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21.04.2016 - 12:30LAMBSDORFF-Interview: Die Europäische Union ist erpressbar geworden
Berlin. Das FDP-Präsidiumsmitglied und Vizepräsident des Europäischen Parlaments ALEXANDER GRAF LAMBSDORFF gab dem „WDR 5 Morgenecho“ heute das folgende Interview. Die Fragen stellte ANDREA OSTER:
Frage: Die Visafreiheit für Türken war das große Entgegenkommen bei diesem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und das fordert die türkische Regierung nun offenbar vehement ein. Zu Recht?
LAMBSDORFF: Nun, es ist ihr zugesagt worden, eine Visaliberalisierung gleich für alle Staatsbürger, was natürlich eine Überraschung ist. In den vergangenen Gesprächen, in der Vergangenheit ging es immer um eine Forderung, die wir uns auch als Freie Demokraten immer zu eigen gemacht haben. Wir haben gesagt, wir brauchen erstmal Visaerleichterungen für bestimmte Gruppen, also für Forscher, für Künstler, für Geschäftsleute, für Studierende – jetzt muss alles auf einmal geschehen, und das ist natürlich ein ziemlich radikaler Schritt. Aber die Türken fordern ihn vehement ein.
Frage: Aber zu Recht auch? Sollte die EU möglichst bald auch die Visafreiheit gewähren? Es gibt da ja so ein paar Auflagen, von denen der türkische Regierungschef sagt, wir haben die ja alle erfüllt.
LAMBSDORFF: (lacht) Frau Oster, das sind nicht nur ein paar Auflagen, das sind gleich 72 verschiedene Bedingungen, manche davon sind sehr technischer Natur. Also zum Beispiel braucht jeder, der visumsfrei nach Europa will, einen biometrischen Pass. Man muss dazu wissen, dass in der Türkei überhaupt nur vier Prozent der Bevölkerung einen Pass haben, weil der wahnsinnig teuer ist. Also mit anderen Worten: Hier sind Bedingungen noch zu erfüllen, die einfach technisch sind, und ich bin ganz sicher, dass bis in den Monaten Mai oder Anfang Juni die Türken nicht 96 Prozent ihrer Bevölkerung mit biometrischen Pässen ausgestattet haben. Also ich glaube, hier ist noch einiges zu tun. Es muss auch zum Beispiel klare Zusagen geben zum Schutz von Flüchtlingen, es müssen Datenschutzauflagen eingehalten werden und es muss zum Beispiel mit Bulgarien und Griechenland endlich ein Abkommen abgeschlossen werden von der Türkei, das sie auch Flüchtlinge rückübernehmen, also abgelehnte Asylbewerber.
Frage: Das klingt, als könnte das doch etwas langwieriger sein die ganze Abgelegenheit. Was, wenn die Türken beschließen: wir fühlen uns hingehalten, so schnell kommt das nicht, dann werden wir das halt mit den Flüchtlingen möglicherweise wieder ein wenig lässiger handhaben, um ein bisschen Druck aufzubauen.
LAMBSDORFF: Ja, genau das ist der Punkt. Natürlich ist die Europäische Union in gewisser Weise erpressbar geworden und sie ist natürlich auch deswegen erpressbar geworden, weil diese Visumsfrage, das darf man einfach nicht unterschätzen, für die Türken das wichtigste Ereignis oder der größte Erfolg ist, innerhalb dieses Abkommens. Die Verhandlungsbeschleunigung über den Beitritt zur Europäischen Union, das wissen auch die Türken, das wird nicht so schnell irgendwo hinführen. Die 3 Milliarden Euro, da sind die Mitgliedstaaten ja noch nicht einmal dabei, sozusagen ihre Einzahlungen hier in Brüssel vollständig vorzunehmen, da fehlen immer noch ein paar Staaten. Aber die Visumsfreiheit für die türkischen Bürgerinnen und Bürger, das ist ein ganz praktischer Nutzen, da müssen sie nicht mehr stundenlang vor den Konsulaten anstehen, wenn sie ein Visum brauchen. Übrigens auch nicht diese Gruppen, die man logischerweise schon längst hätte normal reisen lassen können, wenn CDU und CSU das nicht blockiert hätten. Also dieser Erfolg ist für die türkische Regierung von ganz besonderer Bedeutung, und deswegen werden die das auch weiter mit Nachdruck fordern.
Frage: Ja, aber das ist ja auch ein gewisses Erpressungspotenzial, sie haben es ja selber gesagt, was da drinsteckt. Da werden doch Merkel, Juncker und Co. unbedingt verhindern wollen, dass die Türkei die Flüchtlinge wieder ins Spiel bringt, oder?
