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22.01.2016 - 08:00LINDNER-Interview: Zerfallsprozess in der großen Koalition
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Welt“ (Freitag-Ausgabe) und „Welt.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten THORSTEN MUMME und ULF POSCHARDT:
Frage: Noch vor zwei Jahren war die FDP totgesagt, heute sieht man Ihre Partei in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz als Gefahr für die CDU – als Teil einer möglichen Ampelkoalition. Sind Sie überrascht, wie schnell die Wahrnehmung sich geändert hat?
LINDNER: Mich überrascht daran, dass sich manche Kommentatoren wenig mit den Sachfragen beschäftigen. Wir wollen nicht um jeden Preis regieren, sondern in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt einen Politikwechsel erreichen. Vertrauen in die Eigenverantwortung der Bürger, Bremsen für die Wirtschaft lösen, Bildung und Infrastruktur ohne ideologische Denkmuster modernisieren. Mit Rot-Grün ist so eine Politik und damit auch eine Ampel unwahrscheinlich.
Frage: Spüren Sie in Ihrer täglichen Arbeit, dass die FDP wieder besser bei den Leuten ankommt?
LINDNER: Ja, die Menschen sind massiv auf der Suche, weil sie die Politik der großen Koalition nicht mehr unterstützen. Und die FDP ist eine ernsthafte Partei, die sich nach einer Krise erneuert hat. In unruhigen Zeiten ist unser Kompass mit Rechtsstaat, sozialer Marktwirtschaft und Toleranz wieder für viele eine Orientierungshilfe. Unsere Veranstaltungen sind so gut besucht, dass die Menschen teilweise auf den Fensterbänken sitzen müssen. Wir haben am 13. März eine echte Comeback-Chance.
Frage: Die Flüchtlingskrise schüttelt die Parteienlandschaft durcheinander. Wie beobachten Sie diese teilweise ja gravierenden Veränderungen, was die politischen Trends und Stimmungen betrifft?
LINDNER: Ich habe noch nie so viel Nervosität wahrgenommen. Dafür trägt die Regierung die Verantwortung. CDU, CSU und SPD haben immer noch keine gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingskrise. Sigmar Gabriel nennt die Zuwanderungspolitik sogar chaotisch. Das ist völlig zutreffend, aus dem Mund des Vizekanzlers aber zugleich Ausdruck eines Zerfallsprozesses in der großen Koalition. Mit Symboldebatten, Blockade und Schuldzuweisungen macht die Regierung die Rechtspopulisten groß. Wieder klein macht man sie mit entschlossenem Handeln und Problemlösungen.
Frage: Die SPD mutete noch vor wenigen Wochen links-grün an. Inzwischen scheint sie fast die CDU rechts zu überholen. Wie nehmen Sie das wahr?
LINDNER: Wenn ein Vizekanzler die eigene Regierung kritisiert, dann dokumentiert er seine eigene Macht- und Orientierungslosigkeit. Die Uneinigkeit der Regierung ist angesichts der Lage unverantwortlich. Das provoziert ein staatliches Organisationsversagen.
Frage: Wie würden Sie die Probleme angehen und der Verunsicherung in der Bevölkerung begegnen?
LINDNER: Unsere Freiheit ist ohne Rechtsstaat undenkbar. Und dahin müssen wir zurück. Man darf nicht aus dem edlen Motiv der Solidarität dauerhaft den Rechtsstaat aussetzen, wie es die Frau Bundeskanzlerin getan hat. Das Ergebnis sind die chaotischen Zustände in Europa. Um es konkret zu machen: Wir lieben das Europa, in dem wir frei leben und arbeiten können. Zäune und Schlagbäume müssen da bleiben, wo sie sind: in den Geschichtsbüchern. Aber die Voraussetzung für offene Binnengrenzen ist eine Kontrolle über die Außengrenze. Die Freizügigkeit in Europa ist daran gekoppelt, dass Flüchtlinge einen Asylantrag nur dort stellen dürfen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten. An der deutschen Grenze müssten demnach Flüchtlinge abgewiesen werden. Frau Merkel hat im September entschieden, dass wir diese Regeln nicht anwenden. Die Schengen-Vereinbarung über den Verzicht auf Grenzkontrollen funktioniert aber nur, wenn die Regeln der Dublin-Vereinbarung eingehalten werden. Deshalb muss der rechtsfreie Zustand beendet werden.
