FDP|
09.11.2015 - 09:30Merkel hat Chaos angerichtet
Mit ihrer Entscheidung, die Dublin-Verordnung für Flüchtlinge aus Syrien praktisch außer Kraft zu setzen, hat die Bundeskanzlerin ein unhaltbares Versprechen gegeben, ist FDP-Chef Christian Lindner überzeugt. "Sie hat den Eindruck erweckt, die Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit seien unendlich. Sie hat dort, wo nichts wichtiger ist als Ordnung und Regeln, Chaos angerichtet. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa", kritisierte er im Interview mit der "Welt" . Er rief den Bund auf, wieder Ordnung herzustellen, damit die Asylbewerberzahlen sinken und Integration funktioniert.
Der aktuelle Asylkompromiss der Großen Koalition sei mehr Gesichtswahrung als Problemlösung, stellte der Freidemokrat klar. "Frau Merkel sollte stattdessen erstens dem schwedischen Beispiel folgen und öffentlich einräumen, dass wir mit den Zahlen überfordert sind, und die Menschen bitten, sich nicht auf den Weg zu uns machen", forderte er.
Lindner gab auch zu bedenken, dass nicht jeder Kriegsflüchtling auf Dauer bleiben könne. "Humanitärer Schutz in der Not ist eine Frage der Solidarität. Aber auch das internationale Recht sieht vor, dass man später wieder in die Heimat zurückkehrt, um dort am Aufbau mitzuwirken", erläuterte er. "Wir sollten die Leute, die qualifiziert und integriert sind, zwar einladen, bei uns zu bleiben", betonte Lindner – aber im Rahmen eines modernen und an klaren Kriterien ausgerichteten Einwanderungsgesetzes. Dieses Gesetz brauche Deutschland "nicht irgendwann, sondern jetzt".
Lesen Sie hier das gesamte Interview.
Wie geht es Ihrem FDP-Projekt im Augenblick?
Uns macht Pionierarbeit Freude. Ein vergleichbares Update hat es bei keiner Partei in Deutschland je gegeben. Wir kommen damit voran. Die neue Richtung stimmt. Aber wir sind nicht am Ziel. Wir haben uns noch viel vorgenommen.
Wie erleben Sie nach Jahren des Spotts die öffentliche Wahrnehmung der Partei? Also im Sinne des Soziologen Niklas Luhmann „die Wahrnehmung der Wahrnehmung“?
Aus Desinteresse wurde Daumendrücken. Uns fehlt aber der Bundestag als Plattform der Debatte. Ich würde sie gerne nutzen, um Frau Merkel zu sagen, was ich von ihrer Flüchtlingspolitik halte: wenig. Und um den Finger in die Wunde zu legen, dass sich niemand im Parlament darüber Gedanken macht, wovon wir eigentlich morgen leben wollen. Wir verschaffen uns aber auch ohne diese Plattform Gehör, wir gehen durch die Säle von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, um den Menschen vor Ort unsere Position für die kommenden Landtagswahlen zu zeigen.
Wie ist es da so?
Ich grabe gerne das Land um. Wir sind alle viel unterwegs und lernen von den Menschen, Betrieben, Schulen und Bürgervereinen, die wir besuchen. Das stärkt die Geländegängigkeit unserer Argumente. Und wenn man die Leute nicht via „Tagesschau“ im Wohnzimmer erreichen kann, dann geht man vor Ort zu ihnen.
Die Umfragen für die FDP gehen nach oben. Es gibt eine neu gewachsene Neugier und ein Interesse der Bürger. Kommt es zu früh?
Mit solchen taktischen Fragen beschäftige ich mich kaum. Wir konzentrieren uns auf die Substanz. Die Partei hat eine Entwicklung durchgemacht, sodass sie jetzt wieder für Bürgerrechtler und Persönlichkeiten aus Mittelstand und Industrie gleichermaßen attraktiv ist. Bürgerrechte, marktwirtschaftliche Überzeugung und Technologieoffenheit – das schmeckt nicht jedem. Der konservative Wirtschaftsknochen stört sich vielleicht an den Bürgerrechtspositionen und der linke Feuilletonist an der Offenheit für Freihandel. Diese Kombination macht aber den Charme der FDP aus.
Den Einzelnen stark machen
Was fehlt der Partei noch?
Wir wollen noch mehr in die Tiefe bohren. Die Digitalisierung ist beispielsweise ein Megatrend, der alles verändern wird. Ich behaupte, dass die Politik ihn weder verstanden noch die nötigen Konsequenzen gezogen hat. Hier wollen wir neue Standards erarbeiten. An diesem Sonntag haben wir dazu einen Kongress in Berlin. Die Investitionen in digitale Infrastruktur und innovative Unternehmen sind angesichts einer zweiten industriellen Revolution in Deutschland bizarr zu niedrig. Warum liberalisieren wir nicht die Möglichkeiten für Versicherungen und Versorgungswerke, dort zu investieren statt nur in Beton? Und es fehlen zeitgemäße Regeln für die Nutzung von Daten und den fairen Wettbewerb mit den großen Plattform-Unternehmen wie Google. Die wollen wir durchdenken.
Aber wird die FDP da schon ernst genommen und gehört?
