig über die Parteigrenzen hinweg zu hören – die gewählte Führung der Türkei muss geachtet werden. Sie hat sich ja jetzt auch durchgesetzt. Aber kann die Bundesregierung zur Tagesordnung übergehen? Oder muss dieser Putschversuch konkrete Folgen für die Politik von Angela Merkel und ihrem Kabinett haben?
LINDNER: Sie muss Folgen haben für die Europäische Union. Das jetzt, dieses Ereignis ist für mich der nächste wichtige Fingerzeig, dass wir die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beenden sollten. Die Türkei soll weiter ein Partner der EU sein. Sie ist ja auch ein NATO-Verbündeter. Aber diese wirklich jetzt inhaltlich völlig ausgehöhlten Beitrittsgespräche zur Europäischen Union sollte man im gegenseitigen Interesse beenden. Das ist auch nicht ein Interesse des türkischen Volkes, dass über eine solche fiktive Frage weiter gesprochen wird. Ende – und dann kann man auch auf einer anderen Ebene miteinander sprechen.
Frage: Dann gehen wir ein paar konkrete Punkte durch. EU-Beitrittsgespräche haben Sie genannt. Visa-Freiheit für die Türkei – geplant. Weiter so?
LINDNER: Ich bin offen für eine Visa-Freiheit hinsichtlich der türkischen Geschäftsleute. Aber die Geschäftsgrundlage des Ganzen muss klar sein. Es kann nicht zu einer ungeordneten Einwanderung dann über diesen Umweg kommen, sondern es geht um eine Erleichterung im Alltagsleben. Wir haben viele türkeistämmige Deutsche, die noch Familien in der alten Heimat haben. Das zu erleichtern, halte ich für in Ordnung. Und dafür brauchen wir weder einen EU-Beitritt, noch dürfen wir uns das abtrotzen lassen hinsichtlich der Flüchtlingspolitik.
Frage: Nächster Punkt: Flüchtlingsdeal. Weiter so?
LINDNER: Pragmatisch jetzt ja. Diese Politik ist ja eingeschlagen worden auch auf deutsche Veranlassung in Europa. Aber wir dürfen uns ja nicht auf Herrn Erdogan und sein Land auf Dauer verlassen. Wir dürfen erst recht nicht in die Abhängigkeit von einem autoritären Staatspräsidenten geraten. Europa muss Verantwortung für seine eigenen Interessen übernehmen. Für mich heißt das nichts anderes, als dass wir einen europäischen Grenzschutz brauchen, eine europäische Grenzpolizei, gemeinsam getragen. Die braucht hoheitliche Befugnisse. Die braucht auch eine personelle Ausstattung, die hinreichend ist. Und dann muss der europäische Staatenverbund in der Lage sein, sein Gebiet selbst zu schützen und wieder Kontrolle darüber auszuüben, wen wir aus humanitären Gründen reinlassen oder wen wir gar einladen aus wirtschaftlichen Interessen in unsere Arbeitsmärkte. Aber das darf nicht in der Hand von Herrn Erdogan liegen.
Frage: Nächster Punkt: Bundeswehrsoldaten in Incirlik. Weiter so?
LINDNER: Ja. Das sind ja Verpflichtungen, die sich aus unserer NATO-Mitgliedschaft ergeben. Und wir haben doch gemeinsam ein Interesse an der Stabilität in diesem Raum. Die Türkei ist strategisch, geostrategisch viel wichtiger als etwa zu Zeiten des Kalten Krieges. Und dass die Bundeswehr dort einen Beitrag leistet, will ich nicht kritisieren, sondern ganz im Gegenteil. Wir haben gelernt durch die Wanderungsbewegungen des vergangenen Jahres, dass wir unmittelbare Interessen auch in unserer Nachbarschaft an Stabilität haben.
Frage: Herr Lindner, hätte es diesen Putschversuch nicht gegeben, wäre sicherlich der Anschlag in Nizza unser erstes Thema gewesen. Sie waren an diesem 14. Juli – dem Nationalfeiertag – morgens noch in der Stadt. Warum eigentlich?
LINDNER: Aus privaten Gründen – Urlaub bei Freunden. Nicht in Nizza, aber in der Nähe. Und ich bin am frühen Morgen von Nizza aus nach Deutschland zurückgeflogen, um dann abends in Mecklenburg-Vorpommern Wahlkampfveranstaltungen zu machen. Also ich habe morgens noch vom Auto aus, als ich durch die Stadt gefahren bin, gesehen, wie die Menschen sich auf ihren Nationalfeiertag vorbereitet haben. Eine friedliche Stimmung. Die Stadt lag in der Morgensonne. Schrecklich, dass dann am Abend ein solches menschenverachtendes Verbrechen hat stattfinden können.
Frage: Noch in der Nacht legten sich die Behörden in Frankreich sehr schnell fest: terroristischer Hintergrund, islamistischer Hintergrund. Greifen da im Moment allzu schnell Reflexe? Denn Erkenntnisse gab es wenige.
LINDNER: Das weiß ich im Einzelnen nicht. Es scheint sich aber ja bestätigt zu haben, dass es ein radikalisierter Einzeltäter ist. Es fehlen einem ja die Worte. Und ich glaube, niemand kann nachvollziehen, was in solchen Menschen vorgeht, die einen solchen Hass entwickeln auf andere, die ihr Leben lieben und einfach nur miteinander feiern wollen. Klar ist jedenfalls in meinen Augen, dass wir über die Sicherheitspolitik in Europa nachdenken müssen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens halte ich es für erforderlich, dass die Sicherheitsbehörden in Europa und auch in Deutschland besser ausgestattet werden und auch stärker kooperieren. Das betrifft dann den organisierten Terrorismus. Bei den radikalisierten Einzeltätern wird man nicht durch noch so gute Sicherheitsbehörden zu mehr Schutz kommen. Hier, glaube ich, ist es notwendig, dass man in das Vorfeld, in das Unterstützerfeld, dort, wo Menschen sich radikalisieren könnten, eingreift. Ganz konkret für Deutschland gesprochen: Der radikalisierte Islam, der Islamismus, der Salafismus der muss stärker von unseren Verfassungsschutzbehörden in den Blick genommen werden. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die den Koran in Fußgängerzonen verteilen wollen oder die bei Grillfesten den Nachwuchs an Gotteskriegern für diesen Krieg der islamistischen Sekte rekrutieren wollen, dass die das unter den Augen unserer Behörden tun können.
Frage: Frankreich steht im Zentrum dieser Anschläge der letzten Monate. Haben Sie den Eindruck, hier soll gezielt ein Land politisch sturmreif geschossen werden?
