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24.03.2015 - 11:00Bildung ist der Schlüssel zu mehr Fairness
FDP-Chef Christian Lindner forderte, den Bildungsföderalismus grundsätzlich zu überdenken. Die Modernisierung der Bildung sei ein gesamtstaatliches Projekt, unterstrich Lindner im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Für den Freidemokraten ist das Thema zu wichtig, um es von Wahlen und politischem Kalkül abhängig zu machen. „Bremen steht nicht im Wettbewerb mit Bayern, sondern Deutschland insgesamt im Wettbewerb mit Nordamerika und China“, betonte Lindner.
Eine konkrete Maßnahme, um die Bildungslandschaft in der Bundesrepublik zu vereinheitlichen, könne die Einführung eines Zentralabiturs sein, führte Lindner aus. Darüber hinaus müsste die zeitgemäße Ausstattung der Schulen auf die Agenda gehoben werden: „Vernetzte Schule und Tablet für jeden Schüler erlauben neuen Unterricht und hochindividuelle Förderung. Dieser Wandel findet ohne uns statt, weil 230 Milliarden Euro für die Rente eingesetzt werden.“ Lindner monierte: „Unserem Land fehlt Mut zu grundlegenden Problemlösungen.“
Darüber hinaus sprach Lindner über sein langjähriges Engagement in der Politik, die Stimmung in der Partei sowie die großkoalitionären Pläne zur Vorratsdatenspeicherung.
Christian Lindner im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung"
Frage: Herr Lindner, Sie sind 36 Jahre alt und seit fast 20 Jahren in der Politik. Wieso?
LINDNER: Ich bin damals zu den Liberalen gekommen, weil diese Partei mein Lebensgefühl am besten reflektiert hat. Ich bin mit 18 daheim ausgezogen, habe mein eigenes Geld verdient und wollte ganz eigenverantwortlich leben. Ich finde das so erfüllend: die Hoheit über die eigene Biografie zu haben. Daher wünsche ich das anderen. Deshalb sollte Politik nicht bevormunden, sondern ermöglichen.
Frage: Sie sind der erste Vorsitzende, der eine außerparlamentarische FDP zu führen hat. Ist es schlimmer als erwartet?
LINDNER: Nein, genau so wie erwartet. Jetzt will ich Sie schockieren: Die Arbeit macht Freude.
Frage: Keine Momente der Mutlosigkeit?
LINDNER: Nein. Wissen Sie, die Relevanz einer Partei hängt doch nicht von Umfragen ab, sondern von der Kraft ihrer Idee. Daran haben wir gearbeitet seit Dezember 2013.
Frage: Was hat sich geändert?
LINDNER: Die FDP hat sich selbst befreit: von kleinem Denken und der Ängstlichkeit, was könnte die Süddeutsche Zeitung schreiben. Statt opportunistisch zu sein, haben wir die Dosis Liberalismus erhöht. Dafür kritisiert zu werden, ist doch viel besser als für einen Kurs, von dem man selbst nicht überzeugt ist. Man kann sagen, wir haben unseren archimedischen Punkt wiedergefunden: den Einzelnen und sein Recht, glücklich zu werden. Dafür muss man ihn stark machen. Deshalb unser Einsatz für die weltbeste Bildung. Bei diesem Thema beginnen wir heute unsere liberale Erzählung. Und nicht beim Steuerrecht.
Frage: Welcher FDP kommt die Lindner-FDP nahe: der von 1969, als es in die sozialliberale Koalition ging, oder der von 1983, als die Wirtschaftsliberalen gerade den Wechsel zu Schwarz-Gelb geschafft hatten?
LINDNER: Ich habe das beste Verhältnis zu Gerhart Baum, unserem früheren sozialliberalen Innenminister, und ich verehre Otto Graf Lambsdorff. Wo wollen Sie mich da verorten, bitte schön? Ich kann doch nicht für Freiheit in der Gesellschaft sein, sie in der Wirtschaft aber ablehnen. Mir sind die Portionsliberalen suspekt, die das können. Ich will Vollprogramm.
Frage: Haben Sie ein Ziel, zu dem Sie das Land führen wollen?