Mir geht es um die Substanz. Mir geht es noch nicht darum, ob jeder diese Botschaft schon kennt. Das war auch die Pointe des Veränderungsprozesses in unserer Partei. Wir haben am Anfang nicht die Frage gestellt, wie kommt die FDP zurück in den Bundestag. Die erste Frage war, warum wollen wir in den Bundestag? Warum wurde die FDP gegründet? Die Antwort ist, um den Einzelnen stark zu machen – und nicht immer nur den Staat. Wir haben diese Besinnung auf den Einzelnen durchdekliniert. Uns wurde klar, wer über den Einzelnen spricht, der muss heute über Bildung sprechen. Deshalb beginnt damit unser Programm und jede meiner Reden. Bessere Bildung fängt in Deutschland bei den Basics an, dass die Kinder und Jugendlichen nicht mehr auf total marode Toiletten gehen müssen und nicht mehr systematisch Unterricht ausfällt. Und bessere Bildung hört auf beim Tablet, bei digitalen Medien, die wie selbstverständlich im Schulalltag verwendet werden sollten. Damit wir diesem Anspruch gerecht werden, …
Das kostet.
… genau, deshalb müssen wir erkennen, dass Berlin nicht mehr im Wettbewerb mit Baden-Württemberg steht oder Rheinland-Pfalz mit Hamburg. Sondern Deutschland im Wettbewerb mit Nordamerika und China. Deshalb hat die FDP als erste Partei in aller Klarheit gesagt, der Bildungsföderalismus, wie wir ihn heute betreiben, ist eher Teil des Problems als der Lösung. Wir sollten die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe, nämlich Bildung, nicht den am wenigsten gut finanzierten Gliedern des Gemeinwesens, also Ländern und Kommunen, überlassen. Sie muss eine gesamtstaatliche Aufgabe werden.
Die Besetzung der Generalsekretärin war sicherlich verknüpft mit der Idee, dass Nicola Beer die Person ist, die das Thema Bildung nach außen trägt. Sind Sie da zufrieden?
Selbstverständlich. Die Stärke der FDP ergibt sich aus einem Team mit unterschiedlichen Persönlichkeiten. Wir wollen eine vielfältige Gesellschaft. Also muss die FDP diese Vielfalt auch selbst ausstrahlen. Da haben wir Nicola Beer mit ihrer großen fachlichen Präzision. Da ist Wolfgang Kubicki, dessen parlamentarische Erfahrung und Lebensfreude für uns unverzichtbar sind. Da ist Volker Wissing als finanzpolitischer Experte, der über die Parteigrenzen anerkannt ist. Und da ist so ein kantiger Typ wie Uli Rülke in Baden-Württemberg. Man kann Rülke nicht ändern. Aber Rülke kann etwas in Baden-Württemberg verändern.
Für ein modernes Einwanderungsgesetz
Sie haben davon gesprochen, was Sie Merkel alles vorhalten würden: ihre Politik zu Flüchtlingen. Was macht Merkel im Augenblick falsch?
Frau Merkel hat das unhaltbare Versprechen gegeben, dass jeder, der ein neues Leben sucht, es in Deutschland finden kann. Sie hat den Eindruck erweckt, die Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit seien unendlich. Sie hat dort, wo nichts wichtiger ist als Ordnung und Regeln, Chaos angerichtet. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Genau das ist jetzt meine Anforderung an die Regierung: wieder Ordnung herzustellen, damit die Zahl der ankommenden Flüchtlinge sinkt und Integration funktioniert. Der Asylkompromiss der großen Koalition ist mehr Gesichtswahrung als Problemlösung. Frau Merkel sollte stattdessen erstens dem schwedischen Beispiel folgen und öffentlich einräumen, dass wir mit den Zahlen überfordert sind, und die Menschen bitten, sich nicht auf den Weg zu uns machen. Zweitens brauchen wir ein modernes Einwanderungsgesetz. Nicht irgendwann, sondern jetzt.
Finden Sie es nicht irgendwie beeindruckend und fast rührend, wenn eine Megapragmatikerin wie Merkel so eine Art utopische Geste zeigt? Es ist doch verblüffend. Passt das mit Ihrem Merkel-Bild zusammen?
Es ist mindestens das zweite Mal, dass Frau Merkel aus dem Moment heraus reflexartig tiefgreifende Entscheidungen trifft.
Sie meinen nach der Energiewende?
Ja. Das zweite Mal, dass aus der Spontanität des Augenblicks, der Rührung oder Überforderung in der Sekunde Entscheidungen getroffen werden, hinter denen dann jahrelang herregiert wird. Ich wünsche mir an der Spitze unseres Staates Entscheider, die nicht mit Gesinnung, sondern mit Verantwortungsethik handeln. Die also nicht nur das edle Motiv sehen, sondern auch die tatsächlichen Folgen.
Also Seehofer?
Dann eher Schmidt.
Helmut?
Ja.
Gut. Warum?
