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20.11.2015 - 12:30Europa darf sich nicht spalten lassen
In Paris haben bewaffnete Islamisten auf Zivilisten geschossen, aber auch die Offenheit der europäischen Gemeinschaft ins Visier genommen. FDP-Chef Christian Lindner warnte davor, den Extremisten in die Hände zu spielen. "Es ist ja auch ein Ziel der Terroristen, Europa zu spalten", gab er im "Cicero"-Interview zu bedenken. Deswegen sei es umso wichtiger, sich nicht auf das Schüren von Ressentiments einzulassen. "Radikalisierung und Fremdenfeindlichkeit sind Bedrohungen unserer Freiheit von innen", unterstrich er.
Es wäre ein dramatischer Irrtum, den Zusammenhalt Europas für selbstverständlich zu nehmen, so Lindner weiter: "Ich halte die Europäische Union für bedroht. Überall entstehen neue Nationalismen." Europa müsse sich bewähren in der Achtung vor gemeinsam verabredeten Regeln und an der fairen Verteilung von Lasten, forderte der Freidemokrat. "Europa hat Zukunft, wenn wir das stark machen, was in seinen Verträgen steht: offene Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft."
Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, wird beides verlieren
Lindner befürwortete außerdem eine Debatte über die technische und personelle Ausstattung der Sicherheitsbehörden sowie über den Schutz der europäischen Außengrenzen und eine gemeinsame Außenpolitik. "Ich bezweifele aber, dass schärfere Gesetze nötig sind", machte der FDP-Chef klar. "Wenn wir alle in Einzelzellen sitzen würden, dann hätten wir maximale Sicherheit, aber keine Freiheit. Die Feinde der Freiheit hätten doch schon gewonnen, weil wir selbst sie aufgeben." Er rief die Gesellschaft auf, aus der Trauer die Kraft zu entwickeln, ihre innere Liberalität entschiedener denn je zu verteidigen.
Lesen Sie hier das gesamte Interview.
Herr Lindner, die Terrorakte von Paris haben einen enormen Blutzoll gefordert. Wen sollten die Angriffe über die eigentlichen Opfer hinaus noch treffen?
Uns alle und unsere Art zu leben. Junge Männer wurden zu Mördern, weil sie unsere Freiheit hassen. Die Feinde der offenen Gesellschaft wollen nicht nur, dass wir im Alltag Angst haben. Sie bezwecken, dass unsere Gesellschaften sich radikalisieren, ihre Offenheit durch Abschottung ersetzen und so ihre Stabilität verlieren. Deshalb sind wir aufgerufen, aus der Trauer die Kraft zu entwickeln, die innere Liberalität entschiedener als bisher zu verteidigen.
In der Tat werden westlichen Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte meist dann besonders hochgehalten, wenn sich gerade wieder so ein schreckliches Ereignis wie jetzt in Paris zugetragen hat. Ich habe leider den Eindruck, dass sich der Westen seiner Werte im normalen Alltag immer seltener selbst bewusst ist.
Es ist schlimmer. Diese Werte werden ausgehöhlt oder offen bekämpft. Die Essenz aus amerikanischer Unabhängigkeitserklärung, Französischer Revolution und Grundgesetz ist das Vertrauen auf die Vernunft und das Verantwortungsgefühl des einzelnen Menschen. Aus der Freiheit des Einzelnen leiten sich die Ordnungen von Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft ab. All das ist in der Defensive. Das beginnt bei der Bürokratisierung des Privat- und Wirtschaftslebens, der Bespitzelung unbescholtener Bürger und einem maßlosen Etatismus. Es setzt sich fort, wenn eine Zeitung Mohammed-Karikaturen nicht mehr druckt oder am Stammtisch Stimmung gegen Kopftuchmädchen gemacht wird. Und es endet bei Pegida und AfD, die offen völkisch-nationale Ideen vertreten und die Legitimität unseres Staates in Zweifel ziehen.
Wenn Sie die individuelle Freiheit ansprechen, muss man natürlich hinzufügen, dass sie ohne persönliche Sicherheit nicht viel Wert ist. Gleichzeitig bedeutet ein Mehr an Sicherheit oft auch eine Einschränkung der persönlichen Freiheit. Werden wir uns in Zeiten der wachsenden Terrorgefahr mit einer Einschränkung unserer Freiheitsrechte abfinden müssen?
