FDP|
20.05.2016 - 11:00Ohne Großbritannien würde sich die Balance verschieben
Für das "Handelsblatt" nimmt Christian Lindner den Brexit ins Visier. Im Gastbeitrag reflektiert der FDP-Chef über das politische Versagen David Camerons, das ambivalente Verhältnis Großbritanniens zu Kontinentaleuropa und die Folgen eines EU-Austritts. Vor allem fordert er, die Krise als Chance für einen Neustart zu begreifen – selbst wenn es zum Brexit käme. "Viele Veränderungsimpulse aus London sind hilfreich. Die Briten haben recht, wenn sie sagen: 'Es läuft nicht alles gut.' Richtig! Wir müssen Europa besser machen – am besten gemeinsam mit Großbritannien", betont Lindner.
Zwar stehe das Land vielfach auf der Bremse, wenn es um weitere Integrationsschritte gehe. "Dabei muss man den Briten zugutehalten, dass sie trotz mancher Exzentrik immer Anwalt für Subsidiarität, Marktwirtschaft und Privatautonomie waren. Ohne sie würde sich die Balance verschieben", gibt der Freidemokrat zu bedenken. Auch für die Briten selbst wäre der Austritt ein Verlust: Letztendlich profitiere das Vereinigte Königreich von der EU-Mitgliedschaft im Hinblick auf Jobs, Handel und Wirtschaftswachstum.
Demgegenüber hielten die EU-Gegner das Einwanderungsthema. "Die Flüchtlingskrise als zweite große Belastungsprobe für die Europäische Union nach Griechenland hat nationale Egoismen zum Vorschein gebracht", konstatiert der FDP-Chef. Mit Blick auf den Geist des neuen Nationalismus und das Erstarken rechtspopulistischer Parteien wie UKIP, Front National und FPÖ stellt Lindner fest: Die Abstimmung über den Brexit sei Symptom für eine tiefe Krise Europas. "Die Idee der Freiheit und eines geeinten Europa ist in die Defensive geraten", unterstreicht Lindner.
Europa besser machen
Der FDP-Chef hat konkrete Vorschläge parat, wie die Europäische Union verbessert werden kann. "Die Zuständigkeiten zwischen Europa und den Mitgliedsstaaten müssen teils neu justiert werden", fordert Lindner. Dazu gehöre es, dass sich Europa aus Themen heraushält, für die es nicht zuständig sei. "Die Subsidiarität ist in den letzten Jahrzehnten zu stark unter die Räder gekommen", findet der Freidemokrat. Für ihn ist eindeutig: Die Sozialpolitik müsse auch in Zukunft in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten bleiben. Darüber hinaus sei mehr Raum für verschiedene Geschwindigkeiten im Europa nötig. "Denn Mitgliedstaaten, die an der Weiterentwicklung der EU nicht oder nur langsamer teilnehmen wollen, sollen die anderen nicht bremsen", gibt er zu bedenken.
Lindner ist außerdem überzeugt: Es braucht eine handlungsfähige EU für die großen Aufgaben der Gegenwart, beispielsweise im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. In diesem Zusammenhang sprach er sich klar für die Entwicklung einer europäischen Armee aus. "Ein starkes Europa brauchen wir auch für eine strikte Währungspolitik, die auf gegenseitige Budgethilfe und eine Vergemeinschaftung von Schulden verzichtet", erläutert der FDP-Chef. "Ebenso notwendig ist eine vertiefte Zusammenarbeit für eine sichere, bezahlbare und klimaschonende Energieversorgung."
Lesen Sie hier den gesamten Gastbeitrag.
Am 23. Juni entscheiden die Briten über „Remain“ oder „Leave“. Laut Umfragen wird es ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben. Die Abstimmung ist dem politischen Versagen David Camerons geschuldet, der sie aus innerparteilichen Motiven befeuerte. Sie ist aber auch Kulminationspunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung, die das ambivalente Verhältnis Großbritanniens zu Kontinentaleuropa offenbart.