Weil er beim Deutschen Herbst den Anforderungen an einen Verantwortungsethiker gerecht geworden ist. Ob bei Mogadischu oder Schleyer: Schmidt hat sich nicht überwältigen lassen, sondern Kurs gehalten. Bei den krisenhaften Zuspitzungen, die wir jetzt haben, ist nichts so erforderlich wie zu schauen, was die realen Auswirkungen sind. Und neben dem Herzen auch auf den Kopf zu hören. Deutschland ist in einer Gegenwart der Konjunktur edler Motive. Es gibt einen erschreckenden Mangel an Realismus und nachhaltigen, vernünftigen Strategien. Das mache ich fest in der Euro-Krise. Das dritte Griechenland-Rettungspaket verändert den Charakter hin zu einer Transferunion. Das mache ich fest bei der Marktwirtschaft. Es wird verteilt, Rente mit 63, Bürokratie aufgebaut, als gäbe es kein Morgen. Das mache ich fest bei der Flüchtlingskrise. Wir schaffen das schon, aber keiner sagt wie. Deutschland kann nicht jeden Tag 10.000 Menschen aufnehmen. Keiner sagt was. Wir sonnen uns in der Gegenwart, freuen uns im Spätherbst der Amtszeit Merkel in einer Art wunderbarem, postmodernem Biedermeier, in dem wir leben. Wir haben uns bequem eingerichtet. Aber um uns herum verändert sich alles. Und wir merken nicht, dass uns die Möglichkeiten entgleiten, im nächsten und übernächsten Jahrzehnt unser Schicksal selbst zu bestimmen.
Staatsversagen in der Krise nicht durchgehen lassen
Tausende Deutsche helfen ehrenamtlich, um die Flüchtlinge zu versorgen.
Das ist großartig, und es macht mich stolz zu sehen, was unsere Gesellschaft leistet. Doch sie wird auf Dauer nicht kompensieren können, was die Regierung jetzt falsch macht. Ich wünsche mir eine Politik, die die enormen Möglichkeiten, das Engagement und die Innovationskraft in unserem Land nicht bremst, nicht überstrapaziert, sondern für realistische gesellschaftliche Ziele nutzt. Doch genau das sehe ich nicht. Die Potenziale werden wegen Politikfehlern verschlissen.
Peter Sloterdijk stellte vor sechs Jahren den staatlichen Semi-Sozialismus infrage, der in Deutschland durch Steuern kühl umverteilt. Diese nehmende Hand des Staates könnte auch durch Geschenke der Bürger an die Allgemeinheit ersetzt werden.
„Die schenkende Hand“.
Ist diese „Hilfe in der Not“ bei der Flüchtlingskrise nicht ein wunderbares Zeichen für eine liberale Zivilgesellschaft?
Ja, in dieser Krise steckt diese großartige Botschaft, dass es jenseits des Staates eine Gesellschaft gibt mit Menschen, die aufgeklärt, vernünftig und empathisch sind.
Auch konstruktiv pragmatisch?
Konstruktiv pragmatisch, innovativ und mit großer Zivilcourage. Das ist mein Menschenbild. Deshalb bin ich in einer Partei, die den Raum für Eigeninitiative vergrößern will. Lassen wir doch den praktischen Beleg, dass das funktioniert, zum Anlass nehmen, zu überlegen, in welchen Bereichen wir statt der ständigen Einschränkung von Freiheit durch den Staat wieder zu mehr Freiheit und Eigenverantwortung finden können. Indem wir aus dem überdehnten, unübersichtlichen Wohlfahrtsstaat wieder einen aktivierenden Sozialstaat machen, indem wir die Sozialverwaltungswirtschaft wieder zu einer am Wettbewerbsprinzip orientierten Marktwirtschaft entwickeln. Indem wir den Menschen Zutrauen geben, ihre eigenen Lebensentscheidungen zu treffen. Vom Speiseplan am Donnerstag in der Kantine bis zum selbst festgelegten Eintrittsalter bei der Rente, ohne dass wir die Schablonen von Frau Nahles brauchen. Das ist die wunderbare Pointe dieser schwierigen Lage, in der Millionen Menschen jeden Tag mehr tun als ihre Pflicht, um die Defizite von Politik auszugleichen. Aber man kann falsche Politik auf Dauer nicht fortsetzen, weil wir als Gesellschaft die Fehler schon korrigieren werden. Das ist nicht mein Verständnis von politischer Verantwortung und auch nicht von Zivilgesellschaft. Die beeindruckenden Gesten der Mitmenschlichkeit, die wir haben, darf man nicht in der Weise romantisieren …
Man darf sie nicht ausbeuten.
Man darf sie nicht ausbeuten, indem man dieses fortwährende Staatsversagen in der Flüchtlingskrise durchgehen lässt.
Das Grundgesetz steht im Zentrum
Was müsste man tun, wenn man glaubt, dass die Marktwirtschaft der beste Integrations- und Sozialisationsmotor ist? Was müsste die Bundesregierung an wirtschaftspolitischen Liberalisierungen vornehmen, damit die Integration möglichst vieler dieser jungen und befähigten Menschen stattfindet?
Eine Bemerkung dazu: Nicht jeder, der jetzt als Kriegsflüchtling zu uns kommt, kann und wird auf Dauer bleiben.
Möglichst viele?
