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26.10.2015 - 18:30Politik des Durchwinkens kann nicht weitergehen
Auf der Suche nach Antworten in der Flüchtlingsfrage reisen die EU-Regierungschefs von Gipfel zu Gipfel wie Reinhold Messner auf Himalaya-Tour. Beim jüngsten Treffen sind zwar einige Maßnahmen beschlossen worden – am Ende des Tages zählt jedoch, "ob die Beschlüsse auch umgesetzt werden, insbesondere die Warte- und Ruhezonen entlang der Balkanroute", konstatierte Alexander Graf Lambsdorff im "Focus"-Interview . Der Vizepräsident des EU-Parlaments verlangte mehr Solidarität in der Flüchtlingskrise von den EU-Ländern, die bisher blockierten, und warnte: Bei Nichteinhaltung der Vereinbarung zur fairen Verteilung sei der Gang zum Europäischen Gerichtshof möglich.
Angesichts des Verhaltens einiger Regierungen sei er nicht allzu optimistisch, was die Umsetzung der diskutierten Strategien angehe, erläuterte Lambsdorff mit Blick auf das Vorgehen von Ungarn und Kroatien. Trotzdem gelte es, den Maßnahmen eine Chance zu geben. Denn: "Die Politik des bedingungslosen Durchwinkens kann ja nicht weitergehen", unterstrich der Freidemokrat. Lambsdorff verwies auch darauf, dass es einen verbindlichen Beschluss des Ministerrats über die Verteilung von Flüchtlingen gibt. "Nichteinhaltung kann empfindliche Geldstrafen nach sich ziehen", mahnte er.
Auch die Bundeskanzlerin trägt aus seiner Sicht eine Mitschuld am aktuellen Chaos. "Angela Merkel hat in der Vergangenheit ganz bewusst darauf gesetzt, dass nicht die EU die Dinge koordiniert, sondern dass die Nationalstaaten sich im Einzelfall zusammenraufen müssen." In einer angespannten Lage so wie in der Flüchtlingskrise funktioniere dies allerdings nicht. "Das ist ja in etwa so, als wollte man Deutschland ohne Bundesregierung regieren. Dann müssten bei allen schwierigen Problemen alle 16 Ministerpräsidenten zusammengetrommelt werden und sich einigen, und das möglichst im Konsens. Das kann nicht klappen, aber genau das war die Linie der Kanzlerin", kritisierte er.
Lesen Sie hier das gesamte Interview.
Graf Lambsdorff, wie würden Sie die Stimmung in der Europäischen Union vor und nach dem gestrigen Sondergipfel beschreiben?
Die Stimmung vor dem Gipfel war bis auf das Äußerste gespannt, in einigen Ländern nahezu chaotisch. Der Gipfel als solches hat daran nicht viel geändert.
Also hat der Gipfel nichts gebracht?
So kann man das nicht sagen. Aber am Ende des Tages zählt, ob die Beschlüsse auch umgesetzt werden, insbesondere die Warte- und Ruhezonen entlang der Balkanroute.
Und glauben Sie daran, dass das geschieht?
Angesichts des Verhaltens einiger Regierungen in der jüngsten Vergangenheit – insbesondere Ungarn und Kroatiens - bin ich nicht allzu optimistisch. Aber trotzdem sollten wir den Maßnahmen eine Chance geben, denn die Politik des bedingungslosen Durchwinkens kann ja nicht weitergehen.
Die Warnung vor dem Zerfall Europas wird immer lauter – sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel soll sie nun wiederholt haben. Was glauben Sie, wird es so weit kommen?
Die Frage ist zunächst einmal: Welches Europa ist hier gemeint? Das Europa der Institutionen in Brüssel hat in der Flüchtlingskrise vergleichsweise gut funktioniert. Die Kommission hat frühzeitig Vorschläge eingebracht, das Parlament hat Mittel freigegeben. Doch was in der Krise offensichtlich wurde, ist, dass die Mitgliedstaaten, die jahrelang auf der Bremse standen bei der gemeinsamen Asylpolitik, sich jetzt nicht schnell genug auf eine gemeinsame Linie verständigen konnten – deshalb knirscht es gerade gewaltig im Gebälk.
Und führt dieses Knirschen dazu, dass die Balken brechen?
Ich bin Rheinländer und als solcher Optimist – deshalb will ich daran glauben, dass das nicht passieren wird.