LINDNER: Das ist der Zweck. Diese Terroristen wollen, dass unsere Gesellschaften sich radikalisieren. Die wollen, dass wir instabil werden. Und die wollen, dass wir selbst unsere Freiheit einschränken. Oder, um es in einem klaren Satz zu sagen: Guantanamo in den USA – das war ein Sieg des Islamismus, weil diese Kräfte sagen konnten: "Schaut her in den Westen. Sie sprechen über Bürgerrechte. Sie sprechen über Menschenrechte. Sie sprechen über liberale Verfassungen. Aber jetzt machen sie Guantanamo." Und deshalb müssen wir jetzt die richtigen Konsequenzen aus dieser Bedrohungslage ziehen. Falsch wäre es, wenn wir unser Leben verändern würden, unsere Lebensart verändern würden, wenn wir uns einschüchtern ließen. Falsch wäre es, wenn wir bürgerliche Freiheitsrechte einschränken würden. Falsch wäre es ...
Frage: Das sind ...
LINDNER: Herr Remme, ein Satz noch. Falsch wäre es auch, wenn wir plötzlich Islamismus und Islam gleichsetzen würden und diskriminieren würden, weil dann geben wir diesen Radikalen Auftrieb, die nichts anderes wollen, als einen religiösen Großkonflikt, einen Krieg der Kulturen, dann würden wir denen in die Karten spielen.
Frage: Wir kennen natürlich den politischen Kalender in Frankreich. Wie gefährdet ist die Demokratie dort?
LINDNER: Abwarten. Sie spielen auf Marine Le Pen und den Front National an. Wenn der Front National den nächsten Präsidenten, die nächste Präsidentin stellen würde, wäre es ein anderes Frankreich, und es wäre natürlich eine große Gefährdung für den europäischen Einigungsprozess. Das ist völlig klar.
Frage: Auf wen setzen Sie denn da als ... nicht als Bollwerk, aber doch als Hoffnungsträger gegen den Populismus in Frankreich in Form des Front National? Gibt es da Menschen, die sich qualifiziert haben besonders oder aber anders herum bereits disqualifiziert haben?
LINDNER: Ich will nicht zu stark in die französische Innenpolitik eingreifen und jetzt für die eine oder andere Seite Partei ergreifen. Insgesamt ist die Situation in Frankreich außerordentlich schwierig, weil die Konservativen wie auch die Sozialdemokraten, respektive Sozialisten in Frankreich in keinem guten Zustand sind. Frankreich blockiert sich selbst, weil es seine wirtschaftliche Lage falsch einschätzt und in den letzten Jahren immer die falschen Konsequenzen gezogen hat, nämlich eher auf mehr Staat und mehr Bürokratie zu setzen. Alle marktwirtschaftlichen Reformbemühungen, die sich ja in Deutschland als erfolgreich herausgestellt haben im vergangenen Jahrzehnt durch die Agenda 2010, die sind in Frankreich bisher gescheitert. Und gut wäre es, wenn die gemäßigten Kräfte der Mitte hier zu einem neuen Konsens kämen, der auch die Gewerkschaften einschließt.
Frage: Es herrscht kein Mangel an Populisten. Wir kommen noch zur Innenpolitik, aber ein kurzer Blick auf die USA. Donald Trump wird gerade als Kandidat der Republikaner gekürt. Hierzulande wird darüber der Kopf geschüttelt. Reicht das aus?
LINDNER: Was können wir tun, um die amerikanische Meinungsbildung zu beeinflussen? Ich setze auf Hillary Clinton. Das ist eine erfahrene Frau, die im Übrigen ja auch für eine Kontinuität in der Politik von Obama steht, die ich auch für richtig halte. Also, wäre ich in den Vereinigten Staaten Politiker, dann würde ich der Demokratischen Partei zuneigen und nicht diesen radikalisierten Republikanern. Die aktuellen Umfragen zeigen, dass nach Anfangserfolgen sich die Wahlaussichten von Herrn Trump verschlechtert haben. Aber sicher kann man sich nicht sein. Hoffen wir mal, dass uns das erspart bleibt.
Frage: Ein Wahlsieg wäre ein schlechtes Zeichen für Verhandlungen zum Beispiel über die Freihandelszone, TTIP, arg umstritten. Manche erklären dieses Projekt bereits jetzt für gescheitert. Gehören Sie dazu? Und wenn ja, wer hat das an die Wand gefahren?
LINDNER: Nein, ich gehöre nicht dazu. Ich halte den transatlantischen Freihandel für eine wirtschaftliche und eine Zivilisationschance. Es ist eine wirtschaftliche Chance, weil die enorme Belebung des Handels bei uns Arbeitsplätze sichert, insbesondere übrigens in Europa, in Deutschland und im Mittelstand, weshalb man in den USA ja TTIP inzwischen kritisch sieht, weil man glaubt, die Europäer sind wettbewerbsfähiger als die Vereinigten Staaten. Es ist eine Zivilisationschance, weil wir der Globalisierung Regeln geben können. Wie soll das anders gehen, als wenn die großen Demokratien von Nordamerika und Europa sich auf Standards und Verfahren verständigen? Ich kann deshalb nicht verstehen, dass insbesondere unser deutscher Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel jetzt schon vorab den transatlantischen Freihandel für gescheitert erklärt, für tot erklärt, wie es in seiner Partei heißt. Das sind doch parteipolitische Egoismen, die da eine Rolle spielen. Und, um es ganz hart zu sagen: David Cameron hat aus parteipolitischem Eigeninteresse den Brexit provoziert, und Sigmar Gabriel steht ihm in nichts nach, wenn er aus Parteipolitik, um dem Affen Zucker zu geben, um seiner Partei ein Stück mehr Zustimmung zu organisieren, jetzt in der Manier der Linkspartei den Freihandel für beendet erklärt. Denn, wenn von Deutschland ausgehend der Wirtschaftsminister und Vizekanzler sagt, das kommt nicht, dann nimmt er eine europäische Entscheidung vorweg. Und dann betreibt er ein Zerstörungswerk, wo wir doch eigentlich darauf setzen müssten, dass diejenigen, die die gleichen Werte, westlichen Werte teilen, dass diejenigen stärker zusammenstehen.
Frage: Sie hören das Interview der Woche. Bei mir im Studio ist Christian Lindner, der Bundesvorsitzende der FDP. Herr Lindner, Sie haben das mal kurz erwähnt am Anfang, am 4. September wird in Mecklenburg-Vorpommern gewählt. Zwei Wochen später ist Berlin dran. Sind Sie schon voll im Wahlkampf?
LINDNER: Ja. Und macht Freude.
Frage: Ist das ein Handicap – Wahlkampf während der Sommerferien?