Nein, ich würde es anders sagen. Humanitärer Schutz in der Not ist eine Frage der Solidarität. Aber auch das internationale Recht sieht vor, dass man später wieder in die Heimat zurückkehrt, um dort am Aufbau mitzuwirken. Gerade die starken jungen Männer werden dann gebraucht werden, auch mit Qualifikation. Wir sollten die Leute, die qualifiziert und integriert sind, zwar einladen, bei uns zu bleiben. Allerdings mit einem liberalen Einwanderungsgesetz. Zuwanderung nach Deutschland braucht auf Dauer nämlich ein an klaren Kriterien ausgerichtetes Einwanderungsgesetz. Asyl ist kein Ersatz für eine proaktive strategische Zuwanderungspolitik. Was kann jetzt getan werden, um in dieser schwierigen Lage zu integrieren? Dafür muss die Wirtschaft stark bleiben, um ordentlich Steuern zahlen und Arbeitsplätze anbieten zu können. Hier mangelt es an einer Politik, die die Voraussetzungen dafür schafft: durch bezahlbare Energie, durch einen Anschub privater Investitionen, etwa durch die degressive Abschreibung, die vor zehn Jahren von der großen Koalition abgeschafft worden ist. Und es fehlt eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes, damit über flexible Möglichkeiten auch anfangs gering qualifizierte Menschen in Lohn und Brot kommen können.
Wir werden Zuwanderung brauchen. Welche Pfosten müssen im Zentrum einer Einwanderungsrepublik stehen?
Das Grundgesetz. Das ist mehr als simple Spielregel, es ist eine objektive Wertordnung. Sie ergreift Partei für die Freiheit des Einzelnen, für die Gleichheit der Geschlechter, für die Freiheit der Religionsausübung und für die freie Rede. Unsere Verfassung ist eine Wertordnung, die jeden zu Patriotismus einlädt, egal, wo man geboren worden ist oder an welchen Gott man glaubt. Das Problem, das ich sehe, ist, dass wir in Deutschland selbst, was diese Wertordnung angeht, in die Defensive geraten sind. Der Jurist Udo Di Fabio spricht sogar gleich vom „schwankenden Westen“ insgesamt.
Woran machen Sie das fest?
Das Grundgesetz ergreift im Prinzip Partei für Freiheit und Eigentum. Mit mehr Bürokratie und der Erbschaftsteuer unterspülen wir das. Wir haben den Vorrang der Privatheit, der Staat beschließt die Vorratsdatenspeicherung. Wir haben die Religionsfreiheit eines weltanschaulich neutralen Staates, aber manches muslimische Mädchen wird vom öffentlichen Schwimmunterricht freigestellt, weil seine religiösen Gefühle wichtiger sind als die Schulpflicht. Da werden wir dem eigenen Anspruch unserer Verfassung nicht gerecht. Sollten wir aber wieder.
Wir gehen mit unseren Freiheiten zu defensiv um
Okay.
Und es ist doch paradox, dass hier in Berlin „Homeland“ gedreht worden ist. Eine amerikanische Geheimdienstserie – und im Zentrum der gerade laufenden Staffel steht die Zusammenarbeit von BND mit amerikanischen Geheimdiensten. In der amerikanischen Serie haben die Drehbuchautoren der Bundesregierung bei der Verteidigung unserer Bürgerrechte eine toughere Rolle zugeschrieben, als wir es in der Realität beobachten. Und das zeigt doch schon etwas. Wir gehen in vielen Fragen mit unseren Freiheiten zu defensiv, zu verschwenderisch, zu selbstverständlich um. Wir müssen keine Leitkulturdiskussion führen, so im Kreuz zwischen Weißwein und Weihnachtsmarkt, Oktoberfest und Opernhaus – dort fühlen sich nämlich auch viele Deutsche nicht zu Hause, weil unser Land vielfältig geworden ist. Aber das Grundgesetz und die damit verbundene liberale Verfassungskultur sind ein Boden, auf dem alle stehen können: die Hipster aus Neukölln und der Landwirt aus Rheinland-Pfalz.
Mit wem könnte die FDP noch in Zukunft Regierungsbündnisse eingehen?
Von den sozialdemokratischen Parteien, die im Bundestag sitzen, steht die CDU uns in ihren Grundüberzeugungen am nächsten. Wir haben auch wieder einen intensiveren Gesprächskontakt in die SPD. Aber die SPD hat sich in Hamburg entschieden, lieber mit den Grünen als mit den Liberalen zu regieren. Deshalb sehe ich auf absehbare Zeit keine realistische Option auf gemeinsame Arbeit.
Und was ist mit der Union? Gibt es dort wieder genug Gesprächspartner?
Ja, die gibt es. Doch der CDU-Generalsekretär hat zu Recht gesagt, dass eine schwarz-gelbe Mehrheit nicht automatisch zu einer schwarz-gelben Regierung führt. Es ist also möglich, dass es 2017 eine schwarz-gelbe Mehrheit im Parlament gibt, die CDU aber lieber mit den Grünen regiert, weil sie unsere Ideen für ein Deutschland-Update – Bildung, Marktwirtschaft, Bürgerrechte, mehr Vertrauen auf den Einzelnen – nicht teilt. Bei Schwarz-Grün kämen Vater Staat und Mutter Erde zusammen – auf Kosten unserer Freiheit. Opposition dagegen wäre kein Mist, sondern nötig.
Dann wird ein Teil der Wähler sich nach einer Alternative umsehen, Schwarz-Grün ist etwas, was viele CDU-Wähler nicht als große Fantasie haben.
Wer die Freiheit liebt, der ist uns willkommen.