Die Strategie der Bundeskanzlerin hat nicht funktioniert
Doch die Tatsache, dass Sie als überzeugter Europa-Politiker nicht sofort Nein sagen, sagt schon einiges aus über den Zustand der Gemeinschaft…
Es ist offensichtlich, dass es in der Flüchtlingskrise eine große Erschütterung gibt. Die Versäumnisse der Vergangenheit holen uns nun dramatisch ein – das ist ein Schock für das System und auch für die Europapolitik der Bundeskanzlerin.
Welche Versäumnisse sind das?
Angela Merkel hat in der Vergangenheit ganz bewusst darauf gesetzt, dass nicht die EU die Dinge koordiniert, sondern dass die Nationalstaaten sich im Einzelfall zusammenraufen müssen – und zwar stets in der Konstellation, die sich gerade anbietet. Jetzt sehen wir alle, dass das in einer angespannten Lage so wie in der Flüchtlingskrise nicht funktioniert. Das ist ja in etwa so, als wollte man Deutschland ohne Bundesregierung regieren. Dann müssten bei allen schwierigen Problemen alle 16 Ministerpräsidenten zusammengetrommelt werden und sich einigen, und das möglichst im Konsens. Das kann nicht klappen, aber genau das war die Linie der Kanzlerin.
Wenn man manche Staats- und Regierungschefs wie den Kroaten Zoran Milanovic oder den Ungarn Viktor Orban reden hört, bekommt man den Eindruck, dass sie glauben, ohne die EU besser dran zu sein.
Keiner von denen, die nun solche Töne von sich geben, zieht allen Ernstes in Betracht, die Europäische Union zu verlassen, einen Zaun um sein Land zu ziehen und zu hoffen, dass das alles an ihm vorbeigeht. Wir sollten in dieser Situation aber auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.
Aber zu mehr Solidarität in der Flüchtlingskrise sind sie eben auch nicht bereit …
…und doch werden auch diese Länder solidarisch sein müssen.
Wie lässt sich das erzwingen?
Die Europäische Union ist nicht nur eine Wertegemeinschaft, sondern auch eine Schicksals-, Solidaritäts- und Rechtsgemeinschaft. Es gibt einen verbindlichen Beschluss über die Verteilung von Flüchtlingen, und an den müssen sich auch die Länder halten, die sich damit schwer tun.
Innen- und Außenpolitik sind nicht mehr zu trennen
In diesem Zusammenhang wird immer wieder erwähnt, dass gerade die Nehmerländer in der EU sich nun in der Flüchtlingsfrage nicht besonders solidarisch verhalten.
Das haben wir Freie Demokraten deutlich kritisiert: Wer bei den Finanzen Solidarität erwartet, muss sie bei anderen Themen auch einmal selber aufbringen.
Aber wie lässt sich diese Solidarität erzwingen?
Bei den Flüchtlingsquoten handelt es sich um einen Beschluss des Ministerrats – bei Nichteinhaltung ist der Gang zum Europäischen Gerichtshof möglich. Nichteinhaltung kann empfindliche Geldstrafen nach sich ziehen.
Und glauben Sie, dass das dem europäischen Gemeinschaftsgefühl zuträglich ist?
Ich hoffe, dass die Erkenntnis, wie schwierig die Lage ist, dazu führt, dass sich alle zusammenraufen und auch zusammenreißen. Das wird nicht ohne Rückschläge gehen und wohl auch nicht ohne starke nationale Tendenzen. Aber langfristig ist mehr Gemeinsamkeit die einzig logische Konsequenz aus der gegenwärtigen Krise.
Wie wird diese Krise die Europäische Union verändern?
Die Flüchtlingskrise zeigt, dass Innen- und Außenpolitik nicht mehr zu trennen sind. Außenpolitische Entscheidungen haben direkte Auswirkungen auf Schwäbisch Gmünd, Castrop-Rauxel oder Wanne-Eickel. Deshalb ist es unausweichlich, dass die Asyl- und Migrationspolitik vergemeinschaftet wird.
Außerdem ist deutlich geworden, dass Europa nicht mehr so tun kann, als sei es eine Insel der Seligen innerhalb eines aufgewühlten Ozeans. Syrien, die Türkei, all das hat direkte Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit bei uns zu Hause. Das ist unbequem und schwierig, aber die Ehrlichkeit gebietet, das klar zu sagen.
Wer heute so tut, als gäbe es einfache Lösungen, sagt nicht die Wahrheit. Und komplizierte Lösungen für große Probleme müssen wir europäisch angehen, da ist jeder einzelne Mitgliedstaat überfordert. Auch wir im starken Deutschland können das ohne die Hilfe unserer Partner nicht alleine stemmen.