Das wäre die falsche Schlussfolgerung. Wenn wir alle in Einzelzellen sitzen würden, dann hätten wir maximale Sicherheit, aber keine Freiheit. Ich fordere eine Debatte über die technische und personelle Ausstattung unserer Sicherheitsbehörden, über den Schutz der europäischen Außengrenzen und über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Ich bezweifele aber, dass schärfere Gesetze nötig sind. Die Feinde der Freiheit hätten doch schon gewonnen, weil wir selbst sie aufgeben.
Humanitärer Schutz für Kriegsflüchtlinge
Wo Sie die Sicherung unserer Außengrenzen ansprechen: In Deutschland halten sich um die 250.000 nichtregistrierte Flüchtlinge auf. Was bedeutet das für die innere Sicherheit?
Darüber spekuliere ich nicht. Der Zustand ist in jedem Fall inakzeptabel. Denn der Rechtsstaat muss dafür einstehen, dass seine Gesetze befolgt und seine Grenzen geschützt werden. Sonst erodiert seine Autorität. Frau Merkel hat durch Signale einer grenzenlosen Willkommenskultur und durch die Öffnung unserer Grenzen eine Sogwirkung ausgelöst, die mehr oder weniger chaotisch ist. Sie hat diese Politik nicht mit unseren europäischen Partnern abgestimmt, sondern ihnen regelrecht aufzwingen wollen. Sie hat damit die Traditionslinie von Kohl, Schmidt oder Genscher verlassen. Unabhängig vom Terror in Paris ist nichts dringlicher, als wieder eine Ordnung mit klaren Regeln zu schaffen.
Glauben Sie, die Kanzlerin wird ihren Kurs der offenen Grenzen beibehalten können?
Nein. Sie relativiert ihn ja bereits. Die Solidarität der Deutschen ist beeindruckend, aber selbst unsere Möglichkeiten sind objektiv begrenzt. Unser Land muss die Polarisierung überwinden zwischen einerseits einer grenzenlosen Willkommenskultur und auf der anderen Seite einer reaktionären Abschottungspolitik. Die Bundesregierung sollte den Menschen auf der Flucht sagen: Unsere Möglichkeiten sind begrenzt – bleibt, wo ihr seid, und wir helfen euch dort. Auch sollte man Kriegsflüchtlingen zunächst nur einen vorübergehenden humanitären Schutz ohne dauerhaften Aufenthaltstitel gewähren. Das geht unbürokratisch ohne Asylverfahren, ermöglicht sofort Integrationsbemühungen, erleichtert die spätere Rückführung und reduziert die Anziehungskraft speziell Deutschlands. Sinnvollerweise sollten wir das aber mit einem modernen Einwanderungsgesetz kombinieren, um eine legale Bleibeperspektive für Zuwanderer zu schaffen.
Markus Söder von der CSU hat jetzt eine Obergrenze für den Zustrom nach Deutschland gefordert und beziffert diese auf 200.000 bis 300.000 Menschen pro Jahr. Ist das für Sie plausibel?
Klar ist: Die Zahlen der Zuzügler müssen sinken, weil wir nicht auf Dauer tausende weitere Menschen, die pro Woche kommen, bei uns integrieren können. Die USA verfolgen ebenfalls eine Asylpolitik mit festen Quoten. Gerhard Schröder hat sich dafür ausgesprochen. Ich bin offen für eine nüchterne Debatte darüber, bin aber im Zweifel, ob dies mit dem Grundgesetz vereinbar und humanitär in dieser Lage möglich ist.
Der Zustrom geschieht ja auch unter Umgehung geltender Regeln wie etwa Dublin III. Haben wir es bei der derzeitigen deutschen Flüchtlingspolitik nicht mit einem fortgesetzten Rechtsbruch zu tun?
Das sagen oft die Rechtspopulisten. Der Vorwurf der Rechtsbruch zielt darauf, die Legitimität unseres demokratischen Systems in Frage zu stellen. Tatsächlich erlaubt die Dublin-Vereinbarung, dass eine Regierung sie außer Kraft setzt. Dass die Bundesregierung von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, war indes ein schwerer politischer Fehler.
Die Bundeskanzlerin beteuert, sie habe die Lage im Griff.
Sie hat die Lage offensichtlich nicht im Griff. Frau Merkel regiert immer noch ihrem Satz „Wir schaffen das“ hinterher, ohne dass ein klarer Plan gefolgt wäre.