Merkel hat Chaos angerichtet
Mit ihrer Entscheidung, die Dublin-Verordnung für Flüchtlinge aus Syrien praktisch außer Kraft zu setzen, hat die Bundeskanzlerin ein unhaltbares Versprechen gegeben, ist FDP-Chef Christian Lindner überzeugt. "Sie hat den Eindruck erweckt, die Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit seien unendlich. Sie hat dort, wo nichts wichtiger ist als Ordnung und Regeln, Chaos angerichtet. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa", kritisierte er im Interview mit der "Welt" [1]. Er rief den Bund auf, wieder Ordnung herzustellen, damit die Asylbewerberzahlen sinken und Integration funktioniert.
Der aktuelle Asylkompromiss der Großen Koalition sei mehr Gesichtswahrung als Problemlösung, stellte der Freidemokrat klar. "Frau Merkel sollte stattdessen erstens dem schwedischen Beispiel folgen und öffentlich einräumen, dass wir mit den Zahlen überfordert sind, und die Menschen bitten, sich nicht auf den Weg zu uns machen", forderte er.
Lindner gab auch zu bedenken, dass nicht jeder Kriegsflüchtling auf Dauer bleiben könne. "Humanitärer Schutz in der Not ist eine Frage der Solidarität. Aber auch das internationale Recht sieht vor, dass man später wieder in die Heimat zurückkehrt, um dort am Aufbau mitzuwirken", erläuterte er. "Wir sollten die Leute, die qualifiziert und integriert sind, zwar einladen, bei uns zu bleiben", betonte Lindner – aber im Rahmen eines modernen und an klaren Kriterien ausgerichteten Einwanderungsgesetzes. Dieses Gesetz brauche Deutschland "nicht irgendwann, sondern jetzt".
Lesen Sie hier das gesamte Interview.
Wie geht es Ihrem FDP-Projekt im Augenblick?
Uns macht Pionierarbeit Freude. Ein vergleichbares Update hat es bei keiner Partei in Deutschland je gegeben. Wir kommen damit voran. Die neue Richtung stimmt. Aber wir sind nicht am Ziel. Wir haben uns noch viel vorgenommen.
Wie erleben Sie nach Jahren des Spotts die öffentliche Wahrnehmung der Partei? Also im Sinne des Soziologen Niklas Luhmann „die Wahrnehmung der Wahrnehmung“?
Aus Desinteresse wurde Daumendrücken. Uns fehlt aber der Bundestag als Plattform der Debatte. Ich würde sie gerne nutzen, um Frau Merkel zu sagen, was ich von ihrer Flüchtlingspolitik halte: wenig. Und um den Finger in die Wunde zu legen, dass sich niemand im Parlament darüber Gedanken macht, wovon wir eigentlich morgen leben wollen. Wir verschaffen uns aber auch ohne diese Plattform Gehör, wir gehen durch die Säle von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, um den Menschen vor Ort unsere Position für die kommenden Landtagswahlen zu zeigen.
Wie ist es da so?
Ich grabe gerne das Land um. Wir sind alle viel unterwegs und lernen von den Menschen, Betrieben, Schulen und Bürgervereinen, die wir besuchen. Das stärkt die Geländegängigkeit unserer Argumente. Und wenn man die Leute nicht via „Tagesschau“ im Wohnzimmer erreichen kann, dann geht man vor Ort zu ihnen.
Die Umfragen für die FDP gehen nach oben. Es gibt eine neu gewachsene Neugier und ein Interesse der Bürger. Kommt es zu früh?
Mit solchen taktischen Fragen beschäftige ich mich kaum. Wir konzentrieren uns auf die Substanz. Die Partei hat eine Entwicklung durchgemacht, sodass sie jetzt wieder für Bürgerrechtler und Persönlichkeiten aus Mittelstand und Industrie gleichermaßen attraktiv ist. Bürgerrechte, marktwirtschaftliche Überzeugung und Technologieoffenheit – das schmeckt nicht jedem. Der konservative Wirtschaftsknochen stört sich vielleicht an den Bürgerrechtspositionen und der linke Feuilletonist an der Offenheit für Freihandel. Diese Kombination macht aber den Charme der FDP aus.
Den Einzelnen stark machen
Was fehlt der Partei noch?
Wir wollen noch mehr in die Tiefe bohren. Die Digitalisierung ist beispielsweise ein Megatrend, der alles verändern wird. Ich behaupte, dass die Politik ihn weder verstanden noch die nötigen Konsequenzen gezogen hat. Hier wollen wir neue Standards erarbeiten. An diesem Sonntag haben wir dazu einen Kongress in Berlin. Die Investitionen in digitale Infrastruktur und innovative Unternehmen sind angesichts einer zweiten industriellen Revolution in Deutschland bizarr zu niedrig. Warum liberalisieren wir nicht die Möglichkeiten für Versicherungen und Versorgungswerke, dort zu investieren statt nur in Beton? Und es fehlen zeitgemäße Regeln für die Nutzung von Daten und den fairen Wettbewerb mit den großen Plattform-Unternehmen wie Google. Die wollen wir durchdenken.
Aber wird die FDP da schon ernst genommen und gehört?