„We must build a kind of United States of Europe“ – dieser Satz ist bis heute visionär. Er stammt aus einer Rede des damaligen britischen Oppositionsführers Winston Churchill, die im August 70 Jahre zurückliegt. Für Churchill waren die Vereinigten Staaten von Europa eine logische Konsequenz aus den Weltkriegen. Obwohl er mit seiner Rede der Europa-Idee zum Durchbruch verhalf, legte er damit gleichzeitig das besondere Selbstverständnis Großbritanniens offen.
Denn die Vereinigten Staaten von Europa sollten vor allem Frankreich und Deutschland zusammenführen. Großbritannien, den USA und der Sowjetunion hatte Churchill die Rolle der Freunde und Förderer zugedacht. „We British have our own Commonwealth of Nations“, sagte er.
Es verwundert daher kaum, dass es bis 1973 dauerte, ehe der britische Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfolgte. Schon bald darauf wurde die Beziehung kompliziert. Margaret Thatcher machte bereits wenige Jahre später klar: „What we are asking is for a very large amount of our own money back. “ Der Britenrabatt war geboren und damit der Auftakt für eine Reihe von Sonderwünschen und -regelungen gemacht.
Die Brexit-Debatte scheint da nur konsequent. Kein Euro, kein Sozialprotokoll und kein Schengen. Großbritannien stand und steht vielfach auf der Bremse, wenn es um weitere Integrationsschritte geht.
Dabei muss man den Briten zugutehalten, dass sie trotz mancher Exzentrik immer Anwalt für Subsidiarität, Marktwirtschaft und Privatautonomie waren. Ohne sie würde sich die Balance verschieben.
Präsident Obama hat klare Worte in der Debatte gefunden: „As your friend, let me say that the EU makes Britain even greater“, schrieb er in einem Gastbeitrag anlässlich seines Besuchs auf der Insel. Das Vereinigte Königreich habe von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union profitiert im Hinblick auf Jobs, Handel und Wirtschaftswachstum.
Ein Brexit würde hingegen großen Schaden verursachen, warnen unisono der Internationale Währungsfonds, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und das britische Finanzministerium. Der IWF sieht schon jetzt eine Verunsicherung der Investoren und fürchtet schwere regionale und globale Schäden. Die OECD kommt zu dem Ergebnis, dass der Brexit jeden einzelnen Briten bis 2020 ein Monatsgehalt kosten könnte. Das Finanzministerium spricht von 4300 Pfund pro Jahr, die jedem Haushalt auf lange Sicht verloren gingen.
Die EU-Gegner haben demgegenüber das Einwanderungsthema für sich entdeckt. Die Flüchtlingskrise als zweite große Belastungsprobe für die Europäische Union nach Griechenland hat nationale Egoismen zum Vorschein gebracht.
Schengen wurde suspendiert und Grenzkontrollen innerhalb Europas kehrten zurück. Cameron kämpft in Brüssel für britische Sonderregeln. Und zu Hause für den Verbleib in der EU: „I have negotiated a deal to give the UK special status in the EU“, schrieb er nach dem EU-Gipfel auf Twitter.
Ob der Geist des gebannt geglaubten Nationalismus in die Flasche zurückkehrt, ist fraglich. Zu stark hat er sich in Europa verbreitet und in die Parlamente – selbst das europäische – gefressen. Ukip, Front National, FPÖ oder Wilders PVV sind nur einige Beispiele für die Euro-Hasser, Europaverächter und Rechtspopulisten. Selbst in Deutschland hat der Nationalismus neue Anhänger und Protagonisten gefunden.
Die Abstimmung über den Brexit ist also nicht nur Cameron und dem ambivalenten Verhältnis Großbritanniens zu Europa geschuldet, sondern Symptom für eine tiefe Krise Europas. Es muss konstatiert werden: Die Idee der Freiheit und eines geeinten Europa ist in die Defensive geraten.
Doch was wäre die Alternative zu Europa? Abschottung im Nationalstaat, Schlagbäume, Zölle und die überwunden geglaubten Rivalitäten? Ökonomische und geostrategische Bedeutungslosigkeit in der Welt? In einer Phase der Unsicherheit rund um Europa geht die größte Gefahr für Frieden, Freiheit und Wohlstand nicht von der Euro- oder der Flüchtlingskrise aus.