Zusammenhalt der EU ist bedroht
Die Attentate von Paris haben schon jetzt dazu geführt, dass Polen entgegen seiner Zusage nun doch überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen will. Wie sehr bedroht die Mischung aus Flüchtlingszustrom und Terrorangriffen das Projekt der Europäischen Union?
Sehr. Es ist ja auch ein Ziel der Terroristen, Europa zu spalten. Deswegen ist es umso wichtiger, dass sich die europäischen Gesellschaften nicht auf das Schüren von Ressentiments einlassen. Radikalisierung und Fremdenfeindlichkeit sind Bedrohungen unserer Freiheit von innen. Europa muss sich bewähren in der Achtung vor gemeinsam verabredeten Regeln und an der fairen Verteilung von Lasten. Europa war und ist aber mehr als eine Zollunion – nämlich eine Wertegemeinschaft.
Sehen Sie die Gefahr, dass Europa wegen der derzeitigen Probleme auseinanderbrechen könnte?
Ich halte die Europäische Union für bedroht. Es wäre ein dramatischer Irrtum, den Zusammenhalt Europas für selbstverständlich zu nehmen. Überall entstehen neue Nationalismen. Europa hat Zukunft, wenn wir das stark machen, was in seinen Verträgen steht: offene Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft.
Präsident Hollande ist nicht der einzige, der jetzt von Krieg spricht. Sehen Sie durch die Anschläge den Bündnisfall gegeben?
Es ist ein Krieg neuen Typs, wenngleich nicht im völkerrechtlichen Sinne. Wir brauchen als Antwort eine politische Strategie für die Region und über den Tag hinaus. Dafür sind die Vereinten Nationen gefordert. Militär wird sicherlich mindestens phasenweise ein Teil dieser Strategie.
Angela Merkel gerät wegen ihrer Flüchtlingspolitik immer stärker unter Druck, zumal nach den Anschlägen von Paris. Glauben Sie, dass sie das durchsteht?
Ich sehe in der Union keine Alternative. Klar aber ist: Der Heiligenschein von Frau Merkel ist weg. Sie hat Höhepunkt ihrer Amtszeit hinter sich.
Europa darf sich nicht spalten lassen
In Paris haben bewaffnete Islamisten auf Zivilisten geschossen, aber auch die Offenheit der europäischen Gemeinschaft ins Visier genommen. FDP-Chef Christian Lindner warnte davor, den Extremisten in die Hände zu spielen. "Es ist ja auch ein Ziel der Terroristen, Europa zu spalten", gab er im "Cicero"-Interview zu bedenken. Deswegen sei es umso wichtiger, sich nicht auf das Schüren von Ressentiments einzulassen. "Radikalisierung und Fremdenfeindlichkeit sind Bedrohungen unserer Freiheit von innen", unterstrich er.
Es wäre ein dramatischer Irrtum, den Zusammenhalt Europas für selbstverständlich zu nehmen, so Lindner weiter: "Ich halte die Europäische Union für bedroht. Überall entstehen neue Nationalismen." Europa müsse sich bewähren in der Achtung vor gemeinsam verabredeten Regeln und an der fairen Verteilung von Lasten, forderte der Freidemokrat. "Europa hat Zukunft, wenn wir das stark machen, was in seinen Verträgen steht: offene Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft."
Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, wird beides verlieren
Lindner befürwortete außerdem eine Debatte über die technische und personelle Ausstattung der Sicherheitsbehörden sowie über den Schutz der europäischen Außengrenzen und eine gemeinsame Außenpolitik. "Ich bezweifele aber, dass schärfere Gesetze nötig sind", machte der FDP-Chef klar. "Wenn wir alle in Einzelzellen sitzen würden, dann hätten wir maximale Sicherheit, aber keine Freiheit. Die Feinde der Freiheit hätten doch schon gewonnen, weil wir selbst sie aufgeben." Er rief die Gesellschaft auf, aus der Trauer die Kraft zu entwickeln, ihre innere Liberalität entschiedener denn je zu verteidigen.
Lesen Sie hier das gesamte Interview.
Herr Lindner, die Terrorakte von Paris haben einen enormen Blutzoll gefordert. Wen sollten die Angriffe über die eigentlichen Opfer hinaus noch treffen?