Frage: Was sollte Angela Merkel konkret tun?
LINDNER: Ich fordere Frau Merkel auf, den nächsten europäischen Gipfel im Februar als Wendepunkt zu nehmen. Entweder erreicht sie dort eine europäische Strategie, um die Flüchtlingszahlen zu reduzieren und eine faire Verteilung zu erreichen. Das wäre mein Wunsch. Oder Frau Merkel muss ihre Entscheidung aus dem September korrigieren, damit Deutschland nach den Dublin-Regeln wieder alle Flüchtlinge aus sicheren Drittländern an der Grenze abweist. Solange keine europäische Lösung erreicht wird, kann Deutschland so die Kontrolle zurückgewinnen. Das ist für mich der Hebel, um allen in Europa zu verdeutlichen, dass die Flüchtlingskrise nicht ein Problem Deutschlands ist, sondern eine gemeinsame europäische Herausforderung. Der muss man sich auch gemeinsam stellen. Sonst kehren die Schlagbäume auf Dauer zurück, was eine Katastrophe wäre.
Frage: Ist es denn realistisch, so etwas durchzusetzen, wenn man sich die politische Situation in Europa anguckt?
LINDNER: Mit den einseitigen Entscheidungen Deutschlands hat sich unser Land isoliert, und jetzt sagen die andern in Europa: Schaut mal, wie ihr damit umgeht! Der Versuch, ein globales Problem allein zu lösen, musste scheitern. Frau Merkel kann ihre ethischen Abwägungen nicht länger ganz Europa oktroyieren. Deshalb ist eine Rückkehr zum europäischen Gemeinschaftsrecht die Voraussetzung dafür, wieder Handlungsfähigkeit zu erlangen.
Frage: Wie wahrscheinlich ist das aus Ihrer Sicht?
LINDNER: Wenn Deutschland seine Politik der grenzenlosen Aufnahmebereitschaft durch einen solidarischen Realismus ersetzt, halte ich eine europäische Lösung für erreichbar. Wir können nicht länger einen rechtsfreien Zustand tolerieren. Das zerstört das Vertrauen der Menschen in ihren Staat. Das Ziel muss eine geschützte Außengrenze sein. Geschützt durch eine europäische Grenzpolizei und nicht durch Herrn Erdogan. Dann kann die Einreise nach Europa über Registrierung und Kontingente erfolgen, die fair verteilt werden. Ein solches Verfahren erlaubt überhaupt erst die Solidarität mit wirklich Bedürftigen, nämlich den Alten, den Kranken und den Kindern. Denn durch den Kontrollverlust und die Einreise über die Balkanroute sind überwiegend die Starken gekommen, nämlich junge Männer. Das sind nicht die, die erst unsere Hilfe brauchen.
Frage: Der Ausweis der Liberalität ist ja eigentlich, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll. Aber Integration erfordert ja klare Leitplanken. Wie sieht eine ideale, liberale Integrationspolitik aus?
LINDNER: Die Voraussetzung für Integration ist, dass wir uns über unsere Identität klar werden: In was soll überhaupt integriert werden? Für mich ist das die Verfassungskultur des Grundgesetzes. Eine bessere Willkommenskultur kann es gar nicht geben als unsere weltoffene, liberale Verfassung. Bei uns sind die Freiheit und Würde des Einzelnen, die Gleichberechtigung der Geschlechter und der Schutz des Eigentums garantiert. Jeder kann sich frei entfalten, an welchen Gott er auch glaubt. Aber bei uns ist Satire über Mohammed erlaubt, und die junge Muslima muss am Sportunterricht teilnehmen.
Frage: Spielt auch wirtschaftliche Liberalität eine Rolle?