Politik des Durchwinkens kann nicht weitergehen
Auf der Suche nach Antworten in der Flüchtlingsfrage reisen die EU-Regierungschefs von Gipfel zu Gipfel wie Reinhold Messner auf Himalaya-Tour. Beim jüngsten Treffen sind zwar einige Maßnahmen beschlossen worden – am Ende des Tages zählt jedoch, "ob die Beschlüsse auch umgesetzt werden, insbesondere die Warte- und Ruhezonen entlang der Balkanroute", konstatierte Alexander Graf Lambsdorff im "Focus"-Interview [1]. Der Vizepräsident des EU-Parlaments verlangte mehr Solidarität in der Flüchtlingskrise von den EU-Ländern, die bisher blockierten, und warnte: Bei Nichteinhaltung der Vereinbarung zur fairen Verteilung sei der Gang zum Europäischen Gerichtshof möglich.
Angesichts des Verhaltens einiger Regierungen sei er nicht allzu optimistisch, was die Umsetzung der diskutierten Strategien angehe, erläuterte Lambsdorff mit Blick auf das Vorgehen von Ungarn und Kroatien. Trotzdem gelte es, den Maßnahmen eine Chance zu geben. Denn: "Die Politik des bedingungslosen Durchwinkens kann ja nicht weitergehen", unterstrich der Freidemokrat. Lambsdorff verwies auch darauf, dass es einen verbindlichen Beschluss des Ministerrats über die Verteilung von Flüchtlingen gibt. "Nichteinhaltung kann empfindliche Geldstrafen nach sich ziehen", mahnte er.
Auch die Bundeskanzlerin trägt aus seiner Sicht eine Mitschuld am aktuellen Chaos. "Angela Merkel hat in der Vergangenheit ganz bewusst darauf gesetzt, dass nicht die EU die Dinge koordiniert, sondern dass die Nationalstaaten sich im Einzelfall zusammenraufen müssen." In einer angespannten Lage so wie in der Flüchtlingskrise funktioniere dies allerdings nicht. "Das ist ja in etwa so, als wollte man Deutschland ohne Bundesregierung regieren. Dann müssten bei allen schwierigen Problemen alle 16 Ministerpräsidenten zusammengetrommelt werden und sich einigen, und das möglichst im Konsens. Das kann nicht klappen, aber genau das war die Linie der Kanzlerin", kritisierte er.
Lesen Sie hier das gesamte Interview.
Graf Lambsdorff, wie würden Sie die Stimmung in der Europäischen Union vor und nach dem gestrigen Sondergipfel beschreiben?
Die Stimmung vor dem Gipfel war bis auf das Äußerste gespannt, in einigen Ländern nahezu chaotisch. Der Gipfel als solches hat daran nicht viel geändert.
Also hat der Gipfel nichts gebracht?
So kann man das nicht sagen. Aber am Ende des Tages zählt, ob die Beschlüsse auch umgesetzt werden, insbesondere die Warte- und Ruhezonen entlang der Balkanroute.
Und glauben Sie daran, dass das geschieht?
Angesichts des Verhaltens einiger Regierungen in der jüngsten Vergangenheit – insbesondere Ungarn und Kroatiens - bin ich nicht allzu optimistisch. Aber trotzdem sollten wir den Maßnahmen eine Chance geben, denn die Politik des bedingungslosen Durchwinkens kann ja nicht weitergehen.
Die Warnung vor dem Zerfall Europas wird immer lauter – sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel soll sie nun wiederholt haben. Was glauben Sie, wird es so weit kommen?
Die Frage ist zunächst einmal: Welches Europa ist hier gemeint? Das Europa der Institutionen in Brüssel hat in der Flüchtlingskrise vergleichsweise gut funktioniert. Die Kommission hat frühzeitig Vorschläge eingebracht, das Parlament hat Mittel freigegeben. Doch was in der Krise offensichtlich wurde, ist, dass die Mitgliedstaaten, die jahrelang auf der Bremse standen bei der gemeinsamen Asylpolitik, sich jetzt nicht schnell genug auf eine gemeinsame Linie verständigen konnten – deshalb knirscht es gerade gewaltig im Gebälk.
Und führt dieses Knirschen dazu, dass die Balken brechen?
Ich bin Rheinländer und als solcher Optimist – deshalb will ich daran glauben, dass das nicht passieren wird.