Mir geht es um die Substanz. Mir geht es noch nicht darum, ob jeder diese Botschaft schon kennt. Das war auch die Pointe des Veränderungsprozesses in unserer Partei. Wir haben am Anfang nicht die Frage gestellt, wie kommt die FDP zurück in den Bundestag. Die erste Frage war, warum wollen wir in den Bundestag? Warum wurde die FDP gegründet? Die Antwort ist, um den Einzelnen stark zu machen – und nicht immer nur den Staat. Wir haben diese Besinnung auf den Einzelnen durchdekliniert. Uns wurde klar, wer über den Einzelnen spricht, der muss heute über Bildung sprechen. Deshalb beginnt damit unser Programm und jede meiner Reden. Bessere Bildung fängt in Deutschland bei den Basics an, dass die Kinder und Jugendlichen nicht mehr auf total marode Toiletten gehen müssen und nicht mehr systematisch Unterricht ausfällt. Und bessere Bildung hört auf beim Tablet, bei digitalen Medien, die wie selbstverständlich im Schulalltag verwendet werden sollten. Damit wir diesem Anspruch gerecht werden, …
Das kostet.
… genau, deshalb müssen wir erkennen, dass Berlin nicht mehr im Wettbewerb mit Baden-Württemberg steht oder Rheinland-Pfalz mit Hamburg. Sondern Deutschland im Wettbewerb mit Nordamerika und China. Deshalb hat die FDP als erste Partei in aller Klarheit gesagt, der Bildungsföderalismus, wie wir ihn heute betreiben, ist eher Teil des Problems als der Lösung. Wir sollten die wichtigste gesellschaftliche Aufgabe, nämlich Bildung, nicht den am wenigsten gut finanzierten Gliedern des Gemeinwesens, also Ländern und Kommunen, überlassen. Sie muss eine gesamtstaatliche Aufgabe werden.
Die Besetzung der Generalsekretärin war sicherlich verknüpft mit der Idee, dass Nicola Beer die Person ist, die das Thema Bildung nach außen trägt. Sind Sie da zufrieden?
Selbstverständlich. Die Stärke der FDP ergibt sich aus einem Team mit unterschiedlichen Persönlichkeiten. Wir wollen eine vielfältige Gesellschaft. Also muss die FDP diese Vielfalt auch selbst ausstrahlen. Da haben wir Nicola Beer mit ihrer großen fachlichen Präzision. Da ist Wolfgang Kubicki, dessen parlamentarische Erfahrung und Lebensfreude für uns unverzichtbar sind. Da ist Volker Wissing als finanzpolitischer Experte, der über die Parteigrenzen anerkannt ist. Und da ist so ein kantiger Typ wie Uli Rülke in Baden-Württemberg. Man kann Rülke nicht ändern. Aber Rülke kann etwas in Baden-Württemberg verändern.
Für ein modernes Einwanderungsgesetz
Sie haben davon gesprochen, was Sie Merkel alles vorhalten würden: ihre Politik zu Flüchtlingen. Was macht Merkel im Augenblick falsch?
Frau Merkel hat das unhaltbare Versprechen gegeben, dass jeder, der ein neues Leben sucht, es in Deutschland finden kann. Sie hat den Eindruck erweckt, die Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit seien unendlich. Sie hat dort, wo nichts wichtiger ist als Ordnung und Regeln, Chaos angerichtet. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Genau das ist jetzt meine Anforderung an die Regierung: wieder Ordnung herzustellen, damit die Zahl der ankommenden Flüchtlinge sinkt und Integration funktioniert. Der Asylkompromiss der großen Koalition ist mehr Gesichtswahrung als Problemlösung. Frau Merkel sollte stattdessen erstens dem schwedischen Beispiel folgen und öffentlich einräumen, dass wir mit den Zahlen überfordert sind, und die Menschen bitten, sich nicht auf den Weg zu uns machen. Zweitens brauchen wir ein modernes Einwanderungsgesetz. Nicht irgendwann, sondern jetzt.
Finden Sie es nicht irgendwie beeindruckend und fast rührend, wenn eine Megapragmatikerin wie Merkel so eine Art utopische Geste zeigt? Es ist doch verblüffend. Passt das mit Ihrem Merkel-Bild zusammen?
Es ist mindestens das zweite Mal, dass Frau Merkel aus dem Moment heraus reflexartig tiefgreifende Entscheidungen trifft.
Sie meinen nach der Energiewende?
Ja. Das zweite Mal, dass aus der Spontanität des Augenblicks, der Rührung oder Überforderung in der Sekunde Entscheidungen getroffen werden, hinter denen dann jahrelang herregiert wird. Ich wünsche mir an der Spitze unseres Staates Entscheider, die nicht mit Gesinnung, sondern mit Verantwortungsethik handeln. Die also nicht nur das edle Motiv sehen, sondern auch die tatsächlichen Folgen.
Also Seehofer?
Dann eher Schmidt.
Helmut?
Ja.
Gut. Warum?