LINDNER: Wir leben in einer Zeit, in der der Einzelne klein gemacht wird: bürokratisiert, bevormundet, abkassiert und – mit der Vorratsdatenspeicherung – sogar wieder bespitzelt. Wir wollen dafür sorgen, dass das Individuum groß gemacht wird, und nicht der Staat. Wir erleben gerade eine gigantische Umverteilung: von den Privaten zum Staat, von der Zukunft in die Gegenwart. Der Zins wird künstlich niedrig gehalten, die Finanzminister sparen sich viele Milliarden Euro Kapitaldienst, aber die Altersvorsorge verdunstet in der Sonne. Das will ich beenden, mindestens dadurch, dass der Staat seinen Zinsvorteil an die Bürger zurückgibt. Und zum Beispiel den Soli abschafft. Außerdem haben wir viel zu viel Symbolhaftigkeit in der Politik.
Frage: Was meinen Sie damit?
LINDNER: Deutschland befindet sich, historisch und auch international verglichen, auf einem Hochplateau. Eigentlich müsste es darum gehen: Wie geht's nun weiter? Was steht an? Aber mehr als Symbole bringt die Politik nicht zustande.
Frage: Beispiel?
LINDNER: Frauenquote.
Frage: Wo gab es FDP-Symbolpolitik?
LINDNER: Ich sage Ihnen lieber, was wir besser machen wollen: Wir wollen nicht das Oberflächliche angehen, sondern grundlegende Probleme. In der Wirtschaftspolitik muss man dafür sorgen, dass die Banken nicht länger Staatsanleihen risikolos in ihren Bilanzen halten können – und dass sie in die Insolvenz geschickt werden können, auf Kosten ihrer Eigentümer und Gläubigen. Darum muss sich der Staat kümmern, und nicht jeden Beleg bei der Volksbank in Passau dreimal umdrehen. Und für mehr Fairness heißt der Schlüssel: Bildung. Ich will einen Wettbewerb von Schulen, aber nicht länger von 16 Landesregierungen, die nach jeder Wahl beschließen, jetzt rechtsrum oder linksrum zu gehen.
Frage: Bildungspolitik ist aber praktisch das letzte, das die Landespolitiker noch haben.
LINDNER: Mag ja sein. Die FDP war sehr lange der Lordsiegelbewahrer des Bildungsföderalismus. Aber Bremen steht nicht im Wettbewerb mit Bayern, sondern Deutschland im Wettbewerb mit Nordamerika und China.
Frage: Also ein bundesweites Zentralabitur?
LINDNER: Ah, jetzt suchen Sie Antworten, aus denen Sie Meldungen für die Nachrichtenagenturen machen können.
Frage: Wir wollen es gern plastisch haben.
LINDNER: Ein Zentralabitur halte ich für sinnvoll. Entscheidend ist, dass die Modernisierung der Bildung ein Projekt des Gesamtstaats wird. Vernetzte Schule und ein Tablet für jeden Schüler erlauben neuen Unterricht und hochindividuelle Förderung. Stattdessen werden 230 Milliarden Euro für die Rente eingesetzt. Verstehen Sie, worauf ich hinaus will? Unserem Land fehlt Mut zu grundlegenden Problemlösungen.
Frage: Auf dem Hochplateau, das Sie angesprochen haben, bläst aber auch der Wind. Da suchen die Menschen lieber Schutz als Freiheit. Und manche lehnen vielleicht den Schutz einer Rente mit 63 ab – sie wählen deshalb aber noch lange nicht FDP.
LINDNER: Oder sie nutzen die Rente mit 63, wählen aber trotzdem nicht SPD. Worauf wollen Sie hinaus?
Frage: Dass Unbehagen an Schwarz-Rot noch nicht Sehnsucht nach der FDP bedeutet. Gibt es für Ihre Politik eine Kundschaft?
LINDNER: Wir stellen die FDP methodisch anders auf, als es in Ihrer Frage zum Ausdruck kommt. Wir fragen nicht zuerst nach der Kundschaft. Wir machen ein Angebot. Und ich bin überzeugt, dass es dafür eine beachtliche Nachfrage gibt.
