FDP|
30.11.2015 - 12:00EU-Türkei-Deal ist ein Kotau der Kanzlerin
Beim EU-Türkei-Gipfel am Wochenende ist die Bundeskanzlerin in vielerlei Hinsicht vor türkischen Interessen eingeknickt. FDP-Chef Christian Lindner und der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, äußerten sich kritisch zum Deal. "Die Türkei wird zwar als Partner gebraucht, aber Erdogan darf das nicht als Narrenfreiheit missverstehen", verdeutlichte Lindner gegenüber der "Bild am Sonntag". Auch Lambsdorff betonte, dass eine ehrliche, pragmatische Zusammenarbeit mit der Türkei notwendig sei. "Aber wir dürfen als EU unsere Werte dabei nicht über Bord werfen", stellte er klar.
Im Interview mit "rbb radioeins" erklärte Lambsdorff, dass es bei der Vereinbarung mit der Türkei natürlich auch darum gehe, dass Ankara die überforderten Balkan-Staaten in der Flüchtlingsfrage entlaste. Die Türkei sei hier wegen der geopolitischen Lage ein unentbehrlicher Partner, betonte er. "Ich finde es auch richtig, dass man mit ihr eine pragmatische Zusammenarbeit sucht. Was ich aber nicht richtig finde, ist dass wir unsere Werte quasi über Bord werfen."
Die EU darf ihre Werte nicht verraten
Mit Blick auf die Diskussion über eine Weiterführung der EU-Beitrittsverhandlungen machte Lambsdorff deutlich: Es sei unrealistisch, dass ein Land mit solchen gravierenden Problemen bei der Presse- und Meinungsfreiheit sowie bei der Unabhängigkeit der Justiz in die EU passen würde. "Das ist der Punkt, wo wir als FDP ganz stark diesen Deal kritisieren. Das ist ein Kotau der Bundeskanzlerin vor Herrn Erdogan, das hätte so nicht passieren dürfen."
Statt falsche Hoffnungen auf eine EU-Mitgliedschaft zu wecken, schlug Lambsdorff eine konstruktive und sachliche Zusammenarbeit vor. "Was wir der Türkei anbieten sollten, ist Folgendes: Regelmäßige Treffen. Verhandlungen auf Augenhöhe. Respektvoller Umgang miteinander. Das sind die Dinge, die wirklich zählen, und dann kann man doch ganz viele Dinge zusammen auch machen – in der Energiepolitik zusammenarbeiten, Wissenschaftsaustausch", erläuterte der FDP-Politiker. Auch Erleichterungen beim Visaverfahren forderten die Freien Demokraten seit Jahren angesichts der Verbindungen vieler Bundesbürger mit der Türkei. Es gebe viele Projekte, die angegangen werden könnten – "aber wir dürfen trotzdem unsere Werte dabei nicht verraten", betonte er.
Hintergrund
Im Vorfeld des Gipfels hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker engere Beziehungen zwischen der EU und der Türkei gefordert. Konkretes Ziel des Treffens in Brüssel war es, mit Ankara einen gemeinsamen Aktionsplan zur Flüchtlingskrise zu schmieden. Zu den Ergebnissen des Gipfels zählten drei Milliarden Euro Unterstützung der EU für die Türkei in der Flüchtlingshilfe, neue Bewegung in der EU-Beitrittsfrage und weitere Zugeständnisse.
Lesen Sie hier das gesamte Interview mit Alexander Graf Lambsdorff.
EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte gestern, dass es nicht darum gehe, den Schutz der europäischen Balkangrenzen auf die Türkei abzuladen. Ja worum ging es denn sonst?
Ja natürlich geht es darum, zum Teil. Das ist doch vollkommen klar. Die Balkanstaaten sind völlig überfordert mit der Situation: Das fängt bei Griechenland an und geht dann über den Balkan hinaus bis Österreich und bis in jeden Landkreis, jede Gemeinde in Deutschland. Natürlich ging es darum, dass die Türken uns auf der Balkanroute entlasten.
Journalisten und Staatsbedienstete, die eine andere Meinung haben, als Staatspräsident Erdogan, die werden in der Türkei eingesperrt. Es gibt Hinweise, dass Erdogan den IS unterstützt hat – ist die Türkei derzeit ein guter Partner für uns?