LINDNER: Ja, die Menschen müssen die Möglichkeit haben, Einfluss auf ihr eigenes Schicksal auszuüben. Wer zu uns kommt, darf nicht durch immer höhere bürokratische Hürden vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Wir müssen die Hürden viel eher senken. Denn der beste Integrationshelfer ist der deutsche Kollege am Arbeitsplatz.
Frage: Sehen Sie bei der Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und in der Sozialdemokratie irgendeine Bewegung?
LINDNER: Nein, im Gegenteil. Die geplanten Einschränkungen bei Zeitarbeit und Werkverträgen zerstören weitere flexible Brücken für Schwächere in den Arbeitsmarkt. Also Geringqualifizierte mit Sprachdefiziten, die sich in unserer Arbeitswelt und Gesellschaftsordnung erst erproben müssen. Ich halte das für fatal. Man nimmt hin, dass Menschen auf Dauer auf Sozialleistungen angewiesen sind, anstatt selbst etwas beizutragen und damit auch ihren eigenen Alltag zu strukturieren. Ein Flüchtling hat mir gesagt, er könne gar nicht verstehen, dass er in Deutschland so viel Geld dafür bekomme, dass er nicht arbeiten darf.
Frage: Ist ein Einwanderungsgesetz notwendig?
LINDNER: Ja, es ist höchste Zeit. Die Konservativen haben sich den Debatten nicht gestellt, weil sie Angst vor Fremden hatten. Die linken Parteien haben sich gescheut, die Interessen Deutschlands und unsere legitimen Erwartungen an Zuwanderer zu beschreiben. Jetzt kann keiner mehr ausweichen. Wir müssen klar definieren und unterscheiden, wen wir aus humanitären Gründen aufnehmen und wen wir aus deutschem Eigeninteresse in unseren Arbeitsmarkt einladen. Bei Kriegsflüchtlingen sollte der Schutz nur vorübergehend sein. Nach der Stabilisierung der alten Heimat sollten die Menschen dorthin zum Wiederaufbau zurückkehren. Wer bei uns bleiben will, soll das dürfen, wenn er den Kriterien hinsichtlich Integrationsbereitschaft und Qualifikation genügt.
Frage: In den Debatten, Kommentarspalten und auch familiären Runden wird der Umgangston rauer. Geraten da zivilisatorische Standards in Gefahr, die uns über 70 Jahre in der Bonner und dann Berliner Republik ausgezeichnet haben?
LINDNER: Nicht in der ganzen Bevölkerung, aber in einem Teil der Bevölkerung gibt es diese Verrohung. Bei aller Kritik an der Bundesregierung, die ich ja auch teile und äußere: Gewählten Volksvertretern ihre Legitimität abzusprechen, sie gar zu Volksverrätern zu erklären, zerstört die innere Liberalität und den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland. Wer das tut, ist kein Verteidiger, sondern ein Feind unserer freiheitlichen Lebensweise. Wir alle ziehen unsere Lebensqualität doch daraus, dass wir ein Land sind, in dem man frei im öffentlichen Raum sprechen kann, aber in dem nicht permanent der verbale Tabubruch zelebriert wird. Respekt vor dem anderen, auch wenn er eine andere Meinung hat, ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.
Frage: Nun gibt es das Phänomen, dass sich die politischen Ränder im Moment praktisch berühren. Im Verhältnis zu Putin, der antiwestlichen Haltung und oft im Antizionismus scheinen sich das linke und das rechte Extrem nicht feindlich gegenüberzustehen, sondern sich viel eher gegen den Rest zu verbünden.
LINDNER: In der Tat, sie bilden das, was man historisch die Querfront genannt hat. Sie sind sich einig in der Ablehnung einer libertären, weltoffenen Lebensweise. Sie pflegen Vorbehalte gegen den Kapitalismus. Sie legen einen bisweilen plumpen Antiamerikanismus an den Tag und versuchen, sich in den alten Nationalstaat zurückzuziehen. Beides sind auch kollektivistische Vorstellungen, ganz links wie ganz rechts. Bei der AfD heißt der Kollektivismus Volksgemeinschaft, bei den Linken Sozialismus. Beides läuft auf dasselbe hinaus: Die Eigenverantwortung und Freiheit des Einzelnen wird kleingemacht. Entweder durch den autoritären Zugriff der Volksgemeinschaft oder durch Klassenkampf.