LINDNER: In Mecklenburg-Vorpommern kann man Wahlkampf da machen, wo andere Urlaub machen. Also insofern, das betrachte ich jetzt nicht als Handicap, sondern das macht Freude. Die Wahlkampfphase ist natürlich anders, ist komprimierter. Die richtige Auseinandersetzung der Argumente wird dann erst nach der Sommerpause stattfinden, wird also relativ kurz sein. Für uns ist es eher kein Handicap, weil als eine kleinere Partei mit weniger Ressourcen ist es eher ein Vorteil, wenn man im Sprint punkten kann und nicht auf einer langen Distanz seine Kraft einsetzen muss.
Frage: Handicap deshalb möglicherweise, weil Sie mit Touristen natürlich Wähler treffen, die für Mecklenburg-Vorpommern wahrscheinlich dann kein Kreuzchen machen können.
LINDNER: Ja, aber viele in Mecklenburg-Vorpommern, die dort wählen können, sind im Tourismus beschäftigt. Also die kann man schon erreichen.
Frage: Mit Blick auf die Bundestagswahl haben Sie sich festgelegt vor einiger Zeit und haben gesagt: Wir werden stärker als die AfD. Die kommt Ihnen ja in Umfragen im Moment gerade entgegen, was dieses Ziel angeht. Zeigen die Differenzen in der AfD-Führung, dass sich das Problem der Rechtspopulisten hierzulande von selbst erledigt?
LINDNER: Da bin ich zögerlich, denn die Wähler der AfD haben sich in der Vergangenheit kaum beeindrucken lassen durch internen Streit, durch die Substanzlosigkeit der AfD. Man wird sehen, welche Auswirkungen die Entscheidung im Vereinigten Königreich hat. Dort hat man ja das Geschäftsmodell der Populisten gesehen. Die können zerstören. Und, wenn sie zerstört haben, lassen sie das Volk mit den Trümmern allein. Es ist keine seriöse Kraft. Und in Baden-Württemberg konnte man jetzt auch sehen, wie indifferent diese Partei umgeht sogar mit dem Antisemitismus und Rassismus einzelner ihrer Mitglieder. Das ist denen egal. Das gilt so als ein Schönheitsfehler, den man relativieren kann. Ich nehme die Wähler der AfD ausdrücklich ernst – auch deren Sorge. Aber, wenn diese Wähler ernst genommen werden wollen, dann müssen sie sich auch die Position der Partei inklusive dieses ungeklärten Verhältnisses zum Antisemitismus zuschreiben lassen. Das ist eine radikale Partei. Und wer diese Partei unterstützt, der wählt nicht Deutschland, wie es früher einmal war, der wählt ein anderes Deutschland, ein antiliberales Deutschland, ein nicht mehr weltoffenes Deutschland, ein dumpfes Deutschland. Und da haben die Wähler eine besondere Verantwortung. Ich will jedenfalls in so einem Land nicht leben.
Frage: Es wird in diesen Tagen spekuliert, diskutiert über Rot-Rot-Grün im Bund. Sommerlochthema? Oder aus Ihrer Sicht eine Diskussion mit Substanz?
LINDNER: Natürlich suchen SPD, Grüne und Linkspartei jetzt Optionen. Ist völlig klar. Und die Politik von Sigmar Gabriel kann man da auch nicht anders interpretieren. Er hat seine Partei ja auf Linkskurs gebracht. Wir sprachen gerade über den transatlantischen Freihandel. Die Grünen sprechen über breitflächige Steuererhöhungen, auch in Mittelstand und Mittelschicht hinein. Das ist die alte Leier. Also, natürlich versucht man da, sich aufzubauen. Ich bin gespannt, wie die weiteren Personalentscheidungen zum Beispiel bei den Grünen sein werden. Das wird ebenfalls ja eine Richtungsweisung sein, ob diese Partei sich nach links orientiert.
Frage: Wenn es stimmt, dass alles mit allem zusammenhängt, dann erledigt sich für mich zumindest das Problem des thematischen Übergangs, der Überleitung. Wäre da kein Putschversuch und wäre da kein Anschlag in Nizza gewesen, wir hätten vermutlich sehr viel Zeit auf das Thema Brexit ...
LINDNER: Ja.
Frage: ... verwendet. Lassen Sie uns darauf noch kommen im letzten Teil dieses Gesprächs. Sehen Sie gut drei Wochen nach der Entscheidung in Großbritannien allmählich ein Ende der chaotischen Diskussion?
LINDNER: Immerhin gibt es eine Regierung in Großbritannien jetzt, die Gespräche gestalten will. Auch die Organisationsentscheidungen der neuen Premierministerin zeigten ja, dass sie jetzt das Ganze in eine Ordnung überführen will. Das ist auch richtig. Schnell Klarheit herzustellen, ist im Interesse von beiden Seiten. Ich warne vor einer Demütigung Großbritanniens. Weiter muss das ein starker Partner für die EU und innerhalb der NATO sein. Kein Special Deal, aber eben auch keine Demütigung, denn Großbritannien ist mit seiner marktwirtschaftlichen Position immer ein besonderer Gesprächspartner für Deutschland gewesen.
Frage: Als sich Theresa May durchsetzte, haben viele hier durchgeatmet. Ein paar Stunden später, als Sie Boris Johnson ernannte, haben wieder alle aufgestöhnt. Sagt das schon etwas über die neue Premierministerin?
LINDNER: Ich empfehle, das innenpolitisch und parteipolitisch zu interpretieren. Sie wollte einen Gegner des Verbleibs in der EU einbinden. Aber sein Außenministerium ist ja um viele Befugnisse beschnitten worden. Also insofern abwarten, wie sich das entwickelt. Für uns entscheidend muss sein: Es braucht einen fairen Deal mit Großbritannien, also keine Sonderbehandlung, kein Rabatt. Das würde ja innerhalb Europas andere anregen, dem Beispiel gar noch folgen zu wollen. Es kann auch kein Modell Schweiz geben, also eine Vielzahl von bilateralen Abkommen zwischen EU und Großbritannien. Das Modell hat sich nicht bewährt, sondern das Modell muss sein: Norwegen. Sprich, wenn Großbritannien weiter am Binnenmarkt teilnehmen will, muss es alle Freizügigkeiten auch gewähren, die im Binnenmarkt garantiert sind. Da bin ich gespannt, wie die das innenpolitisch umsetzen.
Frage: Die Kanzlerin sagt: Wieso fragen alle nach unserem Plan? Sollen die Briten doch erst mal einen vorlegen. Hat sie recht?