Frage: Sie haben eben die Vorratsdatenspeicherung erwähnt…
LINDNER: … als aktuelles Beispiel. Es geht aber um mehr. Ich will alle Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen, ohne die Souveränität über meine Daten zu verlieren. Freiheitsrechte werden durch den Staat gefährdet, aber auch durch kommerzielle Datensammler. Da liegt die politische Aufgabe. Oder wir haben bald einen Point of no return überschritten, weil dann die Menschen ihr Verhalten verändert haben. Wer annehmen muss, dass das Private ohnehin öffentlich ist und wer daran auch gar nichts auszusetzen hat, der hat sich an diese Form des Totalitarismus ja bereits gewöhnt. Es wäre aber eine eminente Bedrohung der Freiheit, wenn jeder sein privatestes Verhalten selbst zensiert. Es wüchse eine Generation heran, die das gar nicht mehr anders kennt.
Frage: Im EU-Parlament gab es vor einiger Zeit die Forderung, Google zu zerschlagen. Wie finden Sie das?
LINDNER: Man darf es nicht ausschließen. In den USA sind Standard Oil und AT&T entflochten worden, weil sie den Markt beherrscht haben. Der Staat muss für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen, damit auch Newcomer und Außenseiter ihre Chance haben.
Frage: Sind Sie mit der Russland-Politik von Merkel und Steinmeier einverstanden?
LINDNER: Im Prinzip ja. Wer für die Selbstbestimmung der Bürger eintritt, kann nicht akzeptieren, dass ganze Staaten in die Vasallenfunktion gebeugt werden sollen.
Frage: Bei dem Thema gibt es eine Kluft zwischen Bürgern und sogenannten Eliten.
LINDNER: Es gibt immer Gegenkräfte, Verschwörungstheorien und Parteien, die sich das zunutze machen, wie die Linke und die AfD. Ich kann Ihnen nur sagen, wie ich darauf reagiere: indem ich ganz klar ein stehendes Ziel abgebe. Es gibt einfach Fragen, da muss man klar zeigen, wo man steht.
Frage: Sind Sie für die Sanktionspolitik?
LINDNER: Ja. Ökonomische Interessen können nicht so wichtig sein wie die Geltung des Rechts. Wenn wir da nur einmal Rabatt geben, sind ganz schnell die Werte verloren, für die unsere Väter und Großväter gekämpft haben.
Frage: Was sagen Sie den Firmen, die stellvertretend für alle den Preis bezahlen, weil sie Geschäfte nicht mehr machen dürfen?
LINDNER: Hm. (Überlegt.) Ich habe großes Verständnis für die Sorgen. Ich bin dankbar, dass der BDI-Präsident gesagt hat, er bewerte die Einhaltung des Völkerrechts höher als kurzfristigen ökonomischen Erfolg.
Frage: Man könnte eine Firma wie Rheinmetall ja entschädigen, die ein Gefechtsübungszentrum für Russland gebaut hat, nun aber nicht mehr liefern darf.
LINDNER: Ich sehe keinen Anlass für neue Subventionen. Das gehört zum Unternehmerrisiko. Ich wertschätze es, wenn Firmen ins Risiko gehen. Aber der Staat kann ihnen da keinen Vollkaskoschutz gewähren. Ich habe übrigens noch ein Thema, bei dem ich lieber das Ziel abgebe, als Stimmungen nachzugeben.
Frage: Nämlich?
LINDNER: TTIP. Der transatlantische Freihandel bietet uns fantastische Chancen, und zwar nicht nur ökonomische: Wir können dort die Sozial- und Umweltstandards für die globalisierte Welt prägen. Andernfalls machen es andere, zum Beispiel die Chinesen. Außerdem: Die transatlantischen Beziehungen können wieder mehr Schwung gebrauchen. Wo rufen wir denn an, wenn wir humanitäre oder sicherheitspolitische Bedrohungen haben? In Peking? Alle anderen Parteien sagen zu TTIP maximal „Jein“. Ich sage: „Ja, weil.“
Frage: Es ist so, dass fast alle Parteien „Ja“, viele in der Zivilgesellschaft aber „Nein“ rufen.
LINDNER: Wir wollen, dass diese Verhandlungen ein Erfolg werden. Beim Bundeswirtschaftsminister bin ich mir darüber nicht im Klaren.
Frage: Verstehen Sie die Abneigung gegen TTIP?
LINDNER: Da kommt viel zusammen: Desinformation, Antiamerikanismus im Allgemeinen und die angespannten US-Beziehungen im Besonderen, die wir seit dem Irakkrieg haben.
Frage: Und fehlende Transparenz.
LINDNER: Sie wissen, dass es am Ende Parlamente sind, die in öffentlicher Sitzung über die Ratifizierung entscheiden werden.