Die größte Gefahr wäre der Zerfall Europas. Deshalb muss Europa seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Denn es gilt unverändert der Satz von Hans-Dietrich Genscher: „Unsere Zukunft ist Europa – wir haben keine andere.“
Folglich sollten wir die Krise Europas als Chance für einen Neustart begreifen. Selbst wenn es zum Brexit käme! Denn viele Veränderungsimpulse aus London sind hilfreich. Die Briten haben recht, wenn sie sagen: „Es läuft nicht alles gut.“ Richtig! Wir müssen Europa besser machen – am besten gemeinsam mit Großbritannien.
Erstens: Die Zuständigkeiten zwischen Europa und den Mitgliedstaaten müssen teils neu justiert werden: Nur wenige können es noch nachvollziehen, was die EU alles vorgeben will. Wir brauchen stattdessen ein Europa für die großen Dinge, nicht für jedes Detail. Mehr Europa wäre etwa beim digitalen Binnenmarkt oder in der Asylpolitik notwendig.
Zweitens: Wir brauchen ein starkes Europa für die großen Aufgaben unserer Zeit. Gerade jetzt wäre eine Revitalisierung der europäischen Außenpolitik besonders wertvoll. Voraussetzung ist, dass wir in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu schnelleren und flexibleren Entscheidungswegen kommen. Aus einem Europa mit 28 nationalen Streitkräften und zwei Millionen Soldatinnen und Soldaten wollen wir langfristig eine gemeinsame europäische Armee entwickeln.
Drittens: Ein starkes Europa brauchen wir auch für eine strikte Währungspolitik, die auf gegenseitige Budgethilfe und eine Vergemeinschaftung von Schulden verzichtet. Ebenso notwendig ist eine vertiefte Zusammenarbeit für eine sichere, bezahlbare und klimaschonende Energieversorgung.
Die Energiewende kann nur als gemeinsames europäisches Projekt gelingen. Gerade wir in Deutschland dürfen unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht weiter aufs Spiel setzen, indem wir Klimaschutz im Alleingang vorantreiben.
Viertens: Wir wollen ein Europa, das sich aus Themen heraushält, für die es nicht zuständig ist. Die Subsidiarität ist in den letzten Jahrzehnten zu stark unter die Räder gekommen. Wir brauchen ein starkes Organ, das die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten bewahrt. Dazu könnten wir die Hürde für eine Subsidiaritätsrüge senken und einen europäischen Normenkontrollrat einrichten.
Fünftens: Sozialpolitik muss auch in Zukunft in der Verantwortung der Mitgliedstaaten bleiben. Hier hat die EU ihre Aktivitäten immer weiter ausgedehnt, obwohl sie vertraglich gar nicht zuständig ist. Insoweit ist die britische Initiative richtig, dass das Recht auf Freizügigkeit nicht mit einem pauschalen Recht auf Sozialleistungen verwechselt werden darf.
Sechstens: Es ist mehr Raum für verschiedene Geschwindigkeiten im Europa der 28 nötig. Deshalb muss es bei der weiteren Integration mehr Möglichkeiten für unterschiedliche Tiefen geben. Mitgliedstaaten, die an der Weiterentwicklung der EU nicht oder nur langsamer teilnehmen wollen, sollen die anderen nicht bremsen.
Wo es keine Einigung auf ein gemeinsames Vorgehen gibt, bewirkt ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten politischen Fortschritt, zeitliche Flexibilität und besondere Rücksichtnahme. Die politische Praxis der völkerrechtlichen Nebenabsprachen einiger Mitgliedstaaten muss in diesem Zusammenhang auf ein Minimum beschränkt werden. Dort, wo es sinnvoll ist, wäre es vielmehr Aufgabe, die Mitgliedstaaten zu ermuntern, das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit zu nutzen.
Es gibt viel zu tun in Europa. Aber es lohnt sich, den europäischen Einigungsprozess weiter voranzutreiben – indem wir Europa besser machen. Gerade den Briten mag man die Worte von Guido Westerwelle zurufen: „Europa hat seinen Preis. Es hat aber vor allem seinen Wert.“
Es ist die Aufgabe von uns allen, diesen Wert weiter zu steigern. Denn noch ist Großbritannien nicht verloren!