Frage: In dieser Woche gab es eine bemerkenswerte Entscheidung des SWR-Intendanten Peter Boudgoust, die AfD nicht zu den sogenannten Elefantenrunden vor den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg einzuladen. Wie ging es Ihnen mit dieser Entscheidung?
LINDNER: Die Entscheidung des SWR ist Wasser auf die Mühlen von Medienkritikern. Aber viel bedeutsamer finde ich, dass die Ministerpräsidentin Malu Dreyer und der Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Entscheidung provoziert haben, weil sie nicht mit der AfD debattieren wollen. Das ist feige und falsch. Man sollte diese Leute im Gegenteil mit ihren Positionen konfrontieren, man muss sie argumentativ stellen, denn die haben ja nichts zu sagen. Die bleiben ja stumm, ohne Konzept, um als Projektionsfläche für Protest zu funktionieren.
Frage: Linke und Grüne gehen also falsch mit der AfD um?
LINDNER: Ja, da stimmt was nicht. Ich nenne ein weiteres Beispiel: Am Samstag wird Markus Söder den „Orden wider den tierischen Ernst“ in Aachen erhalten. Doch Sozialdemokraten und Grüne boykottieren diese karnevalistische Veranstaltung wegen des neuen Ordensträgers. Noch ein Jahr zuvor haben sie Sahra Wagenknecht bei ihrem Auftritt begeistert applaudiert. Da stimmen die Verhältnisse nicht, wenn ein Toni Hofreiter wegen Markus Söder absagt.
Frage: Was wäre der richtige Weg?
LINDNER: Mit der AfD muss man über Sachfragen sprechen. Nüchtern und fachlich. Dann kann man entlarven, dass die die Krise nicht lösen können und auch gar nicht wollen. Denn die Flüchtlingskrise begreifen die ja als Geschenk, wie Herr Gauland gesagt hat. Eine Partei, die Krisen herbeisehnt, um durch sie zu wachsen, übertrifft alles an Zynismus und Egoismus, was ich in der Politik erlebt habe.
Frage: Sie sind Fraktionschef in Nordrhein-Westfalen. Nach den Ereignissen in Köln war die Landesregierung auffallend still. Wie wollen Sie SPD und Grüne zur Verantwortung ziehen?
LINDNER: Wir werden einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einrichten, um die Vorfälle in Köln zu untersuchen. Dabei wird die persönliche Verantwortung des Innenministers ein Thema sein. Entscheidend ist aber, strukturelle Mängel in der Polizei zu prüfen und abzustellen. Die Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass der Rechtsstaat das Gewaltmonopol hat. Das war in der Silvesternacht in Köln für viele Frauen offensichtlich nicht der Fall.
Frage: Sind die geplanten Gesetzesverschärfungen der richtige Weg?
LINDNER: Ja, insbesondere die Abschiebungen krimineller Zuwanderer. Eine liberale Gesellschaft kann und muss die Kontrolle darüber behalten, mit wem sie solidarisch ist und mit wem nicht. Generell bin ich beim Ruf nach schärferen Sicherheitsgesetzen aber skeptisch. Nach Paris wurde sofort nach mehr Überwachung gerufen. Oft sind das Symbolforderungen, die nichts bringen. Die radikalisierten Rückkehrer aus Syrien, die dort für die islamische gekämpft haben, sollten überwacht werden – aber doch nicht Millionen unbescholtener Bürger. Wir brauchen also einen Rechtsstaat, der nicht unsere Freiheit permanent beschneidet, sondern einen, der unsere Freiheit schützt. Durch gut ausgestattete Polizei und Justiz. So war immer unsere Überzeugung. Der Innenminister Hans-Dietrich Genscher hat auf den Terror nicht mit Ausnahmezustand und Einschränkung von Bürgerrechten reagiert, sondern zum Beispiel mit der Gründung der Anti-Terror-Einheit GSG 9.