LINDNER: Nein, wir müssen schon auch natürlich gestalten. Das ist eine Aufgabe Europas. Und ich habe ja schon gesagt, wir brauchen eine Festigkeit, aber keine Demütigung. Mich hat gestört dieser erhobene Zeigefinger beispielsweise von Martin Schulz. Damit stärkt man im Nachhinein ja nur die Befürworter des Brexit.
Frage: Rechnen Sie mit Nachahmern? Kann die EU ein oder zwei Referenden mit diesem Ergebnis verkraften?
LINDNER: Nicht mehr. Die verheerenden Folgen, die sich jetzt abzeichnen für die britische Wirtschaft und auch die Katerstimmung in der Politik, die hat doch manchem gezeigt, also dass man ganz, ganz schnell mit Kritik Dinge kaputt machen kann, die aber danach nicht besser werden. Auch in Deutschland ist es ja ein sehr gutes Zeichen, dass die Zustimmung zu Europa gestiegen ist nach dem Brexit-Votum. Ist doch auch klar, dass es in Europa Defizite gibt. Europa muss auch besser werden. Wir brauchen ein Europa, das die großen Fragen löst und das uns im Alltag nicht lästig fällt. Stichwort Glühbirne. Aber es kann doch keinen Zweifel geben, dass bei der Flüchtlingskrise, der Sicherung der Außengrenzen, der Außen- und Sicherheitspolitik, der Handelspolitik und bei der Vertiefung des Binnenmarktes wir eher mehr als weniger Europa brauchen.
Frage: Die Diskussion schwankt ja so ein bisschen, was nötige Folgen angeht, zwischen Pragmatismus einerseits – Schäuble, Steinmeier – und der Idee, radikal neu nachzudenken. Wo steht die FDP in diesem Spektrum?
LINDNER: Wir wollen zurück zu dem ursprünglichen Gedanken, warum Europa geschaffen worden ist. Und das war, Freiheit zu gewähren. Das war ein Europa ohne Schlagbäume, ohne Währungsschwankungen, ohne Zölle, ohne ärgerliche Bürokratie, wenn man über die Grenzen hinweg Handel betreiben wollte oder ...
Frage: Aber das haben wir doch.
LINDNER: Genau.
Frage: Und das scheint nicht sehr beliebt zu sein.
LINDNER: Ich glaube, dass das sehr beliebt ist, nur von vielen als eine Selbstverständlichkeit begriffen wird. Es ist keine Selbstverständlichkeit, wie der Brexit gezeigt hat. Also muss man diese Selbstverständlichkeit in Erinnerung rufen. Wir wollen zurück zu dieser Kraftquelle. Das heißt also: mehr denken in Binnenmarkt und Freiheit, weniger Bürokratismus. Was Brüssel nicht regeln muss, das soll Brüssel auch nicht regeln dürfen.
Frage: Ich kann mich erinnern – vielleicht vier, fünf Jahre her – Sie haben mit Hans-Dietrich Genscher ein Buch geschrieben.
LINDNER: Ja.
Frage: Da ging es um die Europäische Union.
LINDNER: Richtig.
Frage: Genscher hat gesagt: Das war für uns damals ein Friedensprojekt.
LINDNER: Richtig.
Frage: Und, wenn ich es recht erinnere, haben Sie gesagt: Das ist etwas, diese Idee allein, das überzeugt heute nicht mehr. Denken Sie anders?
LINDNER: Nein, ich denke nicht anders. Natürlich ist es ein Friedensprojekt, und natürlich ist es ein Freiheitsprojekt. Nur Europa muss heute begründen, warum es stark sein muss durch gute Problemlösung. Bei der Flüchtlingspolitik erwarte ich das. Bei der Sicherheitspolitik erwarten wir das, bei Fragen des Binnenmarktes, aber nicht bei Dingen, die Sie und ich selber in der Hand behalten können, wofür wir überhaupt keine Politik, erst recht keine europäische Politik brauchen.
Frage: Ich habe den Namen Genscher erwähnt. Diese Generation wird gefeiert für ihre Gründung der Europäischen Union. Muss man ehrlicherweise auch sagen, dass viele Geburtsfehler durch diese Generation angelegt waren, die uns jetzt Kopfzerbrechen machen?
LINDNER: Ich sehe eher in den vergangenen Jahren die Defizite, die sich jetzt auch beschleunigen, nicht bei der Gründungsgeneration. Also der Binnenmarkt von 1992, Herr Remme, das halte ich für eine der größten Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts überhaupt. Denn da drückt sich ja nicht nur wirtschaftliche Aktivität aus, sondern das ist eben der Verzicht auf Grenzen. Die Fehler werden jetzt gemacht, wenn schon wieder zum Beispiel beim europäischen Stabilitätspakt Regeln gebrochen und verwässert werden, mehr Schulden gemacht werden dürfen und die deutsche Bundesregierung nicht als Wächter dieser Vertragsbestimmungen auftritt, sondern in Gestalt von Herrn Gabriel noch ermuntert dazu, mehr Schulden zu machen.
Frage: Kurze Frage zum Schluss noch. Wir haben gesprochen über Türkei, über Terror, über Brexit. Ist eines dieser drei Themen wahlentscheidend im nächsten Jahr?
LINDNER: Der Zustand Europas und die deutsche Rolle, das wird natürlich eine Diskussion im Bundestagswahlkampf sein. Unsere Haltung ist klar. Wir wollen Europa, aber Europa muss besser werden, und in seinem Zentrum muss der Gedanke der Freiheit und nicht der des Bürokratismus stehen.
LINDNER-Interview: Beitrittsverhandlungen beenden, Partnerschaft erhalten
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab dem „Deutschlandfunk“ am Sonntag das folgende „Interview der Woche“. Die Fragen stellte KLAUS REMME.
Frage: Wir haben uns für ein so ausführliches Gespräch das letzte Mal im Januar hier zusammengesetzt. Ich habe mir das gestern noch einmal angehört. Auch da haben wir ausführlich über die Türkei gesprochen. Sie waren ausgesprochen kritisch, was Erdogan und seine Politik anging. Haben Sie Freitagabend, als die Bilder und die ersten Nachrichten kamen, für einen Moment insgeheim gehofft, der Militärputsch möge gelingen?
LINDNER: Nein, Herr Remme. Die Kritik an Herrn Erdogan und seiner autoritären Amtsführung darf ja nicht dazu führen, dass man ihn ersetzen will durch ein Militärregime. Also eine schlecht funktionierende Demokratie durch eine Militärdiktatur zu ersetzen, das kann ich nicht als einen zivilisatorischen Fortschritt begreifen. Klar ist aber, dass die Bedenken und Befürchtungen hinsichtlich der inneren Entwicklung der Türkei, die ich zuletzt geäußert hatte, sich jetzt bestätigt haben. Denn dieser Militärputschversuch ist ja nichts anderes als ein Signal, dass es innerhalb der Türkei starke Oppositionskräfte gibt, die mit dem Kurs von Herrn Erdogan, aus der Türkei, einem säkularen westlich orientierten Staat, eine islamische Republik machen zu wollen, nicht einverstanden sind.