Frage: Aber vorher ist der Bundestag überhaupt nicht einbezogen.
LINDNER: Sie wollen wegen Befürchtungen Chancen opfern. Dafür habe ich kein Verständnis.
Frage: Wenn Befürchtungen da sind, muss man die Gründe dafür wegverhandeln.
LINDNER: Oder aufklären. Da treffen wir uns.
Frage: Zum Wegverhandeln braucht es Wissen.
LINDNER: Kein Problem mit Transparenz.
Frage: Gerade gab es eine Debatte über den Stinkefinger des griechischen Finanzministers. War das auch ein Beispiel der Symbolhaftigkeit, die Sie eingangs nannten?
LINDNER: Das war symbolisch dafür, wie falsch die Debatte läuft. Vor einigen Jahren war ein chaotischer Grexit die größte Gefahr, heute ist es ein Verbleiben im Euro unter den falschen Bedingungen. Deshalb erwarte ich, dass die Bundesregierung ihr lähmendes Denkverbot überwindet und einen Plan B entwickelt. Ein drittes Hilfspaket im Sommer ist nicht alternativlos. Die eigentliche Frage daneben ist: Was ist mit Frankreich? Dass die EU Frankreich bis 2017 wieder mehr Schulden erlaubt, beschädigt die Autorität von Regeln in einer anderen Dimension als all das, was wir über Griechenland diskutieren.
Frage: Was wäre die Alternative zu der Erlaubnis – angesichts der Arbeitslosigkeit dort?
LINDNER: Reformen, Innovation und Solidität. So haben in Deutschland Millionen Menschen einen neuen Arbeitsplatz gefunden.
Frage: Müssen es denn alle unbedingt so machen wie Deutschland?
LINDNER: Sprechen die Ergebnisse nicht für sich? Weise Tarifpolitik, mehr Flexibilität, Stärkung von privaten Investitionen durch einen bescheidenen Staat – das hat uns in eine außerordentlich gute Lage gebracht. Aber Deutschland selbst fremdelt ja jetzt mit dieser Politik. Dabei ließe sich damit doch werben, statt immer nur Askese zu predigen.
Bildung ist der Schlüssel zu mehr Fairness
FDP-Chef Christian Lindner forderte, den Bildungsföderalismus grundsätzlich zu überdenken. Die Modernisierung der Bildung sei ein gesamtstaatliches Projekt, unterstrich Lindner im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Für den Freidemokraten ist das Thema zu wichtig, um es von Wahlen und politischem Kalkül abhängig zu machen. „Bremen steht nicht im Wettbewerb mit Bayern, sondern Deutschland insgesamt im Wettbewerb mit Nordamerika und China“, betonte Lindner.
Eine konkrete Maßnahme, um die Bildungslandschaft in der Bundesrepublik zu vereinheitlichen, könne die Einführung eines Zentralabiturs sein, führte Lindner aus. Darüber hinaus müsste die zeitgemäße Ausstattung der Schulen auf die Agenda gehoben werden: „Vernetzte Schule und Tablet für jeden Schüler erlauben neuen Unterricht und hochindividuelle Förderung. Dieser Wandel findet ohne uns statt, weil 230 Milliarden Euro für die Rente eingesetzt werden.“ Lindner monierte: „Unserem Land fehlt Mut zu grundlegenden Problemlösungen.“
Darüber hinaus sprach Lindner über sein langjähriges Engagement in der Politik, die Stimmung in der Partei sowie die großkoalitionären Pläne zur Vorratsdatenspeicherung.
Christian Lindner im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung"
Frage: Herr Lindner, Sie sind 36 Jahre alt und seit fast 20 Jahren in der Politik. Wieso?
LINDNER: Ich bin damals zu den Liberalen gekommen, weil diese Partei mein Lebensgefühl am besten reflektiert hat. Ich bin mit 18 daheim ausgezogen, habe mein eigenes Geld verdient und wollte ganz eigenverantwortlich leben. Ich finde das so erfüllend: die Hoheit über die eigene Biografie zu haben. Daher wünsche ich das anderen. Deshalb sollte Politik nicht bevormunden, sondern ermöglichen.
Frage: Sie sind der erste Vorsitzende, der eine außerparlamentarische FDP zu führen hat. Ist es schlimmer als erwartet?