LINDNER-Interview: Zerfallsprozess in der großen Koalition
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Welt“ (Freitag-Ausgabe) und „Welt.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten THORSTEN MUMME und ULF POSCHARDT:
Frage: Noch vor zwei Jahren war die FDP totgesagt, heute sieht man Ihre Partei in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz als Gefahr für die CDU – als Teil einer möglichen Ampelkoalition. Sind Sie überrascht, wie schnell die Wahrnehmung sich geändert hat?
LINDNER: Mich überrascht daran, dass sich manche Kommentatoren wenig mit den Sachfragen beschäftigen. Wir wollen nicht um jeden Preis regieren, sondern in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt einen Politikwechsel erreichen. Vertrauen in die Eigenverantwortung der Bürger, Bremsen für die Wirtschaft lösen, Bildung und Infrastruktur ohne ideologische Denkmuster modernisieren. Mit Rot-Grün ist so eine Politik und damit auch eine Ampel unwahrscheinlich.
Frage: Spüren Sie in Ihrer täglichen Arbeit, dass die FDP wieder besser bei den Leuten ankommt?
LINDNER: Ja, die Menschen sind massiv auf der Suche, weil sie die Politik der großen Koalition nicht mehr unterstützen. Und die FDP ist eine ernsthafte Partei, die sich nach einer Krise erneuert hat. In unruhigen Zeiten ist unser Kompass mit Rechtsstaat, sozialer Marktwirtschaft und Toleranz wieder für viele eine Orientierungshilfe. Unsere Veranstaltungen sind so gut besucht, dass die Menschen teilweise auf den Fensterbänken sitzen müssen. Wir haben am 13. März eine echte Comeback-Chance.
Frage: Die Flüchtlingskrise schüttelt die Parteienlandschaft durcheinander. Wie beobachten Sie diese teilweise ja gravierenden Veränderungen, was die politischen Trends und Stimmungen betrifft?
LINDNER: Ich habe noch nie so viel Nervosität wahrgenommen. Dafür trägt die Regierung die Verantwortung. CDU, CSU und SPD haben immer noch keine gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingskrise. Sigmar Gabriel nennt die Zuwanderungspolitik sogar chaotisch. Das ist völlig zutreffend, aus dem Mund des Vizekanzlers aber zugleich Ausdruck eines Zerfallsprozesses in der großen Koalition. Mit Symboldebatten, Blockade und Schuldzuweisungen macht die Regierung die Rechtspopulisten groß. Wieder klein macht man sie mit entschlossenem Handeln und Problemlösungen.
Frage: Die SPD mutete noch vor wenigen Wochen links-grün an. Inzwischen scheint sie fast die CDU rechts zu überholen. Wie nehmen Sie das wahr?
LINDNER: Wenn ein Vizekanzler die eigene Regierung kritisiert, dann dokumentiert er seine eigene Macht- und Orientierungslosigkeit. Die Uneinigkeit der Regierung ist angesichts der Lage unverantwortlich. Das provoziert ein staatliches Organisationsversagen.
Frage: Wie würden Sie die Probleme angehen und der Verunsicherung in der Bevölkerung begegnen?
LINDNER: Unsere Freiheit ist ohne Rechtsstaat undenkbar. Und dahin müssen wir zurück. Man darf nicht aus dem edlen Motiv der Solidarität dauerhaft den Rechtsstaat aussetzen, wie es die Frau Bundeskanzlerin getan hat. Das Ergebnis sind die chaotischen Zustände in Europa. Um es konkret zu machen: Wir lieben das Europa, in dem wir frei leben und arbeiten können. Zäune und Schlagbäume müssen da bleiben, wo sie sind: in den Geschichtsbüchern. Aber die Voraussetzung für offene Binnengrenzen ist eine Kontrolle über die Außengrenze. Die Freizügigkeit in Europa ist daran gekoppelt, dass Flüchtlinge einen Asylantrag nur dort stellen dürfen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten. An der deutschen Grenze müssten demnach Flüchtlinge abgewiesen werden. Frau Merkel hat im September entschieden, dass wir diese Regeln nicht anwenden. Die Schengen-Vereinbarung über den Verzicht auf Grenzkontrollen funktioniert aber nur, wenn die Regeln der Dublin-Vereinbarung eingehalten werden. Deshalb muss der rechtsfreie Zustand beendet werden.