Frage: Hat der Vorsitzende der türkischen Gemeinde in Deutschland recht, wenn er sagt, die Demokratie hat gesiegt?
LINDNER: Ich halte Herrn Erdogan nicht für einen lupenreinen Demokraten. Und meine Befürchtung ist, dass er die jetzige Situation zu seinen Zwecken nutzt, erst recht voranzutreiben, aus der Türkei einen autoritären, islamischen Staat zu machen. Also bei aller Erleichterung darüber, dass es bei der gewählten Regierung bleibt, ein lupenreiner Demokrat ist Herr Erdogan nicht. Und wir müssen schauen, wie in den nächsten Wochen die Entwicklung in der Türkei ist. Ich bin in größter Sorge, dass nach dem Putschversuch des Militärs jetzt Herr Erdogan die Gunst der Stunde nutzt, um aus der Türkei ein anderes Land zu machen – letztlich ein islamisches Land, das zugeschnitten ist auf die Führung durch seine Person.
Frage: Alle sagen – und das war ja gestern eindeutig über die Parteigrenzen hinweg zu hören – die gewählte Führung der Türkei muss geachtet werden. Sie hat sich ja jetzt auch durchgesetzt. Aber kann die Bundesregierung zur Tagesordnung übergehen? Oder muss dieser Putschversuch konkrete Folgen für die Politik von Angela Merkel und ihrem Kabinett haben?
LINDNER: Sie muss Folgen haben für die Europäische Union. Das jetzt, dieses Ereignis ist für mich der nächste wichtige Fingerzeig, dass wir die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beenden sollten. Die Türkei soll weiter ein Partner der EU sein. Sie ist ja auch ein NATO-Verbündeter. Aber diese wirklich jetzt inhaltlich völlig ausgehöhlten Beitrittsgespräche zur Europäischen Union sollte man im gegenseitigen Interesse beenden. Das ist auch nicht ein Interesse des türkischen Volkes, dass über eine solche fiktive Frage weiter gesprochen wird. Ende – und dann kann man auch auf einer anderen Ebene miteinander sprechen.
Frage: Dann gehen wir ein paar konkrete Punkte durch. EU-Beitrittsgespräche haben Sie genannt. Visa-Freiheit für die Türkei – geplant. Weiter so?
LINDNER: Ich bin offen für eine Visa-Freiheit hinsichtlich der türkischen Geschäftsleute. Aber die Geschäftsgrundlage des Ganzen muss klar sein. Es kann nicht zu einer ungeordneten Einwanderung dann über diesen Umweg kommen, sondern es geht um eine Erleichterung im Alltagsleben. Wir haben viele türkeistämmige Deutsche, die noch Familien in der alten Heimat haben. Das zu erleichtern, halte ich für in Ordnung. Und dafür brauchen wir weder einen EU-Beitritt, noch dürfen wir uns das abtrotzen lassen hinsichtlich der Flüchtlingspolitik.
Frage: Nächster Punkt: Flüchtlingsdeal. Weiter so?
LINDNER: Pragmatisch jetzt ja. Diese Politik ist ja eingeschlagen worden auch auf deutsche Veranlassung in Europa. Aber wir dürfen uns ja nicht auf Herrn Erdogan und sein Land auf Dauer verlassen. Wir dürfen erst recht nicht in die Abhängigkeit von einem autoritären Staatspräsidenten geraten. Europa muss Verantwortung für seine eigenen Interessen übernehmen. Für mich heißt das nichts anderes, als dass wir einen europäischen Grenzschutz brauchen, eine europäische Grenzpolizei, gemeinsam getragen. Die braucht hoheitliche Befugnisse. Die braucht auch eine personelle Ausstattung, die hinreichend ist. Und dann muss der europäische Staatenverbund in der Lage sein, sein Gebiet selbst zu schützen und wieder Kontrolle darüber auszuüben, wen wir aus humanitären Gründen reinlassen oder wen wir gar einladen aus wirtschaftlichen Interessen in unsere Arbeitsmärkte. Aber das darf nicht in der Hand von Herrn Erdogan liegen.
Frage: Nächster Punkt: Bundeswehrsoldaten in Incirlik. Weiter so?
LINDNER: Ja. Das sind ja Verpflichtungen, die sich aus unserer NATO-Mitgliedschaft ergeben. Und wir haben doch gemeinsam ein Interesse an der Stabilität in diesem Raum. Die Türkei ist strategisch, geostrategisch viel wichtiger als etwa zu Zeiten des Kalten Krieges. Und dass die Bundeswehr dort einen Beitrag leistet, will ich nicht kritisieren, sondern ganz im Gegenteil. Wir haben gelernt durch die Wanderungsbewegungen des vergangenen Jahres, dass wir unmittelbare Interessen auch in unserer Nachbarschaft an Stabilität haben.
Frage: Herr Lindner, hätte es diesen Putschversuch nicht gegeben, wäre sicherlich der Anschlag in Nizza unser erstes Thema gewesen. Sie waren an diesem 14. Juli – dem Nationalfeiertag – morgens noch in der Stadt. Warum eigentlich?
LINDNER: Aus privaten Gründen – Urlaub bei Freunden. Nicht in Nizza, aber in der Nähe. Und ich bin am frühen Morgen von Nizza aus nach Deutschland zurückgeflogen, um dann abends in Mecklenburg-Vorpommern Wahlkampfveranstaltungen zu machen. Also ich habe morgens noch vom Auto aus, als ich durch die Stadt gefahren bin, gesehen, wie die Menschen sich auf ihren Nationalfeiertag vorbereitet haben. Eine friedliche Stimmung. Die Stadt lag in der Morgensonne. Schrecklich, dass dann am Abend ein solches menschenverachtendes Verbrechen hat stattfinden können.
Frage: Noch in der Nacht legten sich die Behörden in Frankreich sehr schnell fest: terroristischer Hintergrund, islamistischer Hintergrund. Greifen da im Moment allzu schnell Reflexe? Denn Erkenntnisse gab es wenige.