LAMBSDORFF: Das ist richtig. Also muss man deswegen auch Folgendes tun: Man muss jetzt Fortschritte machen. Es ist eine klare Zusage der Europäischen Union gegenüber der Türkei. Man wird hier in dieser Richtung arbeiten müssen. Man wird dann darauf bestehen müssen, dass es eine ‚Notbremse‘ gibt. Es kann ja nicht sein, dass wir über die Visumsfreiheit beispielsweise eine riesige Welle von neuen Asylbewerbern nach Deutschland kriegen. Hier zeigt sich das Problem mit der Erpressbarkeit. Also wir fordern deswegen als FDP auch eine ‚Notbremse‘ in diesem Abkommen, dass beispielsweise bei einem großen Zustrom von Menschen wir auch wieder eine Visumspflicht einführen können.
Frage: Aber das müssten Sie noch einmal genauer erklären, was das mit der ‚Notbremse‘ auf sich hat. Warum kommen mit der Visabefreiung auch wieder mehr Flüchtlinge?
LAMBSDORFF: Nun, wir dürfen nicht vergessen: Im Südosten der Türkei, in den kurdischen Gebieten, herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Präsident Erdogan drangsaliert die kurdische Minderheit seit letztem Juli unglaublich. Er hat das auch vor den letzten Wahlen gemacht, um seine Unterstützung in der türkischen Bevölkerung hochzubringen. Und ich glaube, dass wir hier ganz klar sehen müssen, dass viele Menschen aus Diyarbakir und anderen Städten in Kurdistan einen Anreiz haben, ihre Region zu verlassen und nach Europa zu kommen. Aber das kann nicht der Sinn der Sache sein, das kann nicht das Ziel der Visumsfreiheit sein. Deswegen muss es ganz klar sein, dass es eine ‚Notbremse‘ gibt. Wenn es plötzlich einen Anstieg an Asylbewerbern aus der Türkei gibt, muss man auch die Visumspflicht wieder einführen können.
Frage: Herr Lambsdorff, noch ganz kurz. Was müsste denn passieren, dass man nicht so erpressbar wäre? Vielleicht doch über eine europaweite gemeinsame Einwanderungspolitik nachdenken und nicht nur auf das Türkeiabkommen hoffen?
LAMBSDORFF: Naja, zwei Dinge, Frau Oster. Das eine ist, wir müssen Fortschritte machen in der Befriedung und Stabilisierung Syriens, das ist ganz klar. Das erhöht einfach den Druck in der Flüchtlingsfrage wahnsinnig. Und das zweite ist in der Tat, genau wie sie sagen, auch eine langjährige liberale Forderung, ein gemeinsames europäisches Asylsystem mit einem gerechten Verteilungsschlüssel, bei dem sich alle Staaten fair beteiligen.
LAMBSDORFF-Interview: Die Europäische Union ist erpressbar geworden
Berlin. Das FDP-Präsidiumsmitglied und Vizepräsident des Europäischen Parlaments ALEXANDER GRAF LAMBSDORFF gab dem „WDR 5 Morgenecho“ heute das folgende Interview. Die Fragen stellte ANDREA OSTER:
Frage: Die Visafreiheit für Türken war das große Entgegenkommen bei diesem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und das fordert die türkische Regierung nun offenbar vehement ein. Zu Recht?
LAMBSDORFF: Nun, es ist ihr zugesagt worden, eine Visaliberalisierung gleich für alle Staatsbürger, was natürlich eine Überraschung ist. In den vergangenen Gesprächen, in der Vergangenheit ging es immer um eine Forderung, die wir uns auch als Freie Demokraten immer zu eigen gemacht haben. Wir haben gesagt, wir brauchen erstmal Visaerleichterungen für bestimmte Gruppen, also für Forscher, für Künstler, für Geschäftsleute, für Studierende – jetzt muss alles auf einmal geschehen, und das ist natürlich ein ziemlich radikaler Schritt. Aber die Türken fordern ihn vehement ein.
Frage: Aber zu Recht auch? Sollte die EU möglichst bald auch die Visafreiheit gewähren? Es gibt da ja so ein paar Auflagen, von denen der türkische Regierungschef sagt, wir haben die ja alle erfüllt.
LAMBSDORFF: (lacht) Frau Oster, das sind nicht nur ein paar Auflagen, das sind gleich 72 verschiedene Bedingungen, manche davon sind sehr technischer Natur. Also zum Beispiel braucht jeder, der visumsfrei nach Europa will, einen biometrischen Pass. Man muss dazu wissen, dass in der Türkei überhaupt nur vier Prozent der Bevölkerung einen Pass haben, weil der wahnsinnig teuer ist. Also mit anderen Worten: Hier sind Bedingungen noch zu erfüllen, die einfach technisch sind, und ich bin ganz sicher, dass bis in den Monaten Mai oder Anfang Juni die Türken nicht 96 Prozent ihrer Bevölkerung mit biometrischen Pässen ausgestattet haben. Also ich glaube, hier ist noch einiges zu tun. Es muss auch zum Beispiel klare Zusagen geben zum Schutz von Flüchtlingen, es müssen Datenschutzauflagen eingehalten werden und es muss zum Beispiel mit Bulgarien und Griechenland endlich ein Abkommen abgeschlossen werden von der Türkei, das sie auch Flüchtlinge rückübernehmen, also abgelehnte Asylbewerber.