Frage: Was sollte Angela Merkel konkret tun?
LINDNER: Ich fordere Frau Merkel auf, den nächsten europäischen Gipfel im Februar als Wendepunkt zu nehmen. Entweder erreicht sie dort eine europäische Strategie, um die Flüchtlingszahlen zu reduzieren und eine faire Verteilung zu erreichen. Das wäre mein Wunsch. Oder Frau Merkel muss ihre Entscheidung aus dem September korrigieren, damit Deutschland nach den Dublin-Regeln wieder alle Flüchtlinge aus sicheren Drittländern an der Grenze abweist. Solange keine europäische Lösung erreicht wird, kann Deutschland so die Kontrolle zurückgewinnen. Das ist für mich der Hebel, um allen in Europa zu verdeutlichen, dass die Flüchtlingskrise nicht ein Problem Deutschlands ist, sondern eine gemeinsame europäische Herausforderung. Der muss man sich auch gemeinsam stellen. Sonst kehren die Schlagbäume auf Dauer zurück, was eine Katastrophe wäre.
Frage: Ist es denn realistisch, so etwas durchzusetzen, wenn man sich die politische Situation in Europa anguckt?
LINDNER: Mit den einseitigen Entscheidungen Deutschlands hat sich unser Land isoliert, und jetzt sagen die andern in Europa: Schaut mal, wie ihr damit umgeht! Der Versuch, ein globales Problem allein zu lösen, musste scheitern. Frau Merkel kann ihre ethischen Abwägungen nicht länger ganz Europa oktroyieren. Deshalb ist eine Rückkehr zum europäischen Gemeinschaftsrecht die Voraussetzung dafür, wieder Handlungsfähigkeit zu erlangen.
Frage: Wie wahrscheinlich ist das aus Ihrer Sicht?
LINDNER: Wenn Deutschland seine Politik der grenzenlosen Aufnahmebereitschaft durch einen solidarischen Realismus ersetzt, halte ich eine europäische Lösung für erreichbar. Wir können nicht länger einen rechtsfreien Zustand tolerieren. Das zerstört das Vertrauen der Menschen in ihren Staat. Das Ziel muss eine geschützte Außengrenze sein. Geschützt durch eine europäische Grenzpolizei und nicht durch Herrn Erdogan. Dann kann die Einreise nach Europa über Registrierung und Kontingente erfolgen, die fair verteilt werden. Ein solches Verfahren erlaubt überhaupt erst die Solidarität mit wirklich Bedürftigen, nämlich den Alten, den Kranken und den Kindern. Denn durch den Kontrollverlust und die Einreise über die Balkanroute sind überwiegend die Starken gekommen, nämlich junge Männer. Das sind nicht die, die erst unsere Hilfe brauchen.
Frage: Der Ausweis der Liberalität ist ja eigentlich, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll. Aber Integration erfordert ja klare Leitplanken. Wie sieht eine ideale, liberale Integrationspolitik aus?
LINDNER: Die Voraussetzung für Integration ist, dass wir uns über unsere Identität klar werden: In was soll überhaupt integriert werden? Für mich ist das die Verfassungskultur des Grundgesetzes. Eine bessere Willkommenskultur kann es gar nicht geben als unsere weltoffene, liberale Verfassung. Bei uns sind die Freiheit und Würde des Einzelnen, die Gleichberechtigung der Geschlechter und der Schutz des Eigentums garantiert. Jeder kann sich frei entfalten, an welchen Gott er auch glaubt. Aber bei uns ist Satire über Mohammed erlaubt, und die junge Muslima muss am Sportunterricht teilnehmen.
Frage: Spielt auch wirtschaftliche Liberalität eine Rolle?