Ohne Großbritannien würde sich die Balance verschieben
Für das "Handelsblatt" nimmt Christian Lindner den Brexit ins Visier. Im Gastbeitrag reflektiert der FDP-Chef über das politische Versagen David Camerons, das ambivalente Verhältnis Großbritanniens zu Kontinentaleuropa und die Folgen eines EU-Austritts. Vor allem fordert er, die Krise als Chance für einen Neustart zu begreifen – selbst wenn es zum Brexit käme. "Viele Veränderungsimpulse aus London sind hilfreich. Die Briten haben recht, wenn sie sagen: 'Es läuft nicht alles gut.' Richtig! Wir müssen Europa besser machen – am besten gemeinsam mit Großbritannien", betont Lindner.
Zwar stehe das Land vielfach auf der Bremse, wenn es um weitere Integrationsschritte gehe. "Dabei muss man den Briten zugutehalten, dass sie trotz mancher Exzentrik immer Anwalt für Subsidiarität, Marktwirtschaft und Privatautonomie waren. Ohne sie würde sich die Balance verschieben", gibt der Freidemokrat zu bedenken. Auch für die Briten selbst wäre der Austritt ein Verlust: Letztendlich profitiere das Vereinigte Königreich von der EU-Mitgliedschaft im Hinblick auf Jobs, Handel und Wirtschaftswachstum.
Demgegenüber hielten die EU-Gegner das Einwanderungsthema. "Die Flüchtlingskrise als zweite große Belastungsprobe für die Europäische Union nach Griechenland hat nationale Egoismen zum Vorschein gebracht", konstatiert der FDP-Chef. Mit Blick auf den Geist des neuen Nationalismus und das Erstarken rechtspopulistischer Parteien wie UKIP, Front National und FPÖ stellt Lindner fest: Die Abstimmung über den Brexit sei Symptom für eine tiefe Krise Europas. "Die Idee der Freiheit und eines geeinten Europa ist in die Defensive geraten", unterstreicht Lindner.
Europa besser machen
Der FDP-Chef hat konkrete Vorschläge parat, wie die Europäische Union verbessert werden kann. "Die Zuständigkeiten zwischen Europa und den Mitgliedsstaaten müssen teils neu justiert werden", fordert Lindner. Dazu gehöre es, dass sich Europa aus Themen heraushält, für die es nicht zuständig sei. "Die Subsidiarität ist in den letzten Jahrzehnten zu stark unter die Räder gekommen", findet der Freidemokrat. Für ihn ist eindeutig: Die Sozialpolitik müsse auch in Zukunft in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten bleiben. Darüber hinaus sei mehr Raum für verschiedene Geschwindigkeiten im Europa nötig. "Denn Mitgliedstaaten, die an der Weiterentwicklung der EU nicht oder nur langsamer teilnehmen wollen, sollen die anderen nicht bremsen", gibt er zu bedenken.
Lindner ist außerdem überzeugt: Es braucht eine handlungsfähige EU für die großen Aufgaben der Gegenwart, beispielsweise im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. In diesem Zusammenhang sprach er sich klar für die Entwicklung einer europäischen Armee aus. "Ein starkes Europa brauchen wir auch für eine strikte Währungspolitik, die auf gegenseitige Budgethilfe und eine Vergemeinschaftung von Schulden verzichtet", erläutert der FDP-Chef. "Ebenso notwendig ist eine vertiefte Zusammenarbeit für eine sichere, bezahlbare und klimaschonende Energieversorgung."
Lesen Sie hier den gesamten Gastbeitrag.
Am 23. Juni entscheiden die Briten über „Remain“ oder „Leave“. Laut Umfragen wird es ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben. Die Abstimmung ist dem politischen Versagen David Camerons geschuldet, der sie aus innerparteilichen Motiven befeuerte. Sie ist aber auch Kulminationspunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung, die das ambivalente Verhältnis Großbritanniens zu Kontinentaleuropa offenbart.