Frage: Das klingt, als könnte das doch etwas langwieriger sein die ganze Abgelegenheit. Was, wenn die Türken beschließen: wir fühlen uns hingehalten, so schnell kommt das nicht, dann werden wir das halt mit den Flüchtlingen möglicherweise wieder ein wenig lässiger handhaben, um ein bisschen Druck aufzubauen.
LAMBSDORFF: Ja, genau das ist der Punkt. Natürlich ist die Europäische Union in gewisser Weise erpressbar geworden und sie ist natürlich auch deswegen erpressbar geworden, weil diese Visumsfrage, das darf man einfach nicht unterschätzen, für die Türken das wichtigste Ereignis oder der größte Erfolg ist, innerhalb dieses Abkommens. Die Verhandlungsbeschleunigung über den Beitritt zur Europäischen Union, das wissen auch die Türken, das wird nicht so schnell irgendwo hinführen. Die 3 Milliarden Euro, da sind die Mitgliedstaaten ja noch nicht einmal dabei, sozusagen ihre Einzahlungen hier in Brüssel vollständig vorzunehmen, da fehlen immer noch ein paar Staaten. Aber die Visumsfreiheit für die türkischen Bürgerinnen und Bürger, das ist ein ganz praktischer Nutzen, da müssen sie nicht mehr stundenlang vor den Konsulaten anstehen, wenn sie ein Visum brauchen. Übrigens auch nicht diese Gruppen, die man logischerweise schon längst hätte normal reisen lassen können, wenn CDU und CSU das nicht blockiert hätten. Also dieser Erfolg ist für die türkische Regierung von ganz besonderer Bedeutung, und deswegen werden die das auch weiter mit Nachdruck fordern.
Frage: Ja, aber das ist ja auch ein gewisses Erpressungspotenzial, sie haben es ja selber gesagt, was da drinsteckt. Da werden doch Merkel, Juncker und Co. unbedingt verhindern wollen, dass die Türkei die Flüchtlinge wieder ins Spiel bringt, oder?
LAMBSDORFF: Das ist richtig. Also muss man deswegen auch Folgendes tun: Man muss jetzt Fortschritte machen. Es ist eine klare Zusage der Europäischen Union gegenüber der Türkei. Man wird hier in dieser Richtung arbeiten müssen. Man wird dann darauf bestehen müssen, dass es eine ‚Notbremse‘ gibt. Es kann ja nicht sein, dass wir über die Visumsfreiheit beispielsweise eine riesige Welle von neuen Asylbewerbern nach Deutschland kriegen. Hier zeigt sich das Problem mit der Erpressbarkeit. Also wir fordern deswegen als FDP auch eine ‚Notbremse‘ in diesem Abkommen, dass beispielsweise bei einem großen Zustrom von Menschen wir auch wieder eine Visumspflicht einführen können.
Frage: Aber das müssten Sie noch einmal genauer erklären, was das mit der ‚Notbremse‘ auf sich hat. Warum kommen mit der Visabefreiung auch wieder mehr Flüchtlinge?
LAMBSDORFF: Nun, wir dürfen nicht vergessen: Im Südosten der Türkei, in den kurdischen Gebieten, herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Präsident Erdogan drangsaliert die kurdische Minderheit seit letztem Juli unglaublich. Er hat das auch vor den letzten Wahlen gemacht, um seine Unterstützung in der türkischen Bevölkerung hochzubringen. Und ich glaube, dass wir hier ganz klar sehen müssen, dass viele Menschen aus Diyarbakir und anderen Städten in Kurdistan einen Anreiz haben, ihre Region zu verlassen und nach Europa zu kommen. Aber das kann nicht der Sinn der Sache sein, das kann nicht das Ziel der Visumsfreiheit sein. Deswegen muss es ganz klar sein, dass es eine ‚Notbremse‘ gibt. Wenn es plötzlich einen Anstieg an Asylbewerbern aus der Türkei gibt, muss man auch die Visumspflicht wieder einführen können.
Frage: Herr Lambsdorff, noch ganz kurz. Was müsste denn passieren, dass man nicht so erpressbar wäre? Vielleicht doch über eine europaweite gemeinsame Einwanderungspolitik nachdenken und nicht nur auf das Türkeiabkommen hoffen?
LAMBSDORFF: Naja, zwei Dinge, Frau Oster. Das eine ist, wir müssen Fortschritte machen in der Befriedung und Stabilisierung Syriens, das ist ganz klar. Das erhöht einfach den Druck in der Flüchtlingsfrage wahnsinnig. Und das zweite ist in der Tat, genau wie sie sagen, auch eine langjährige liberale Forderung, ein gemeinsames europäisches Asylsystem mit einem gerechten Verteilungsschlüssel, bei dem sich alle Staaten fair beteiligen.