Uns alle und unsere Art zu leben. Junge Männer wurden zu Mördern, weil sie unsere Freiheit hassen. Die Feinde der offenen Gesellschaft wollen nicht nur, dass wir im Alltag Angst haben. Sie bezwecken, dass unsere Gesellschaften sich radikalisieren, ihre Offenheit durch Abschottung ersetzen und so ihre Stabilität verlieren. Deshalb sind wir aufgerufen, aus der Trauer die Kraft zu entwickeln, die innere Liberalität entschiedener als bisher zu verteidigen.
In der Tat werden westlichen Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte meist dann besonders hochgehalten, wenn sich gerade wieder so ein schreckliches Ereignis wie jetzt in Paris zugetragen hat. Ich habe leider den Eindruck, dass sich der Westen seiner Werte im normalen Alltag immer seltener selbst bewusst ist.
Es ist schlimmer. Diese Werte werden ausgehöhlt oder offen bekämpft. Die Essenz aus amerikanischer Unabhängigkeitserklärung, Französischer Revolution und Grundgesetz ist das Vertrauen auf die Vernunft und das Verantwortungsgefühl des einzelnen Menschen. Aus der Freiheit des Einzelnen leiten sich die Ordnungen von Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft ab. All das ist in der Defensive. Das beginnt bei der Bürokratisierung des Privat- und Wirtschaftslebens, der Bespitzelung unbescholtener Bürger und einem maßlosen Etatismus. Es setzt sich fort, wenn eine Zeitung Mohammed-Karikaturen nicht mehr druckt oder am Stammtisch Stimmung gegen Kopftuchmädchen gemacht wird. Und es endet bei Pegida und AfD, die offen völkisch-nationale Ideen vertreten und die Legitimität unseres Staates in Zweifel ziehen.
Wenn Sie die individuelle Freiheit ansprechen, muss man natürlich hinzufügen, dass sie ohne persönliche Sicherheit nicht viel Wert ist. Gleichzeitig bedeutet ein Mehr an Sicherheit oft auch eine Einschränkung der persönlichen Freiheit. Werden wir uns in Zeiten der wachsenden Terrorgefahr mit einer Einschränkung unserer Freiheitsrechte abfinden müssen?
Das wäre die falsche Schlussfolgerung. Wenn wir alle in Einzelzellen sitzen würden, dann hätten wir maximale Sicherheit, aber keine Freiheit. Ich fordere eine Debatte über die technische und personelle Ausstattung unserer Sicherheitsbehörden, über den Schutz der europäischen Außengrenzen und über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Ich bezweifele aber, dass schärfere Gesetze nötig sind. Die Feinde der Freiheit hätten doch schon gewonnen, weil wir selbst sie aufgeben.
Humanitärer Schutz für Kriegsflüchtlinge
Wo Sie die Sicherung unserer Außengrenzen ansprechen: In Deutschland halten sich um die 250.000 nichtregistrierte Flüchtlinge auf. Was bedeutet das für die innere Sicherheit?
Darüber spekuliere ich nicht. Der Zustand ist in jedem Fall inakzeptabel. Denn der Rechtsstaat muss dafür einstehen, dass seine Gesetze befolgt und seine Grenzen geschützt werden. Sonst erodiert seine Autorität. Frau Merkel hat durch Signale einer grenzenlosen Willkommenskultur und durch die Öffnung unserer Grenzen eine Sogwirkung ausgelöst, die mehr oder weniger chaotisch ist. Sie hat diese Politik nicht mit unseren europäischen Partnern abgestimmt, sondern ihnen regelrecht aufzwingen wollen. Sie hat damit die Traditionslinie von Kohl, Schmidt oder Genscher verlassen. Unabhängig vom Terror in Paris ist nichts dringlicher, als wieder eine Ordnung mit klaren Regeln zu schaffen.
Glauben Sie, die Kanzlerin wird ihren Kurs der offenen Grenzen beibehalten können?