Weil er beim Deutschen Herbst den Anforderungen an einen Verantwortungsethiker gerecht geworden ist. Ob bei Mogadischu oder Schleyer: Schmidt hat sich nicht überwältigen lassen, sondern Kurs gehalten. Bei den krisenhaften Zuspitzungen, die wir jetzt haben, ist nichts so erforderlich wie zu schauen, was die realen Auswirkungen sind. Und neben dem Herzen auch auf den Kopf zu hören. Deutschland ist in einer Gegenwart der Konjunktur edler Motive. Es gibt einen erschreckenden Mangel an Realismus und nachhaltigen, vernünftigen Strategien. Das mache ich fest in der Euro-Krise. Das dritte Griechenland-Rettungspaket verändert den Charakter hin zu einer Transferunion. Das mache ich fest bei der Marktwirtschaft. Es wird verteilt, Rente mit 63, Bürokratie aufgebaut, als gäbe es kein Morgen. Das mache ich fest bei der Flüchtlingskrise. Wir schaffen das schon, aber keiner sagt wie. Deutschland kann nicht jeden Tag 10.000 Menschen aufnehmen. Keiner sagt was. Wir sonnen uns in der Gegenwart, freuen uns im Spätherbst der Amtszeit Merkel in einer Art wunderbarem, postmodernem Biedermeier, in dem wir leben. Wir haben uns bequem eingerichtet. Aber um uns herum verändert sich alles. Und wir merken nicht, dass uns die Möglichkeiten entgleiten, im nächsten und übernächsten Jahrzehnt unser Schicksal selbst zu bestimmen.
Staatsversagen in der Krise nicht durchgehen lassen
Tausende Deutsche helfen ehrenamtlich, um die Flüchtlinge zu versorgen.
Das ist großartig, und es macht mich stolz zu sehen, was unsere Gesellschaft leistet. Doch sie wird auf Dauer nicht kompensieren können, was die Regierung jetzt falsch macht. Ich wünsche mir eine Politik, die die enormen Möglichkeiten, das Engagement und die Innovationskraft in unserem Land nicht bremst, nicht überstrapaziert, sondern für realistische gesellschaftliche Ziele nutzt. Doch genau das sehe ich nicht. Die Potenziale werden wegen Politikfehlern verschlissen.
Peter Sloterdijk stellte vor sechs Jahren den staatlichen Semi-Sozialismus infrage, der in Deutschland durch Steuern kühl umverteilt. Diese nehmende Hand des Staates könnte auch durch Geschenke der Bürger an die Allgemeinheit ersetzt werden.
„Die schenkende Hand“.
Ist diese „Hilfe in der Not“ bei der Flüchtlingskrise nicht ein wunderbares Zeichen für eine liberale Zivilgesellschaft?
Ja, in dieser Krise steckt diese großartige Botschaft, dass es jenseits des Staates eine Gesellschaft gibt mit Menschen, die aufgeklärt, vernünftig und empathisch sind.
Auch konstruktiv pragmatisch?
Konstruktiv pragmatisch, innovativ und mit großer Zivilcourage. Das ist mein Menschenbild. Deshalb bin ich in einer Partei, die den Raum für Eigeninitiative vergrößern will. Lassen wir doch den praktischen Beleg, dass das funktioniert, zum Anlass nehmen, zu überlegen, in welchen Bereichen wir statt der ständigen Einschränkung von Freiheit durch den Staat wieder zu mehr Freiheit und Eigenverantwortung finden können. Indem wir aus dem überdehnten, unübersichtlichen Wohlfahrtsstaat wieder einen aktivierenden Sozialstaat machen, indem wir die Sozialverwaltungswirtschaft wieder zu einer am Wettbewerbsprinzip orientierten Marktwirtschaft entwickeln. Indem wir den Menschen Zutrauen geben, ihre eigenen Lebensentscheidungen zu treffen. Vom Speiseplan am Donnerstag in der Kantine bis zum selbst festgelegten Eintrittsalter bei der Rente, ohne dass wir die Schablonen von Frau Nahles brauchen. Das ist die wunderbare Pointe dieser schwierigen Lage, in der Millionen Menschen jeden Tag mehr tun als ihre Pflicht, um die Defizite von Politik auszugleichen. Aber man kann falsche Politik auf Dauer nicht fortsetzen, weil wir als Gesellschaft die Fehler schon korrigieren werden. Das ist nicht mein Verständnis von politischer Verantwortung und auch nicht von Zivilgesellschaft. Die beeindruckenden Gesten der Mitmenschlichkeit, die wir haben, darf man nicht in der Weise romantisieren …
Man darf sie nicht ausbeuten.
Man darf sie nicht ausbeuten, indem man dieses fortwährende Staatsversagen in der Flüchtlingskrise durchgehen lässt.
Das Grundgesetz steht im Zentrum
Was müsste man tun, wenn man glaubt, dass die Marktwirtschaft der beste Integrations- und Sozialisationsmotor ist? Was müsste die Bundesregierung an wirtschaftspolitischen Liberalisierungen vornehmen, damit die Integration möglichst vieler dieser jungen und befähigten Menschen stattfindet?
Eine Bemerkung dazu: Nicht jeder, der jetzt als Kriegsflüchtling zu uns kommt, kann und wird auf Dauer bleiben.
Möglichst viele?