LINDNER: Ja, die Menschen müssen die Möglichkeit haben, Einfluss auf ihr eigenes Schicksal auszuüben. Wer zu uns kommt, darf nicht durch immer höhere bürokratische Hürden vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Wir müssen die Hürden viel eher senken. Denn der beste Integrationshelfer ist der deutsche Kollege am Arbeitsplatz.
Frage: Sehen Sie bei der Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und in der Sozialdemokratie irgendeine Bewegung?
LINDNER: Nein, im Gegenteil. Die geplanten Einschränkungen bei Zeitarbeit und Werkverträgen zerstören weitere flexible Brücken für Schwächere in den Arbeitsmarkt. Also Geringqualifizierte mit Sprachdefiziten, die sich in unserer Arbeitswelt und Gesellschaftsordnung erst erproben müssen. Ich halte das für fatal. Man nimmt hin, dass Menschen auf Dauer auf Sozialleistungen angewiesen sind, anstatt selbst etwas beizutragen und damit auch ihren eigenen Alltag zu strukturieren. Ein Flüchtling hat mir gesagt, er könne gar nicht verstehen, dass er in Deutschland so viel Geld dafür bekomme, dass er nicht arbeiten darf.
Frage: Ist ein Einwanderungsgesetz notwendig?
LINDNER: Ja, es ist höchste Zeit. Die Konservativen haben sich den Debatten nicht gestellt, weil sie Angst vor Fremden hatten. Die linken Parteien haben sich gescheut, die Interessen Deutschlands und unsere legitimen Erwartungen an Zuwanderer zu beschreiben. Jetzt kann keiner mehr ausweichen. Wir müssen klar definieren und unterscheiden, wen wir aus humanitären Gründen aufnehmen und wen wir aus deutschem Eigeninteresse in unseren Arbeitsmarkt einladen. Bei Kriegsflüchtlingen sollte der Schutz nur vorübergehend sein. Nach der Stabilisierung der alten Heimat sollten die Menschen dorthin zum Wiederaufbau zurückkehren. Wer bei uns bleiben will, soll das dürfen, wenn er den Kriterien hinsichtlich Integrationsbereitschaft und Qualifikation genügt.
Frage: In den Debatten, Kommentarspalten und auch familiären Runden wird der Umgangston rauer. Geraten da zivilisatorische Standards in Gefahr, die uns über 70 Jahre in der Bonner und dann Berliner Republik ausgezeichnet haben?
LINDNER: Nicht in der ganzen Bevölkerung, aber in einem Teil der Bevölkerung gibt es diese Verrohung. Bei aller Kritik an der Bundesregierung, die ich ja auch teile und äußere: Gewählten Volksvertretern ihre Legitimität abzusprechen, sie gar zu Volksverrätern zu erklären, zerstört die innere Liberalität und den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland. Wer das tut, ist kein Verteidiger, sondern ein Feind unserer freiheitlichen Lebensweise. Wir alle ziehen unsere Lebensqualität doch daraus, dass wir ein Land sind, in dem man frei im öffentlichen Raum sprechen kann, aber in dem nicht permanent der verbale Tabubruch zelebriert wird. Respekt vor dem anderen, auch wenn er eine andere Meinung hat, ist der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.
Frage: Nun gibt es das Phänomen, dass sich die politischen Ränder im Moment praktisch berühren. Im Verhältnis zu Putin, der antiwestlichen Haltung und oft im Antizionismus scheinen sich das linke und das rechte Extrem nicht feindlich gegenüberzustehen, sondern sich viel eher gegen den Rest zu verbünden.
LINDNER: In der Tat, sie bilden das, was man historisch die Querfront genannt hat. Sie sind sich einig in der Ablehnung einer libertären, weltoffenen Lebensweise. Sie pflegen Vorbehalte gegen den Kapitalismus. Sie legen einen bisweilen plumpen Antiamerikanismus an den Tag und versuchen, sich in den alten Nationalstaat zurückzuziehen. Beides sind auch kollektivistische Vorstellungen, ganz links wie ganz rechts. Bei der AfD heißt der Kollektivismus Volksgemeinschaft, bei den Linken Sozialismus. Beides läuft auf dasselbe hinaus: Die Eigenverantwortung und Freiheit des Einzelnen wird kleingemacht. Entweder durch den autoritären Zugriff der Volksgemeinschaft oder durch Klassenkampf.