LINDNER: Nein, genau so wie erwartet. Jetzt will ich Sie schockieren: Die Arbeit macht Freude.
Frage: Keine Momente der Mutlosigkeit?
LINDNER: Nein. Wissen Sie, die Relevanz einer Partei hängt doch nicht von Umfragen ab, sondern von der Kraft ihrer Idee. Daran haben wir gearbeitet seit Dezember 2013.
Frage: Was hat sich geändert?
LINDNER: Die FDP hat sich selbst befreit: von kleinem Denken und der Ängstlichkeit, was könnte die Süddeutsche Zeitung schreiben. Statt opportunistisch zu sein, haben wir die Dosis Liberalismus erhöht. Dafür kritisiert zu werden, ist doch viel besser als für einen Kurs, von dem man selbst nicht überzeugt ist. Man kann sagen, wir haben unseren archimedischen Punkt wiedergefunden: den Einzelnen und sein Recht, glücklich zu werden. Dafür muss man ihn stark machen. Deshalb unser Einsatz für die weltbeste Bildung. Bei diesem Thema beginnen wir heute unsere liberale Erzählung. Und nicht beim Steuerrecht.
Frage: Welcher FDP kommt die Lindner-FDP nahe: der von 1969, als es in die sozialliberale Koalition ging, oder der von 1983, als die Wirtschaftsliberalen gerade den Wechsel zu Schwarz-Gelb geschafft hatten?
LINDNER: Ich habe das beste Verhältnis zu Gerhart Baum, unserem früheren sozialliberalen Innenminister, und ich verehre Otto Graf Lambsdorff. Wo wollen Sie mich da verorten, bitte schön? Ich kann doch nicht für Freiheit in der Gesellschaft sein, sie in der Wirtschaft aber ablehnen. Mir sind die Portionsliberalen suspekt, die das können. Ich will Vollprogramm.
Frage: Haben Sie ein Ziel, zu dem Sie das Land führen wollen?
LINDNER: Wir leben in einer Zeit, in der der Einzelne klein gemacht wird: bürokratisiert, bevormundet, abkassiert und – mit der Vorratsdatenspeicherung – sogar wieder bespitzelt. Wir wollen dafür sorgen, dass das Individuum groß gemacht wird, und nicht der Staat. Wir erleben gerade eine gigantische Umverteilung: von den Privaten zum Staat, von der Zukunft in die Gegenwart. Der Zins wird künstlich niedrig gehalten, die Finanzminister sparen sich viele Milliarden Euro Kapitaldienst, aber die Altersvorsorge verdunstet in der Sonne. Das will ich beenden, mindestens dadurch, dass der Staat seinen Zinsvorteil an die Bürger zurückgibt. Und zum Beispiel den Soli abschafft. Außerdem haben wir viel zu viel Symbolhaftigkeit in der Politik.
Frage: Was meinen Sie damit?
LINDNER: Deutschland befindet sich, historisch und auch international verglichen, auf einem Hochplateau. Eigentlich müsste es darum gehen: Wie geht's nun weiter? Was steht an? Aber mehr als Symbole bringt die Politik nicht zustande.
Frage: Beispiel?
LINDNER: Frauenquote.
Frage: Wo gab es FDP-Symbolpolitik?
LINDNER: Ich sage Ihnen lieber, was wir besser machen wollen: Wir wollen nicht das Oberflächliche angehen, sondern grundlegende Probleme. In der Wirtschaftspolitik muss man dafür sorgen, dass die Banken nicht länger Staatsanleihen risikolos in ihren Bilanzen halten können – und dass sie in die Insolvenz geschickt werden können, auf Kosten ihrer Eigentümer und Gläubigen. Darum muss sich der Staat kümmern, und nicht jeden Beleg bei der Volksbank in Passau dreimal umdrehen. Und für mehr Fairness heißt der Schlüssel: Bildung. Ich will einen Wettbewerb von Schulen, aber nicht länger von 16 Landesregierungen, die nach jeder Wahl beschließen, jetzt rechtsrum oder linksrum zu gehen.
Frage: Bildungspolitik ist aber praktisch das letzte, das die Landespolitiker noch haben.
LINDNER: Mag ja sein. Die FDP war sehr lange der Lordsiegelbewahrer des Bildungsföderalismus. Aber Bremen steht nicht im Wettbewerb mit Bayern, sondern Deutschland im Wettbewerb mit Nordamerika und China.