LINDNER: Das weiß ich im Einzelnen nicht. Es scheint sich aber ja bestätigt zu haben, dass es ein radikalisierter Einzeltäter ist. Es fehlen einem ja die Worte. Und ich glaube, niemand kann nachvollziehen, was in solchen Menschen vorgeht, die einen solchen Hass entwickeln auf andere, die ihr Leben lieben und einfach nur miteinander feiern wollen. Klar ist jedenfalls in meinen Augen, dass wir über die Sicherheitspolitik in Europa nachdenken müssen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens halte ich es für erforderlich, dass die Sicherheitsbehörden in Europa und auch in Deutschland besser ausgestattet werden und auch stärker kooperieren. Das betrifft dann den organisierten Terrorismus. Bei den radikalisierten Einzeltätern wird man nicht durch noch so gute Sicherheitsbehörden zu mehr Schutz kommen. Hier, glaube ich, ist es notwendig, dass man in das Vorfeld, in das Unterstützerfeld, dort, wo Menschen sich radikalisieren könnten, eingreift. Ganz konkret für Deutschland gesprochen: Der radikalisierte Islam, der Islamismus, der Salafismus der muss stärker von unseren Verfassungsschutzbehörden in den Blick genommen werden. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die den Koran in Fußgängerzonen verteilen wollen oder die bei Grillfesten den Nachwuchs an Gotteskriegern für diesen Krieg der islamistischen Sekte rekrutieren wollen, dass die das unter den Augen unserer Behörden tun können.
Frage: Frankreich steht im Zentrum dieser Anschläge der letzten Monate. Haben Sie den Eindruck, hier soll gezielt ein Land politisch sturmreif geschossen werden?
LINDNER: Das ist der Zweck. Diese Terroristen wollen, dass unsere Gesellschaften sich radikalisieren. Die wollen, dass wir instabil werden. Und die wollen, dass wir selbst unsere Freiheit einschränken. Oder, um es in einem klaren Satz zu sagen: Guantanamo in den USA – das war ein Sieg des Islamismus, weil diese Kräfte sagen konnten: "Schaut her in den Westen. Sie sprechen über Bürgerrechte. Sie sprechen über Menschenrechte. Sie sprechen über liberale Verfassungen. Aber jetzt machen sie Guantanamo." Und deshalb müssen wir jetzt die richtigen Konsequenzen aus dieser Bedrohungslage ziehen. Falsch wäre es, wenn wir unser Leben verändern würden, unsere Lebensart verändern würden, wenn wir uns einschüchtern ließen. Falsch wäre es, wenn wir bürgerliche Freiheitsrechte einschränken würden. Falsch wäre es ...
Frage: Das sind ...
LINDNER: Herr Remme, ein Satz noch. Falsch wäre es auch, wenn wir plötzlich Islamismus und Islam gleichsetzen würden und diskriminieren würden, weil dann geben wir diesen Radikalen Auftrieb, die nichts anderes wollen, als einen religiösen Großkonflikt, einen Krieg der Kulturen, dann würden wir denen in die Karten spielen.
Frage: Wir kennen natürlich den politischen Kalender in Frankreich. Wie gefährdet ist die Demokratie dort?
LINDNER: Abwarten. Sie spielen auf Marine Le Pen und den Front National an. Wenn der Front National den nächsten Präsidenten, die nächste Präsidentin stellen würde, wäre es ein anderes Frankreich, und es wäre natürlich eine große Gefährdung für den europäischen Einigungsprozess. Das ist völlig klar.
Frage: Auf wen setzen Sie denn da als ... nicht als Bollwerk, aber doch als Hoffnungsträger gegen den Populismus in Frankreich in Form des Front National? Gibt es da Menschen, die sich qualifiziert haben besonders oder aber anders herum bereits disqualifiziert haben?
LINDNER: Ich will nicht zu stark in die französische Innenpolitik eingreifen und jetzt für die eine oder andere Seite Partei ergreifen. Insgesamt ist die Situation in Frankreich außerordentlich schwierig, weil die Konservativen wie auch die Sozialdemokraten, respektive Sozialisten in Frankreich in keinem guten Zustand sind. Frankreich blockiert sich selbst, weil es seine wirtschaftliche Lage falsch einschätzt und in den letzten Jahren immer die falschen Konsequenzen gezogen hat, nämlich eher auf mehr Staat und mehr Bürokratie zu setzen. Alle marktwirtschaftlichen Reformbemühungen, die sich ja in Deutschland als erfolgreich herausgestellt haben im vergangenen Jahrzehnt durch die Agenda 2010, die sind in Frankreich bisher gescheitert. Und gut wäre es, wenn die gemäßigten Kräfte der Mitte hier zu einem neuen Konsens kämen, der auch die Gewerkschaften einschließt.
Frage: Es herrscht kein Mangel an Populisten. Wir kommen noch zur Innenpolitik, aber ein kurzer Blick auf die USA. Donald Trump wird gerade als Kandidat der Republikaner gekürt. Hierzulande wird darüber der Kopf geschüttelt. Reicht das aus?
LINDNER: Was können wir tun, um die amerikanische Meinungsbildung zu beeinflussen? Ich setze auf Hillary Clinton. Das ist eine erfahrene Frau, die im Übrigen ja auch für eine Kontinuität in der Politik von Obama steht, die ich auch für richtig halte. Also, wäre ich in den Vereinigten Staaten Politiker, dann würde ich der Demokratischen Partei zuneigen und nicht diesen radikalisierten Republikanern. Die aktuellen Umfragen zeigen, dass nach Anfangserfolgen sich die Wahlaussichten von Herrn Trump verschlechtert haben. Aber sicher kann man sich nicht sein. Hoffen wir mal, dass uns das erspart bleibt.
Frage: Ein Wahlsieg wäre ein schlechtes Zeichen für Verhandlungen zum Beispiel über die Freihandelszone, TTIP, arg umstritten. Manche erklären dieses Projekt bereits jetzt für gescheitert. Gehören Sie dazu? Und wenn ja, wer hat das an die Wand gefahren?
LINDNER: Nein, ich gehöre nicht dazu. Ich halte den transatlantischen Freihandel für eine wirtschaftliche und eine Zivilisationschance. Es ist eine wirtschaftliche Chance, weil die enorme Belebung des Handels bei uns Arbeitsplätze sichert, insbesondere übrigens in Europa, in Deutschland und im Mittelstand, weshalb man in den USA ja TTIP inzwischen kritisch sieht, weil man glaubt, die Europäer sind wettbewerbsfähiger als die Vereinigten Staaten. Es ist eine Zivilisationschance, weil wir der Globalisierung Regeln geben können. Wie soll das anders gehen, als wenn die großen Demokratien von Nordamerika und Europa sich auf Standards und Verfahren verständigen? Ich kann deshalb nicht verstehen, dass insbesondere unser deutscher Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel jetzt schon vorab den transatlantischen Freihandel für gescheitert erklärt, für tot erklärt, wie es in seiner Partei heißt. Das sind doch parteipolitische Egoismen, die da eine Rolle spielen. Und, um es ganz hart zu sagen: David Cameron hat aus parteipolitischem Eigeninteresse den Brexit provoziert, und Sigmar Gabriel steht ihm in nichts nach, wenn er aus Parteipolitik, um dem Affen Zucker zu geben, um seiner Partei ein Stück mehr Zustimmung zu organisieren, jetzt in der Manier der Linkspartei den Freihandel für beendet erklärt. Denn, wenn von Deutschland ausgehend der Wirtschaftsminister und Vizekanzler sagt, das kommt nicht, dann nimmt er eine europäische Entscheidung vorweg. Und dann betreibt er ein Zerstörungswerk, wo wir doch eigentlich darauf setzen müssten, dass diejenigen, die die gleichen Werte, westlichen Werte teilen, dass diejenigen stärker zusammenstehen.