„We must build a kind of United States of Europe“ – dieser Satz ist bis heute visionär. Er stammt aus einer Rede des damaligen britischen Oppositionsführers Winston Churchill, die im August 70 Jahre zurückliegt. Für Churchill waren die Vereinigten Staaten von Europa eine logische Konsequenz aus den Weltkriegen. Obwohl er mit seiner Rede der Europa-Idee zum Durchbruch verhalf, legte er damit gleichzeitig das besondere Selbstverständnis Großbritanniens offen.
Denn die Vereinigten Staaten von Europa sollten vor allem Frankreich und Deutschland zusammenführen. Großbritannien, den USA und der Sowjetunion hatte Churchill die Rolle der Freunde und Förderer zugedacht. „We British have our own Commonwealth of Nations“, sagte er.
Es verwundert daher kaum, dass es bis 1973 dauerte, ehe der britische Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfolgte. Schon bald darauf wurde die Beziehung kompliziert. Margaret Thatcher machte bereits wenige Jahre später klar: „What we are asking is for a very large amount of our own money back. “ Der Britenrabatt war geboren und damit der Auftakt für eine Reihe von Sonderwünschen und -regelungen gemacht.
Die Brexit-Debatte scheint da nur konsequent. Kein Euro, kein Sozialprotokoll und kein Schengen. Großbritannien stand und steht vielfach auf der Bremse, wenn es um weitere Integrationsschritte geht.
Dabei muss man den Briten zugutehalten, dass sie trotz mancher Exzentrik immer Anwalt für Subsidiarität, Marktwirtschaft und Privatautonomie waren. Ohne sie würde sich die Balance verschieben.
Präsident Obama hat klare Worte in der Debatte gefunden: „As your friend, let me say that the EU makes Britain even greater“, schrieb er in einem Gastbeitrag anlässlich seines Besuchs auf der Insel. Das Vereinigte Königreich habe von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union profitiert im Hinblick auf Jobs, Handel und Wirtschaftswachstum.
Ein Brexit würde hingegen großen Schaden verursachen, warnen unisono der Internationale Währungsfonds, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und das britische Finanzministerium. Der IWF sieht schon jetzt eine Verunsicherung der Investoren und fürchtet schwere regionale und globale Schäden. Die OECD kommt zu dem Ergebnis, dass der Brexit jeden einzelnen Briten bis 2020 ein Monatsgehalt kosten könnte. Das Finanzministerium spricht von 4300 Pfund pro Jahr, die jedem Haushalt auf lange Sicht verloren gingen.
Die EU-Gegner haben demgegenüber das Einwanderungsthema für sich entdeckt. Die Flüchtlingskrise als zweite große Belastungsprobe für die Europäische Union nach Griechenland hat nationale Egoismen zum Vorschein gebracht.
Schengen wurde suspendiert und Grenzkontrollen innerhalb Europas kehrten zurück. Cameron kämpft in Brüssel für britische Sonderregeln. Und zu Hause für den Verbleib in der EU: „I have negotiated a deal to give the UK special status in the EU“, schrieb er nach dem EU-Gipfel auf Twitter.
Ob der Geist des gebannt geglaubten Nationalismus in die Flasche zurückkehrt, ist fraglich. Zu stark hat er sich in Europa verbreitet und in die Parlamente – selbst das europäische – gefressen. Ukip, Front National, FPÖ oder Wilders PVV sind nur einige Beispiele für die Euro-Hasser, Europaverächter und Rechtspopulisten. Selbst in Deutschland hat der Nationalismus neue Anhänger und Protagonisten gefunden.
Die Abstimmung über den Brexit ist also nicht nur Cameron und dem ambivalenten Verhältnis Großbritanniens zu Europa geschuldet, sondern Symptom für eine tiefe Krise Europas. Es muss konstatiert werden: Die Idee der Freiheit und eines geeinten Europa ist in die Defensive geraten.
Doch was wäre die Alternative zu Europa? Abschottung im Nationalstaat, Schlagbäume, Zölle und die überwunden geglaubten Rivalitäten? Ökonomische und geostrategische Bedeutungslosigkeit in der Welt? In einer Phase der Unsicherheit rund um Europa geht die größte Gefahr für Frieden, Freiheit und Wohlstand nicht von der Euro- oder der Flüchtlingskrise aus.