Frage: Also ein bundesweites Zentralabitur?
LINDNER: Ah, jetzt suchen Sie Antworten, aus denen Sie Meldungen für die Nachrichtenagenturen machen können.
Frage: Wir wollen es gern plastisch haben.
LINDNER: Ein Zentralabitur halte ich für sinnvoll. Entscheidend ist, dass die Modernisierung der Bildung ein Projekt des Gesamtstaats wird. Vernetzte Schule und ein Tablet für jeden Schüler erlauben neuen Unterricht und hochindividuelle Förderung. Stattdessen werden 230 Milliarden Euro für die Rente eingesetzt. Verstehen Sie, worauf ich hinaus will? Unserem Land fehlt Mut zu grundlegenden Problemlösungen.
Frage: Auf dem Hochplateau, das Sie angesprochen haben, bläst aber auch der Wind. Da suchen die Menschen lieber Schutz als Freiheit. Und manche lehnen vielleicht den Schutz einer Rente mit 63 ab – sie wählen deshalb aber noch lange nicht FDP.
LINDNER: Oder sie nutzen die Rente mit 63, wählen aber trotzdem nicht SPD. Worauf wollen Sie hinaus?
Frage: Dass Unbehagen an Schwarz-Rot noch nicht Sehnsucht nach der FDP bedeutet. Gibt es für Ihre Politik eine Kundschaft?
LINDNER: Wir stellen die FDP methodisch anders auf, als es in Ihrer Frage zum Ausdruck kommt. Wir fragen nicht zuerst nach der Kundschaft. Wir machen ein Angebot. Und ich bin überzeugt, dass es dafür eine beachtliche Nachfrage gibt.
Frage: Sie haben eben die Vorratsdatenspeicherung erwähnt…
LINDNER: … als aktuelles Beispiel. Es geht aber um mehr. Ich will alle Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen, ohne die Souveränität über meine Daten zu verlieren. Freiheitsrechte werden durch den Staat gefährdet, aber auch durch kommerzielle Datensammler. Da liegt die politische Aufgabe. Oder wir haben bald einen Point of no return überschritten, weil dann die Menschen ihr Verhalten verändert haben. Wer annehmen muss, dass das Private ohnehin öffentlich ist und wer daran auch gar nichts auszusetzen hat, der hat sich an diese Form des Totalitarismus ja bereits gewöhnt. Es wäre aber eine eminente Bedrohung der Freiheit, wenn jeder sein privatestes Verhalten selbst zensiert. Es wüchse eine Generation heran, die das gar nicht mehr anders kennt.
Frage: Im EU-Parlament gab es vor einiger Zeit die Forderung, Google zu zerschlagen. Wie finden Sie das?
LINDNER: Man darf es nicht ausschließen. In den USA sind Standard Oil und AT&T entflochten worden, weil sie den Markt beherrscht haben. Der Staat muss für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen, damit auch Newcomer und Außenseiter ihre Chance haben.
Frage: Sind Sie mit der Russland-Politik von Merkel und Steinmeier einverstanden?
LINDNER: Im Prinzip ja. Wer für die Selbstbestimmung der Bürger eintritt, kann nicht akzeptieren, dass ganze Staaten in die Vasallenfunktion gebeugt werden sollen.
Frage: Bei dem Thema gibt es eine Kluft zwischen Bürgern und sogenannten Eliten.
LINDNER: Es gibt immer Gegenkräfte, Verschwörungstheorien und Parteien, die sich das zunutze machen, wie die Linke und die AfD. Ich kann Ihnen nur sagen, wie ich darauf reagiere: indem ich ganz klar ein stehendes Ziel abgebe. Es gibt einfach Fragen, da muss man klar zeigen, wo man steht.
Frage: Sind Sie für die Sanktionspolitik?
LINDNER: Ja. Ökonomische Interessen können nicht so wichtig sein wie die Geltung des Rechts. Wenn wir da nur einmal Rabatt geben, sind ganz schnell die Werte verloren, für die unsere Väter und Großväter gekämpft haben.
Frage: Was sagen Sie den Firmen, die stellvertretend für alle den Preis bezahlen, weil sie Geschäfte nicht mehr machen dürfen?