Nein. Sie relativiert ihn ja bereits. Die Solidarität der Deutschen ist beeindruckend, aber selbst unsere Möglichkeiten sind objektiv begrenzt. Unser Land muss die Polarisierung überwinden zwischen einerseits einer grenzenlosen Willkommenskultur und auf der anderen Seite einer reaktionären Abschottungspolitik. Die Bundesregierung sollte den Menschen auf der Flucht sagen: Unsere Möglichkeiten sind begrenzt – bleibt, wo ihr seid, und wir helfen euch dort. Auch sollte man Kriegsflüchtlingen zunächst nur einen vorübergehenden humanitären Schutz ohne dauerhaften Aufenthaltstitel gewähren. Das geht unbürokratisch ohne Asylverfahren, ermöglicht sofort Integrationsbemühungen, erleichtert die spätere Rückführung und reduziert die Anziehungskraft speziell Deutschlands. Sinnvollerweise sollten wir das aber mit einem modernen Einwanderungsgesetz kombinieren, um eine legale Bleibeperspektive für Zuwanderer zu schaffen.
Markus Söder von der CSU hat jetzt eine Obergrenze für den Zustrom nach Deutschland gefordert und beziffert diese auf 200.000 bis 300.000 Menschen pro Jahr. Ist das für Sie plausibel?
Klar ist: Die Zahlen der Zuzügler müssen sinken, weil wir nicht auf Dauer tausende weitere Menschen, die pro Woche kommen, bei uns integrieren können. Die USA verfolgen ebenfalls eine Asylpolitik mit festen Quoten. Gerhard Schröder hat sich dafür ausgesprochen. Ich bin offen für eine nüchterne Debatte darüber, bin aber im Zweifel, ob dies mit dem Grundgesetz vereinbar und humanitär in dieser Lage möglich ist.
Der Zustrom geschieht ja auch unter Umgehung geltender Regeln wie etwa Dublin III. Haben wir es bei der derzeitigen deutschen Flüchtlingspolitik nicht mit einem fortgesetzten Rechtsbruch zu tun?
Das sagen oft die Rechtspopulisten. Der Vorwurf der Rechtsbruch zielt darauf, die Legitimität unseres demokratischen Systems in Frage zu stellen. Tatsächlich erlaubt die Dublin-Vereinbarung, dass eine Regierung sie außer Kraft setzt. Dass die Bundesregierung von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, war indes ein schwerer politischer Fehler.
Die Bundeskanzlerin beteuert, sie habe die Lage im Griff.
Sie hat die Lage offensichtlich nicht im Griff. Frau Merkel regiert immer noch ihrem Satz „Wir schaffen das“ hinterher, ohne dass ein klarer Plan gefolgt wäre.
Zusammenhalt der EU ist bedroht
Die Attentate von Paris haben schon jetzt dazu geführt, dass Polen entgegen seiner Zusage nun doch überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen will. Wie sehr bedroht die Mischung aus Flüchtlingszustrom und Terrorangriffen das Projekt der Europäischen Union?
Sehr. Es ist ja auch ein Ziel der Terroristen, Europa zu spalten. Deswegen ist es umso wichtiger, dass sich die europäischen Gesellschaften nicht auf das Schüren von Ressentiments einlassen. Radikalisierung und Fremdenfeindlichkeit sind Bedrohungen unserer Freiheit von innen. Europa muss sich bewähren in der Achtung vor gemeinsam verabredeten Regeln und an der fairen Verteilung von Lasten. Europa war und ist aber mehr als eine Zollunion – nämlich eine Wertegemeinschaft.
Sehen Sie die Gefahr, dass Europa wegen der derzeitigen Probleme auseinanderbrechen könnte?
Ich halte die Europäische Union für bedroht. Es wäre ein dramatischer Irrtum, den Zusammenhalt Europas für selbstverständlich zu nehmen. Überall entstehen neue Nationalismen. Europa hat Zukunft, wenn wir das stark machen, was in seinen Verträgen steht: offene Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft.
Präsident Hollande ist nicht der einzige, der jetzt von Krieg spricht. Sehen Sie durch die Anschläge den Bündnisfall gegeben?
Es ist ein Krieg neuen Typs, wenngleich nicht im völkerrechtlichen Sinne. Wir brauchen als Antwort eine politische Strategie für die Region und über den Tag hinaus. Dafür sind die Vereinten Nationen gefordert. Militär wird sicherlich mindestens phasenweise ein Teil dieser Strategie.
Angela Merkel gerät wegen ihrer Flüchtlingspolitik immer stärker unter Druck, zumal nach den Anschlägen von Paris. Glauben Sie, dass sie das durchsteht?
Ich sehe in der Union keine Alternative. Klar aber ist: Der Heiligenschein von Frau Merkel ist weg. Sie hat Höhepunkt ihrer Amtszeit hinter sich.