Frage: Sie hören das Interview der Woche. Bei mir im Studio ist Christian Lindner, der Bundesvorsitzende der FDP. Herr Lindner, Sie haben das mal kurz erwähnt am Anfang, am 4. September wird in Mecklenburg-Vorpommern gewählt. Zwei Wochen später ist Berlin dran. Sind Sie schon voll im Wahlkampf?
LINDNER: Ja. Und macht Freude.
Frage: Ist das ein Handicap – Wahlkampf während der Sommerferien?
LINDNER: In Mecklenburg-Vorpommern kann man Wahlkampf da machen, wo andere Urlaub machen. Also insofern, das betrachte ich jetzt nicht als Handicap, sondern das macht Freude. Die Wahlkampfphase ist natürlich anders, ist komprimierter. Die richtige Auseinandersetzung der Argumente wird dann erst nach der Sommerpause stattfinden, wird also relativ kurz sein. Für uns ist es eher kein Handicap, weil als eine kleinere Partei mit weniger Ressourcen ist es eher ein Vorteil, wenn man im Sprint punkten kann und nicht auf einer langen Distanz seine Kraft einsetzen muss.
Frage: Handicap deshalb möglicherweise, weil Sie mit Touristen natürlich Wähler treffen, die für Mecklenburg-Vorpommern wahrscheinlich dann kein Kreuzchen machen können.
LINDNER: Ja, aber viele in Mecklenburg-Vorpommern, die dort wählen können, sind im Tourismus beschäftigt. Also die kann man schon erreichen.
Frage: Mit Blick auf die Bundestagswahl haben Sie sich festgelegt vor einiger Zeit und haben gesagt: Wir werden stärker als die AfD. Die kommt Ihnen ja in Umfragen im Moment gerade entgegen, was dieses Ziel angeht. Zeigen die Differenzen in der AfD-Führung, dass sich das Problem der Rechtspopulisten hierzulande von selbst erledigt?
LINDNER: Da bin ich zögerlich, denn die Wähler der AfD haben sich in der Vergangenheit kaum beeindrucken lassen durch internen Streit, durch die Substanzlosigkeit der AfD. Man wird sehen, welche Auswirkungen die Entscheidung im Vereinigten Königreich hat. Dort hat man ja das Geschäftsmodell der Populisten gesehen. Die können zerstören. Und, wenn sie zerstört haben, lassen sie das Volk mit den Trümmern allein. Es ist keine seriöse Kraft. Und in Baden-Württemberg konnte man jetzt auch sehen, wie indifferent diese Partei umgeht sogar mit dem Antisemitismus und Rassismus einzelner ihrer Mitglieder. Das ist denen egal. Das gilt so als ein Schönheitsfehler, den man relativieren kann. Ich nehme die Wähler der AfD ausdrücklich ernst – auch deren Sorge. Aber, wenn diese Wähler ernst genommen werden wollen, dann müssen sie sich auch die Position der Partei inklusive dieses ungeklärten Verhältnisses zum Antisemitismus zuschreiben lassen. Das ist eine radikale Partei. Und wer diese Partei unterstützt, der wählt nicht Deutschland, wie es früher einmal war, der wählt ein anderes Deutschland, ein antiliberales Deutschland, ein nicht mehr weltoffenes Deutschland, ein dumpfes Deutschland. Und da haben die Wähler eine besondere Verantwortung. Ich will jedenfalls in so einem Land nicht leben.
Frage: Es wird in diesen Tagen spekuliert, diskutiert über Rot-Rot-Grün im Bund. Sommerlochthema? Oder aus Ihrer Sicht eine Diskussion mit Substanz?
LINDNER: Natürlich suchen SPD, Grüne und Linkspartei jetzt Optionen. Ist völlig klar. Und die Politik von Sigmar Gabriel kann man da auch nicht anders interpretieren. Er hat seine Partei ja auf Linkskurs gebracht. Wir sprachen gerade über den transatlantischen Freihandel. Die Grünen sprechen über breitflächige Steuererhöhungen, auch in Mittelstand und Mittelschicht hinein. Das ist die alte Leier. Also, natürlich versucht man da, sich aufzubauen. Ich bin gespannt, wie die weiteren Personalentscheidungen zum Beispiel bei den Grünen sein werden. Das wird ebenfalls ja eine Richtungsweisung sein, ob diese Partei sich nach links orientiert.
Frage: Wenn es stimmt, dass alles mit allem zusammenhängt, dann erledigt sich für mich zumindest das Problem des thematischen Übergangs, der Überleitung. Wäre da kein Putschversuch und wäre da kein Anschlag in Nizza gewesen, wir hätten vermutlich sehr viel Zeit auf das Thema Brexit ...
LINDNER: Ja.
Frage: ... verwendet. Lassen Sie uns darauf noch kommen im letzten Teil dieses Gesprächs. Sehen Sie gut drei Wochen nach der Entscheidung in Großbritannien allmählich ein Ende der chaotischen Diskussion?
LINDNER: Immerhin gibt es eine Regierung in Großbritannien jetzt, die Gespräche gestalten will. Auch die Organisationsentscheidungen der neuen Premierministerin zeigten ja, dass sie jetzt das Ganze in eine Ordnung überführen will. Das ist auch richtig. Schnell Klarheit herzustellen, ist im Interesse von beiden Seiten. Ich warne vor einer Demütigung Großbritanniens. Weiter muss das ein starker Partner für die EU und innerhalb der NATO sein. Kein Special Deal, aber eben auch keine Demütigung, denn Großbritannien ist mit seiner marktwirtschaftlichen Position immer ein besonderer Gesprächspartner für Deutschland gewesen.
Frage: Als sich Theresa May durchsetzte, haben viele hier durchgeatmet. Ein paar Stunden später, als Sie Boris Johnson ernannte, haben wieder alle aufgestöhnt. Sagt das schon etwas über die neue Premierministerin?