Frage: In dieser Woche gab es eine bemerkenswerte Entscheidung des SWR-Intendanten Peter Boudgoust, die AfD nicht zu den sogenannten Elefantenrunden vor den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg einzuladen. Wie ging es Ihnen mit dieser Entscheidung?
LINDNER: Die Entscheidung des SWR ist Wasser auf die Mühlen von Medienkritikern. Aber viel bedeutsamer finde ich, dass die Ministerpräsidentin Malu Dreyer und der Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Entscheidung provoziert haben, weil sie nicht mit der AfD debattieren wollen. Das ist feige und falsch. Man sollte diese Leute im Gegenteil mit ihren Positionen konfrontieren, man muss sie argumentativ stellen, denn die haben ja nichts zu sagen. Die bleiben ja stumm, ohne Konzept, um als Projektionsfläche für Protest zu funktionieren.
Frage: Linke und Grüne gehen also falsch mit der AfD um?
LINDNER: Ja, da stimmt was nicht. Ich nenne ein weiteres Beispiel: Am Samstag wird Markus Söder den „Orden wider den tierischen Ernst“ in Aachen erhalten. Doch Sozialdemokraten und Grüne boykottieren diese karnevalistische Veranstaltung wegen des neuen Ordensträgers. Noch ein Jahr zuvor haben sie Sahra Wagenknecht bei ihrem Auftritt begeistert applaudiert. Da stimmen die Verhältnisse nicht, wenn ein Toni Hofreiter wegen Markus Söder absagt.
Frage: Was wäre der richtige Weg?
LINDNER: Mit der AfD muss man über Sachfragen sprechen. Nüchtern und fachlich. Dann kann man entlarven, dass die die Krise nicht lösen können und auch gar nicht wollen. Denn die Flüchtlingskrise begreifen die ja als Geschenk, wie Herr Gauland gesagt hat. Eine Partei, die Krisen herbeisehnt, um durch sie zu wachsen, übertrifft alles an Zynismus und Egoismus, was ich in der Politik erlebt habe.
Frage: Sie sind Fraktionschef in Nordrhein-Westfalen. Nach den Ereignissen in Köln war die Landesregierung auffallend still. Wie wollen Sie SPD und Grüne zur Verantwortung ziehen?
LINDNER: Wir werden einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einrichten, um die Vorfälle in Köln zu untersuchen. Dabei wird die persönliche Verantwortung des Innenministers ein Thema sein. Entscheidend ist aber, strukturelle Mängel in der Polizei zu prüfen und abzustellen. Die Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass der Rechtsstaat das Gewaltmonopol hat. Das war in der Silvesternacht in Köln für viele Frauen offensichtlich nicht der Fall.
Frage: Sind die geplanten Gesetzesverschärfungen der richtige Weg?
LINDNER: Ja, insbesondere die Abschiebungen krimineller Zuwanderer. Eine liberale Gesellschaft kann und muss die Kontrolle darüber behalten, mit wem sie solidarisch ist und mit wem nicht. Generell bin ich beim Ruf nach schärferen Sicherheitsgesetzen aber skeptisch. Nach Paris wurde sofort nach mehr Überwachung gerufen. Oft sind das Symbolforderungen, die nichts bringen. Die radikalisierten Rückkehrer aus Syrien, die dort für die islamische gekämpft haben, sollten überwacht werden – aber doch nicht Millionen unbescholtener Bürger. Wir brauchen also einen Rechtsstaat, der nicht unsere Freiheit permanent beschneidet, sondern einen, der unsere Freiheit schützt. Durch gut ausgestattete Polizei und Justiz. So war immer unsere Überzeugung. Der Innenminister Hans-Dietrich Genscher hat auf den Terror nicht mit Ausnahmezustand und Einschränkung von Bürgerrechten reagiert, sondern zum Beispiel mit der Gründung der Anti-Terror-Einheit GSG 9.