Die Strategie der Bundeskanzlerin hat nicht funktioniert
Doch die Tatsache, dass Sie als überzeugter Europa-Politiker nicht sofort Nein sagen, sagt schon einiges aus über den Zustand der Gemeinschaft…
Es ist offensichtlich, dass es in der Flüchtlingskrise eine große Erschütterung gibt. Die Versäumnisse der Vergangenheit holen uns nun dramatisch ein – das ist ein Schock für das System und auch für die Europapolitik der Bundeskanzlerin.
Welche Versäumnisse sind das?
Angela Merkel hat in der Vergangenheit ganz bewusst darauf gesetzt, dass nicht die EU die Dinge koordiniert, sondern dass die Nationalstaaten sich im Einzelfall zusammenraufen müssen – und zwar stets in der Konstellation, die sich gerade anbietet. Jetzt sehen wir alle, dass das in einer angespannten Lage so wie in der Flüchtlingskrise nicht funktioniert. Das ist ja in etwa so, als wollte man Deutschland ohne Bundesregierung regieren. Dann müssten bei allen schwierigen Problemen alle 16 Ministerpräsidenten zusammengetrommelt werden und sich einigen, und das möglichst im Konsens. Das kann nicht klappen, aber genau das war die Linie der Kanzlerin.
Wenn man manche Staats- und Regierungschefs wie den Kroaten Zoran Milanovic oder den Ungarn Viktor Orban reden hört, bekommt man den Eindruck, dass sie glauben, ohne die EU besser dran zu sein.
Keiner von denen, die nun solche Töne von sich geben, zieht allen Ernstes in Betracht, die Europäische Union zu verlassen, einen Zaun um sein Land zu ziehen und zu hoffen, dass das alles an ihm vorbeigeht. Wir sollten in dieser Situation aber auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.
Aber zu mehr Solidarität in der Flüchtlingskrise sind sie eben auch nicht bereit …
…und doch werden auch diese Länder solidarisch sein müssen.
Wie lässt sich das erzwingen?
Die Europäische Union ist nicht nur eine Wertegemeinschaft, sondern auch eine Schicksals-, Solidaritäts- und Rechtsgemeinschaft. Es gibt einen verbindlichen Beschluss über die Verteilung von Flüchtlingen, und an den müssen sich auch die Länder halten, die sich damit schwer tun.
Innen- und Außenpolitik sind nicht mehr zu trennen
In diesem Zusammenhang wird immer wieder erwähnt, dass gerade die Nehmerländer in der EU sich nun in der Flüchtlingsfrage nicht besonders solidarisch verhalten.
Das haben wir Freie Demokraten deutlich kritisiert: Wer bei den Finanzen Solidarität erwartet, muss sie bei anderen Themen auch einmal selber aufbringen.
Aber wie lässt sich diese Solidarität erzwingen?
Bei den Flüchtlingsquoten handelt es sich um einen Beschluss des Ministerrats – bei Nichteinhaltung ist der Gang zum Europäischen Gerichtshof möglich. Nichteinhaltung kann empfindliche Geldstrafen nach sich ziehen.
Und glauben Sie, dass das dem europäischen Gemeinschaftsgefühl zuträglich ist?
Ich hoffe, dass die Erkenntnis, wie schwierig die Lage ist, dazu führt, dass sich alle zusammenraufen und auch zusammenreißen. Das wird nicht ohne Rückschläge gehen und wohl auch nicht ohne starke nationale Tendenzen. Aber langfristig ist mehr Gemeinsamkeit die einzig logische Konsequenz aus der gegenwärtigen Krise.
Wie wird diese Krise die Europäische Union verändern?
Die Flüchtlingskrise zeigt, dass Innen- und Außenpolitik nicht mehr zu trennen sind. Außenpolitische Entscheidungen haben direkte Auswirkungen auf Schwäbisch Gmünd, Castrop-Rauxel oder Wanne-Eickel. Deshalb ist es unausweichlich, dass die Asyl- und Migrationspolitik vergemeinschaftet wird.
Außerdem ist deutlich geworden, dass Europa nicht mehr so tun kann, als sei es eine Insel der Seligen innerhalb eines aufgewühlten Ozeans. Syrien, die Türkei, all das hat direkte Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit bei uns zu Hause. Das ist unbequem und schwierig, aber die Ehrlichkeit gebietet, das klar zu sagen.
Wer heute so tut, als gäbe es einfache Lösungen, sagt nicht die Wahrheit. Und komplizierte Lösungen für große Probleme müssen wir europäisch angehen, da ist jeder einzelne Mitgliedstaat überfordert. Auch wir im starken Deutschland können das ohne die Hilfe unserer Partner nicht alleine stemmen.