LINDNER: Ich empfehle, das innenpolitisch und parteipolitisch zu interpretieren. Sie wollte einen Gegner des Verbleibs in der EU einbinden. Aber sein Außenministerium ist ja um viele Befugnisse beschnitten worden. Also insofern abwarten, wie sich das entwickelt. Für uns entscheidend muss sein: Es braucht einen fairen Deal mit Großbritannien, also keine Sonderbehandlung, kein Rabatt. Das würde ja innerhalb Europas andere anregen, dem Beispiel gar noch folgen zu wollen. Es kann auch kein Modell Schweiz geben, also eine Vielzahl von bilateralen Abkommen zwischen EU und Großbritannien. Das Modell hat sich nicht bewährt, sondern das Modell muss sein: Norwegen. Sprich, wenn Großbritannien weiter am Binnenmarkt teilnehmen will, muss es alle Freizügigkeiten auch gewähren, die im Binnenmarkt garantiert sind. Da bin ich gespannt, wie die das innenpolitisch umsetzen.
Frage: Die Kanzlerin sagt: Wieso fragen alle nach unserem Plan? Sollen die Briten doch erst mal einen vorlegen. Hat sie recht?
LINDNER: Nein, wir müssen schon auch natürlich gestalten. Das ist eine Aufgabe Europas. Und ich habe ja schon gesagt, wir brauchen eine Festigkeit, aber keine Demütigung. Mich hat gestört dieser erhobene Zeigefinger beispielsweise von Martin Schulz. Damit stärkt man im Nachhinein ja nur die Befürworter des Brexit.
Frage: Rechnen Sie mit Nachahmern? Kann die EU ein oder zwei Referenden mit diesem Ergebnis verkraften?
LINDNER: Nicht mehr. Die verheerenden Folgen, die sich jetzt abzeichnen für die britische Wirtschaft und auch die Katerstimmung in der Politik, die hat doch manchem gezeigt, also dass man ganz, ganz schnell mit Kritik Dinge kaputt machen kann, die aber danach nicht besser werden. Auch in Deutschland ist es ja ein sehr gutes Zeichen, dass die Zustimmung zu Europa gestiegen ist nach dem Brexit-Votum. Ist doch auch klar, dass es in Europa Defizite gibt. Europa muss auch besser werden. Wir brauchen ein Europa, das die großen Fragen löst und das uns im Alltag nicht lästig fällt. Stichwort Glühbirne. Aber es kann doch keinen Zweifel geben, dass bei der Flüchtlingskrise, der Sicherung der Außengrenzen, der Außen- und Sicherheitspolitik, der Handelspolitik und bei der Vertiefung des Binnenmarktes wir eher mehr als weniger Europa brauchen.
Frage: Die Diskussion schwankt ja so ein bisschen, was nötige Folgen angeht, zwischen Pragmatismus einerseits – Schäuble, Steinmeier – und der Idee, radikal neu nachzudenken. Wo steht die FDP in diesem Spektrum?
LINDNER: Wir wollen zurück zu dem ursprünglichen Gedanken, warum Europa geschaffen worden ist. Und das war, Freiheit zu gewähren. Das war ein Europa ohne Schlagbäume, ohne Währungsschwankungen, ohne Zölle, ohne ärgerliche Bürokratie, wenn man über die Grenzen hinweg Handel betreiben wollte oder ...
Frage: Aber das haben wir doch.
LINDNER: Genau.
Frage: Und das scheint nicht sehr beliebt zu sein.
LINDNER: Ich glaube, dass das sehr beliebt ist, nur von vielen als eine Selbstverständlichkeit begriffen wird. Es ist keine Selbstverständlichkeit, wie der Brexit gezeigt hat. Also muss man diese Selbstverständlichkeit in Erinnerung rufen. Wir wollen zurück zu dieser Kraftquelle. Das heißt also: mehr denken in Binnenmarkt und Freiheit, weniger Bürokratismus. Was Brüssel nicht regeln muss, das soll Brüssel auch nicht regeln dürfen.
Frage: Ich kann mich erinnern – vielleicht vier, fünf Jahre her – Sie haben mit Hans-Dietrich Genscher ein Buch geschrieben.
LINDNER: Ja.
Frage: Da ging es um die Europäische Union.
LINDNER: Richtig.
Frage: Genscher hat gesagt: Das war für uns damals ein Friedensprojekt.
LINDNER: Richtig.
Frage: Und, wenn ich es recht erinnere, haben Sie gesagt: Das ist etwas, diese Idee allein, das überzeugt heute nicht mehr. Denken Sie anders?
LINDNER: Nein, ich denke nicht anders. Natürlich ist es ein Friedensprojekt, und natürlich ist es ein Freiheitsprojekt. Nur Europa muss heute begründen, warum es stark sein muss durch gute Problemlösung. Bei der Flüchtlingspolitik erwarte ich das. Bei der Sicherheitspolitik erwarten wir das, bei Fragen des Binnenmarktes, aber nicht bei Dingen, die Sie und ich selber in der Hand behalten können, wofür wir überhaupt keine Politik, erst recht keine europäische Politik brauchen.
Frage: Ich habe den Namen Genscher erwähnt. Diese Generation wird gefeiert für ihre Gründung der Europäischen Union. Muss man ehrlicherweise auch sagen, dass viele Geburtsfehler durch diese Generation angelegt waren, die uns jetzt Kopfzerbrechen machen?
LINDNER: Ich sehe eher in den vergangenen Jahren die Defizite, die sich jetzt auch beschleunigen, nicht bei der Gründungsgeneration. Also der Binnenmarkt von 1992, Herr Remme, das halte ich für eine der größten Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts überhaupt. Denn da drückt sich ja nicht nur wirtschaftliche Aktivität aus, sondern das ist eben der Verzicht auf Grenzen. Die Fehler werden jetzt gemacht, wenn schon wieder zum Beispiel beim europäischen Stabilitätspakt Regeln gebrochen und verwässert werden, mehr Schulden gemacht werden dürfen und die deutsche Bundesregierung nicht als Wächter dieser Vertragsbestimmungen auftritt, sondern in Gestalt von Herrn Gabriel noch ermuntert dazu, mehr Schulden zu machen.
Frage: Kurze Frage zum Schluss noch. Wir haben gesprochen über Türkei, über Terror, über Brexit. Ist eines dieser drei Themen wahlentscheidend im nächsten Jahr?
LINDNER: Der Zustand Europas und die deutsche Rolle, das wird natürlich eine Diskussion im Bundestagswahlkampf sein. Unsere Haltung ist klar. Wir wollen Europa, aber Europa muss besser werden, und in seinem Zentrum muss der Gedanke der Freiheit und nicht der des Bürokratismus stehen.