Nein, ich würde es anders sagen. Humanitärer Schutz in der Not ist eine Frage der Solidarität. Aber auch das internationale Recht sieht vor, dass man später wieder in die Heimat zurückkehrt, um dort am Aufbau mitzuwirken. Gerade die starken jungen Männer werden dann gebraucht werden, auch mit Qualifikation. Wir sollten die Leute, die qualifiziert und integriert sind, zwar einladen, bei uns zu bleiben. Allerdings mit einem liberalen Einwanderungsgesetz. Zuwanderung nach Deutschland braucht auf Dauer nämlich ein an klaren Kriterien ausgerichtetes Einwanderungsgesetz. Asyl ist kein Ersatz für eine proaktive strategische Zuwanderungspolitik. Was kann jetzt getan werden, um in dieser schwierigen Lage zu integrieren? Dafür muss die Wirtschaft stark bleiben, um ordentlich Steuern zahlen und Arbeitsplätze anbieten zu können. Hier mangelt es an einer Politik, die die Voraussetzungen dafür schafft: durch bezahlbare Energie, durch einen Anschub privater Investitionen, etwa durch die degressive Abschreibung, die vor zehn Jahren von der großen Koalition abgeschafft worden ist. Und es fehlt eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes, damit über flexible Möglichkeiten auch anfangs gering qualifizierte Menschen in Lohn und Brot kommen können.
Wir werden Zuwanderung brauchen. Welche Pfosten müssen im Zentrum einer Einwanderungsrepublik stehen?
Das Grundgesetz. Das ist mehr als simple Spielregel, es ist eine objektive Wertordnung. Sie ergreift Partei für die Freiheit des Einzelnen, für die Gleichheit der Geschlechter, für die Freiheit der Religionsausübung und für die freie Rede. Unsere Verfassung ist eine Wertordnung, die jeden zu Patriotismus einlädt, egal, wo man geboren worden ist oder an welchen Gott man glaubt. Das Problem, das ich sehe, ist, dass wir in Deutschland selbst, was diese Wertordnung angeht, in die Defensive geraten sind. Der Jurist Udo Di Fabio spricht sogar gleich vom „schwankenden Westen“ insgesamt.
Woran machen Sie das fest?
Das Grundgesetz ergreift im Prinzip Partei für Freiheit und Eigentum. Mit mehr Bürokratie und der Erbschaftsteuer unterspülen wir das. Wir haben den Vorrang der Privatheit, der Staat beschließt die Vorratsdatenspeicherung. Wir haben die Religionsfreiheit eines weltanschaulich neutralen Staates, aber manches muslimische Mädchen wird vom öffentlichen Schwimmunterricht freigestellt, weil seine religiösen Gefühle wichtiger sind als die Schulpflicht. Da werden wir dem eigenen Anspruch unserer Verfassung nicht gerecht. Sollten wir aber wieder.
Wir gehen mit unseren Freiheiten zu defensiv um
Okay.
Und es ist doch paradox, dass hier in Berlin „Homeland“ gedreht worden ist. Eine amerikanische Geheimdienstserie – und im Zentrum der gerade laufenden Staffel steht die Zusammenarbeit von BND mit amerikanischen Geheimdiensten. In der amerikanischen Serie haben die Drehbuchautoren der Bundesregierung bei der Verteidigung unserer Bürgerrechte eine toughere Rolle zugeschrieben, als wir es in der Realität beobachten. Und das zeigt doch schon etwas. Wir gehen in vielen Fragen mit unseren Freiheiten zu defensiv, zu verschwenderisch, zu selbstverständlich um. Wir müssen keine Leitkulturdiskussion führen, so im Kreuz zwischen Weißwein und Weihnachtsmarkt, Oktoberfest und Opernhaus – dort fühlen sich nämlich auch viele Deutsche nicht zu Hause, weil unser Land vielfältig geworden ist. Aber das Grundgesetz und die damit verbundene liberale Verfassungskultur sind ein Boden, auf dem alle stehen können: die Hipster aus Neukölln und der Landwirt aus Rheinland-Pfalz.
Mit wem könnte die FDP noch in Zukunft Regierungsbündnisse eingehen?
Von den sozialdemokratischen Parteien, die im Bundestag sitzen, steht die CDU uns in ihren Grundüberzeugungen am nächsten. Wir haben auch wieder einen intensiveren Gesprächskontakt in die SPD. Aber die SPD hat sich in Hamburg entschieden, lieber mit den Grünen als mit den Liberalen zu regieren. Deshalb sehe ich auf absehbare Zeit keine realistische Option auf gemeinsame Arbeit.
Und was ist mit der Union? Gibt es dort wieder genug Gesprächspartner?
Ja, die gibt es. Doch der CDU-Generalsekretär hat zu Recht gesagt, dass eine schwarz-gelbe Mehrheit nicht automatisch zu einer schwarz-gelben Regierung führt. Es ist also möglich, dass es 2017 eine schwarz-gelbe Mehrheit im Parlament gibt, die CDU aber lieber mit den Grünen regiert, weil sie unsere Ideen für ein Deutschland-Update – Bildung, Marktwirtschaft, Bürgerrechte, mehr Vertrauen auf den Einzelnen – nicht teilt. Bei Schwarz-Grün kämen Vater Staat und Mutter Erde zusammen – auf Kosten unserer Freiheit. Opposition dagegen wäre kein Mist, sondern nötig.
Dann wird ein Teil der Wähler sich nach einer Alternative umsehen, Schwarz-Grün ist etwas, was viele CDU-Wähler nicht als große Fantasie haben.
Wer die Freiheit liebt, der ist uns willkommen.