Naja, die Türkei ist ein unentbehrlicher Partner und da reicht ein Blick auf die Landkarte, dass man das versteht. Also man kann gar nicht ohne die Türkei hoffen, auf eine Lösung, auf eine Verbesserung der Situation. Das ist das eine. Ich finde es deswegen auch richtig, dass man mit ihr eine pragmatische, eine ganz praktische Zusammenarbeit sucht. Was ich aber nicht richtig finde, und das ist das andere, ist dass wir unsere Werte quasi über Bord werfen und so tun, als ob wir bei den Beitrittsverhandlungen weitermachen könnten. Wer glaubt denn im Ernst, dass ein Land, wie das das Herr Erdogan da regiert, wirklich in die EU reinpassen würde – mit genau den Sachen, die Sie gerade gesagt haben: Journalisten im Knast, Demonstranten, die zusammengeprügelt werden, und die Unabhängigkeit der Justiz, die nicht mehr gegeben ist. Also, das ist der Punkt, wo wir als FDP ganz stark diesen Deal kritisieren. Das ist ein Kotau der Bundeskanzlerin hier vor Herrn Erdogan, das hätte so nicht passieren sollen.
Sie haben das ja schon nach dem Sieg der islamisch-konservativen AKP vor vier Wochen gesagt, dass die Türkei nun kein Kandidat mehr für einen EU-Beitritt sei. Kann ich nachvollziehen, aber müssen wir der Türkei nicht genau so was anbieten, damit sie die Flüchtlinge nicht einfach durchwinkt?
Was wir der Türkei anbieten sollten, ist Folgendes: regelmäßige Treffen, Verhandlungen auf Augenhöhe, respektvoller Umgang miteinander. Das sind die Dinge, die wirklich zählen und dann kann man doch ganz viele Dinge miteinander machen: in der Energiepolitik zusammenarbeiten, im Wissenschaftsaustausch. Wir haben ganz viele türkischstämmige Menschen, die bei uns in Deutschland wohnen. Diese Visa-Erleichterung ist eine Sache, die die Freien Demokraten seit vielen Jahren fordern, insbesondere für Geschäftsreisende. Das ist doch demütigend: da haben wir einen Beitrittskandidaten, einen angeblichen, aber dessen Staatsangehörige dürfen nicht nach Europa einreisen, ohne vorher stundenlang vor irgendwelchen Konsulaten in der Schlange zu stehen. Also es gibt Sachen, die man machen kann, aber wir dürfen trotzdem unsere Werte dabei nicht verraten.
Ich verstehe in der Theorie, was Sie meinen, aber in der Praxis verstehe ich es nicht ganz, wie man es umsetzen soll. Wenn Erdogan sagt „ich möchte gerne intensivere Beitrittsverhandlungen, sonst winke ich, ich sage es mal so platt, die Flüchtlinge durch“ – was macht man denn dann als verantwortlicher Politiker?
Naja, also die Verhandlungen laufen mit beidseitigen Interessen ab. Auch die Türken haben ja Interessen, es ist nicht so, dass nur Europa Interessen hat. Ich habe gerade ein Interesse genannt: Die Visa-Erleichterungen sind ein ganz konkretes Interesse und ich glaube man hätte sich auch da darauf einigen können, ohne dass man jetzt hier so tut, als ob der Beitrittsprozess jetzt irgendwo hinläuft. Ich will vielleicht eines auch sagen: Ob jetzt da noch ein paar Kapitel eröffnet werden oder nicht – vermutlich wird es am langen Ende gar nicht so entscheidend sein. Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der allen Ernstes davon ausgeht, dass die Türkei in absehbarer Zeit ein Vollmitglied der EU wird. Sondern ich glaube man wird eine positive Agenda entwickeln müssen, eine gute pragmatische Zusammenarbeit und gleichzeitig aber sagen müssen: Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, all diese Dinge, das ist für Europa zu wichtig, als dass wir einfach darüber hinweg gucken können.
Beim Gipfel ging es auch um viel Geld: Drei Milliarden wurden der Türkei zugesagt, damit sie für die Flüchtlinge in der Türkei bessere Bedingungen schafft. Gehe ich recht in der Annahme, dass das zum Großteil von Deutschland bezahlt wird?
Naja, erstens sind drei Milliarden Euro nicht so wahnsinnig viel, wenn man es mal vergleicht mit den Kosten, die wir in Deutschland jetzt überall ja haben. Da reden wir über zehn, zwanzig Milliarden Euro alleine in Deutschland. Ganz Europa wird jetzt der Türkei drei Milliarden geben, um da vor Ort zu helfen. Das zeigt ja auch, dass das erheblich günstiger ist, wenn man die Flüchtlinge nah an ihrem Herkunftsland hält. Von den drei Milliarden wird Deutschland sicher einen großen Anteil zahlen. Aber das ist nicht etwas, was wir nicht stemmen könnten. An der Stelle glaube ich, müssen wir uns keine Sorgen machen.