LINDNER: Hm. (Überlegt.) Ich habe großes Verständnis für die Sorgen. Ich bin dankbar, dass der BDI-Präsident gesagt hat, er bewerte die Einhaltung des Völkerrechts höher als kurzfristigen ökonomischen Erfolg.
Frage: Man könnte eine Firma wie Rheinmetall ja entschädigen, die ein Gefechtsübungszentrum für Russland gebaut hat, nun aber nicht mehr liefern darf.
LINDNER: Ich sehe keinen Anlass für neue Subventionen. Das gehört zum Unternehmerrisiko. Ich wertschätze es, wenn Firmen ins Risiko gehen. Aber der Staat kann ihnen da keinen Vollkaskoschutz gewähren. Ich habe übrigens noch ein Thema, bei dem ich lieber das Ziel abgebe, als Stimmungen nachzugeben.
Frage: Nämlich?
LINDNER: TTIP. Der transatlantische Freihandel bietet uns fantastische Chancen, und zwar nicht nur ökonomische: Wir können dort die Sozial- und Umweltstandards für die globalisierte Welt prägen. Andernfalls machen es andere, zum Beispiel die Chinesen. Außerdem: Die transatlantischen Beziehungen können wieder mehr Schwung gebrauchen. Wo rufen wir denn an, wenn wir humanitäre oder sicherheitspolitische Bedrohungen haben? In Peking? Alle anderen Parteien sagen zu TTIP maximal „Jein“. Ich sage: „Ja, weil.“
Frage: Es ist so, dass fast alle Parteien „Ja“, viele in der Zivilgesellschaft aber „Nein“ rufen.
LINDNER: Wir wollen, dass diese Verhandlungen ein Erfolg werden. Beim Bundeswirtschaftsminister bin ich mir darüber nicht im Klaren.
Frage: Verstehen Sie die Abneigung gegen TTIP?
LINDNER: Da kommt viel zusammen: Desinformation, Antiamerikanismus im Allgemeinen und die angespannten US-Beziehungen im Besonderen, die wir seit dem Irakkrieg haben.
Frage: Und fehlende Transparenz.
LINDNER: Sie wissen, dass es am Ende Parlamente sind, die in öffentlicher Sitzung über die Ratifizierung entscheiden werden.
Frage: Aber vorher ist der Bundestag überhaupt nicht einbezogen.
LINDNER: Sie wollen wegen Befürchtungen Chancen opfern. Dafür habe ich kein Verständnis.
Frage: Wenn Befürchtungen da sind, muss man die Gründe dafür wegverhandeln.
LINDNER: Oder aufklären. Da treffen wir uns.
Frage: Zum Wegverhandeln braucht es Wissen.
LINDNER: Kein Problem mit Transparenz.
Frage: Gerade gab es eine Debatte über den Stinkefinger des griechischen Finanzministers. War das auch ein Beispiel der Symbolhaftigkeit, die Sie eingangs nannten?
LINDNER: Das war symbolisch dafür, wie falsch die Debatte läuft. Vor einigen Jahren war ein chaotischer Grexit die größte Gefahr, heute ist es ein Verbleiben im Euro unter den falschen Bedingungen. Deshalb erwarte ich, dass die Bundesregierung ihr lähmendes Denkverbot überwindet und einen Plan B entwickelt. Ein drittes Hilfspaket im Sommer ist nicht alternativlos. Die eigentliche Frage daneben ist: Was ist mit Frankreich? Dass die EU Frankreich bis 2017 wieder mehr Schulden erlaubt, beschädigt die Autorität von Regeln in einer anderen Dimension als all das, was wir über Griechenland diskutieren.
Frage: Was wäre die Alternative zu der Erlaubnis – angesichts der Arbeitslosigkeit dort?
LINDNER: Reformen, Innovation und Solidität. So haben in Deutschland Millionen Menschen einen neuen Arbeitsplatz gefunden.
Frage: Müssen es denn alle unbedingt so machen wie Deutschland?
LINDNER: Sprechen die Ergebnisse nicht für sich? Weise Tarifpolitik, mehr Flexibilität, Stärkung von privaten Investitionen durch einen bescheidenen Staat – das hat uns in eine außerordentlich gute Lage gebracht. Aber Deutschland selbst fremdelt ja jetzt mit dieser Politik. Dabei ließe sich damit doch werben, statt immer nur Askese zu predigen.