Die größte Gefahr wäre der Zerfall Europas. Deshalb muss Europa seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Denn es gilt unverändert der Satz von Hans-Dietrich Genscher: „Unsere Zukunft ist Europa – wir haben keine andere.“
Folglich sollten wir die Krise Europas als Chance für einen Neustart begreifen. Selbst wenn es zum Brexit käme! Denn viele Veränderungsimpulse aus London sind hilfreich. Die Briten haben recht, wenn sie sagen: „Es läuft nicht alles gut.“ Richtig! Wir müssen Europa besser machen – am besten gemeinsam mit Großbritannien.
Erstens: Die Zuständigkeiten zwischen Europa und den Mitgliedstaaten müssen teils neu justiert werden: Nur wenige können es noch nachvollziehen, was die EU alles vorgeben will. Wir brauchen stattdessen ein Europa für die großen Dinge, nicht für jedes Detail. Mehr Europa wäre etwa beim digitalen Binnenmarkt oder in der Asylpolitik notwendig.
Zweitens: Wir brauchen ein starkes Europa für die großen Aufgaben unserer Zeit. Gerade jetzt wäre eine Revitalisierung der europäischen Außenpolitik besonders wertvoll. Voraussetzung ist, dass wir in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu schnelleren und flexibleren Entscheidungswegen kommen. Aus einem Europa mit 28 nationalen Streitkräften und zwei Millionen Soldatinnen und Soldaten wollen wir langfristig eine gemeinsame europäische Armee entwickeln.
Drittens: Ein starkes Europa brauchen wir auch für eine strikte Währungspolitik, die auf gegenseitige Budgethilfe und eine Vergemeinschaftung von Schulden verzichtet. Ebenso notwendig ist eine vertiefte Zusammenarbeit für eine sichere, bezahlbare und klimaschonende Energieversorgung.
Die Energiewende kann nur als gemeinsames europäisches Projekt gelingen. Gerade wir in Deutschland dürfen unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht weiter aufs Spiel setzen, indem wir Klimaschutz im Alleingang vorantreiben.
Viertens: Wir wollen ein Europa, das sich aus Themen heraushält, für die es nicht zuständig ist. Die Subsidiarität ist in den letzten Jahrzehnten zu stark unter die Räder gekommen. Wir brauchen ein starkes Organ, das die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten bewahrt. Dazu könnten wir die Hürde für eine Subsidiaritätsrüge senken und einen europäischen Normenkontrollrat einrichten.
Fünftens: Sozialpolitik muss auch in Zukunft in der Verantwortung der Mitgliedstaaten bleiben. Hier hat die EU ihre Aktivitäten immer weiter ausgedehnt, obwohl sie vertraglich gar nicht zuständig ist. Insoweit ist die britische Initiative richtig, dass das Recht auf Freizügigkeit nicht mit einem pauschalen Recht auf Sozialleistungen verwechselt werden darf.
Sechstens: Es ist mehr Raum für verschiedene Geschwindigkeiten im Europa der 28 nötig. Deshalb muss es bei der weiteren Integration mehr Möglichkeiten für unterschiedliche Tiefen geben. Mitgliedstaaten, die an der Weiterentwicklung der EU nicht oder nur langsamer teilnehmen wollen, sollen die anderen nicht bremsen.
Wo es keine Einigung auf ein gemeinsames Vorgehen gibt, bewirkt ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten politischen Fortschritt, zeitliche Flexibilität und besondere Rücksichtnahme. Die politische Praxis der völkerrechtlichen Nebenabsprachen einiger Mitgliedstaaten muss in diesem Zusammenhang auf ein Minimum beschränkt werden. Dort, wo es sinnvoll ist, wäre es vielmehr Aufgabe, die Mitgliedstaaten zu ermuntern, das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit zu nutzen.
Es gibt viel zu tun in Europa. Aber es lohnt sich, den europäischen Einigungsprozess weiter voranzutreiben – indem wir Europa besser machen. Gerade den Briten mag man die Worte von Guido Westerwelle zurufen: „Europa hat seinen Preis. Es hat aber vor allem seinen Wert.“
Es ist die Aufgabe von uns allen, diesen Wert weiter zu steigern. Denn noch ist Großbritannien nicht verloren!