EU-Türkei-Deal ist ein Kotau der Kanzlerin
Beim EU-Türkei-Gipfel am Wochenende ist die Bundeskanzlerin in vielerlei Hinsicht vor türkischen Interessen eingeknickt. FDP-Chef Christian Lindner und der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, äußerten sich kritisch zum Deal. "Die Türkei wird zwar als Partner gebraucht, aber Erdogan darf das nicht als Narrenfreiheit missverstehen", verdeutlichte Lindner gegenüber der "Bild am Sonntag". Auch Lambsdorff betonte, dass eine ehrliche, pragmatische Zusammenarbeit mit der Türkei notwendig sei. "Aber wir dürfen als EU unsere Werte dabei nicht über Bord werfen", stellte er klar.
Im Interview mit "rbb radioeins" [1] erklärte Lambsdorff, dass es bei der Vereinbarung mit der Türkei natürlich auch darum gehe, dass Ankara die überforderten Balkan-Staaten in der Flüchtlingsfrage entlaste. Die Türkei sei hier wegen der geopolitischen Lage ein unentbehrlicher Partner, betonte er. "Ich finde es auch richtig, dass man mit ihr eine pragmatische Zusammenarbeit sucht. Was ich aber nicht richtig finde, ist dass wir unsere Werte quasi über Bord werfen."
Die EU darf ihre Werte nicht verraten
Mit Blick auf die Diskussion über eine Weiterführung der EU-Beitrittsverhandlungen machte Lambsdorff deutlich: Es sei unrealistisch, dass ein Land mit solchen gravierenden Problemen bei der Presse- und Meinungsfreiheit sowie bei der Unabhängigkeit der Justiz in die EU passen würde. "Das ist der Punkt, wo wir als FDP ganz stark diesen Deal kritisieren. Das ist ein Kotau der Bundeskanzlerin vor Herrn Erdogan, das hätte so nicht passieren dürfen."
Statt falsche Hoffnungen auf eine EU-Mitgliedschaft zu wecken, schlug Lambsdorff eine konstruktive und sachliche Zusammenarbeit vor. "Was wir der Türkei anbieten sollten, ist Folgendes: Regelmäßige Treffen. Verhandlungen auf Augenhöhe. Respektvoller Umgang miteinander. Das sind die Dinge, die wirklich zählen, und dann kann man doch ganz viele Dinge zusammen auch machen – in der Energiepolitik zusammenarbeiten, Wissenschaftsaustausch", erläuterte der FDP-Politiker. Auch Erleichterungen beim Visaverfahren forderten die Freien Demokraten seit Jahren angesichts der Verbindungen vieler Bundesbürger mit der Türkei. Es gebe viele Projekte, die angegangen werden könnten – "aber wir dürfen trotzdem unsere Werte dabei nicht verraten", betonte er.
Hintergrund
Im Vorfeld des Gipfels hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker engere Beziehungen zwischen der EU und der Türkei gefordert. Konkretes Ziel des Treffens in Brüssel war es, mit Ankara einen gemeinsamen Aktionsplan zur Flüchtlingskrise zu schmieden. Zu den Ergebnissen des Gipfels zählten drei Milliarden Euro Unterstützung der EU für die Türkei in der Flüchtlingshilfe, neue Bewegung in der EU-Beitrittsfrage und weitere Zugeständnisse.
Lesen Sie hier das gesamte Interview mit Alexander Graf Lambsdorff.
EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte gestern, dass es nicht darum gehe, den Schutz der europäischen Balkangrenzen auf die Türkei abzuladen. Ja worum ging es denn sonst?
Ja natürlich geht es darum, zum Teil. Das ist doch vollkommen klar. Die Balkanstaaten sind völlig überfordert mit der Situation: Das fängt bei Griechenland an und geht dann über den Balkan hinaus bis Österreich und bis in jeden Landkreis, jede Gemeinde in Deutschland. Natürlich ging es darum, dass die Türken uns auf der Balkanroute entlasten.
Journalisten und Staatsbedienstete, die eine andere Meinung haben, als Staatspräsident Erdogan, die werden in der Türkei eingesperrt. Es gibt Hinweise, dass Erdogan den IS unterstützt hat – ist die Türkei derzeit ein guter Partner für uns?
Naja, die Türkei ist ein unentbehrlicher Partner und da reicht ein Blick auf die Landkarte, dass man das versteht. Also man kann gar nicht ohne die Türkei hoffen, auf eine Lösung, auf eine Verbesserung der Situation. Das ist das eine. Ich finde es deswegen auch richtig, dass man mit ihr eine pragmatische, eine ganz praktische Zusammenarbeit sucht. Was ich aber nicht richtig finde, und das ist das andere, ist dass wir unsere Werte quasi über Bord werfen und so tun, als ob wir bei den Beitrittsverhandlungen weitermachen könnten. Wer glaubt denn im Ernst, dass ein Land, wie das das Herr Erdogan da regiert, wirklich in die EU reinpassen würde – mit genau den Sachen, die Sie gerade gesagt haben: Journalisten im Knast, Demonstranten, die zusammengeprügelt werden, und die Unabhängigkeit der Justiz, die nicht mehr gegeben ist. Also, das ist der Punkt, wo wir als FDP ganz stark diesen Deal kritisieren. Das ist ein Kotau der Bundeskanzlerin hier vor Herrn Erdogan, das hätte so nicht passieren sollen.
Sie haben das ja schon nach dem Sieg der islamisch-konservativen AKP vor vier Wochen gesagt, dass die Türkei nun kein Kandidat mehr für einen EU-Beitritt sei. Kann ich nachvollziehen, aber müssen wir der Türkei nicht genau so was anbieten, damit sie die Flüchtlinge nicht einfach durchwinkt?
Was wir der Türkei anbieten sollten, ist Folgendes: regelmäßige Treffen, Verhandlungen auf Augenhöhe, respektvoller Umgang miteinander. Das sind die Dinge, die wirklich zählen und dann kann man doch ganz viele Dinge miteinander machen: in der Energiepolitik zusammenarbeiten, im Wissenschaftsaustausch. Wir haben ganz viele türkischstämmige Menschen, die bei uns in Deutschland wohnen. Diese Visa-Erleichterung ist eine Sache, die die Freien Demokraten seit vielen Jahren fordern, insbesondere für Geschäftsreisende. Das ist doch demütigend: da haben wir einen Beitrittskandidaten, einen angeblichen, aber dessen Staatsangehörige dürfen nicht nach Europa einreisen, ohne vorher stundenlang vor irgendwelchen Konsulaten in der Schlange zu stehen. Also es gibt Sachen, die man machen kann, aber wir dürfen trotzdem unsere Werte dabei nicht verraten.
Ich verstehe in der Theorie, was Sie meinen, aber in der Praxis verstehe ich es nicht ganz, wie man es umsetzen soll. Wenn Erdogan sagt „ich möchte gerne intensivere Beitrittsverhandlungen, sonst winke ich, ich sage es mal so platt, die Flüchtlinge durch“ – was macht man denn dann als verantwortlicher Politiker?
Naja, also die Verhandlungen laufen mit beidseitigen Interessen ab. Auch die Türken haben ja Interessen, es ist nicht so, dass nur Europa Interessen hat. Ich habe gerade ein Interesse genannt: Die Visa-Erleichterungen sind ein ganz konkretes Interesse und ich glaube man hätte sich auch da darauf einigen können, ohne dass man jetzt hier so tut, als ob der Beitrittsprozess jetzt irgendwo hinläuft. Ich will vielleicht eines auch sagen: Ob jetzt da noch ein paar Kapitel eröffnet werden oder nicht – vermutlich wird es am langen Ende gar nicht so entscheidend sein. Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der allen Ernstes davon ausgeht, dass die Türkei in absehbarer Zeit ein Vollmitglied der EU wird. Sondern ich glaube man wird eine positive Agenda entwickeln müssen, eine gute pragmatische Zusammenarbeit und gleichzeitig aber sagen müssen: Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, all diese Dinge, das ist für Europa zu wichtig, als dass wir einfach darüber hinweg gucken können.
Beim Gipfel ging es auch um viel Geld: Drei Milliarden wurden der Türkei zugesagt, damit sie für die Flüchtlinge in der Türkei bessere Bedingungen schafft. Gehe ich recht in der Annahme, dass das zum Großteil von Deutschland bezahlt wird?
Naja, erstens sind drei Milliarden Euro nicht so wahnsinnig viel, wenn man es mal vergleicht mit den Kosten, die wir in Deutschland jetzt überall ja haben. Da reden wir über zehn, zwanzig Milliarden Euro alleine in Deutschland. Ganz Europa wird jetzt der Türkei drei Milliarden geben, um da vor Ort zu helfen. Das zeigt ja auch, dass das erheblich günstiger ist, wenn man die Flüchtlinge nah an ihrem Herkunftsland hält. Von den drei Milliarden wird Deutschland sicher einen großen Anteil zahlen. Aber das ist nicht etwas, was wir nicht stemmen könnten. An der Stelle glaube ich, müssen wir uns keine Sorgen machen.