FDP|
18.03.2014 - 08:00PAQUÉ-Gastbeitrag für das „Handelsblatt“
Berlin. Das FDP-Bundesvorstandsmitglied KARL-HEINZ PAQUÉ schrieb für das „Handelsblatt“ (Dienstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Zu Beginn des letzten Jahrzehnts galt Deutschland als kranker Mann Europas. Hohe Kosten, verkrustete Arbeitsmärkte, zerrüttete Finanzen, stockender Aufbau Ost – das war das Bild, das die Nation abgab. Alles lief schief, so damals die selbstkritische Mehrheitsmeinung in Politik und Gesellschaft. Und siehe da: Das Land bewegte sich. Eine Welle von marktorientierten Reformen, weit mehr noch als nur Hartz IV und die Rente mit 67, gab der deutschen Wirtschaft ein Stück Dynamik zurück. Die Soziale Marktwirtschaft blieb im Kern erhalten, rückte aber ein Stück weg vom europäischen Wohlfahrtsstaat in Richtung des amerikanischen Kapitalismus.
Der Erfolg ist heute zu besichtigen: starke Innovationskraft der Industrie, moderate Lohnkosten, hoher Beschäftigungsstand, gesunde Finanzen, gut gefüllte Sozialkassen. Mit dem Erfolg kam aber auch ein Wandel der Mentalität: aus Selbstkritik wurde Selbstzufriedenheit, aus dem Erkennen der Herausforderungen wurde Realitätsverweigerung. Allein schon die drei zentralen Baustellen der Großen Koalition – Rentenreform, Mindestlohn und Energiepolitik – machen dies überdeutlich.
Das sogenannte Rentenpaket der Bundesregierung ignoriert die bei weitem größte Herausforderung, vor der die Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten steht: ihre Alterung. Diese verlangt die Förderung längerer Lebensarbeitszeiten und nicht kürzerer, wie sie die geplante abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Jahren Beitragszahlung gewährleistet. Und sie fordert Entlastung der Beitragszahler, wo es nur irgendwo geht, und nicht die Ausweitung von Ansprüchen bei der Mütter- und Erwerbsminderungsrente wie vorgesehen. Die Demografie arbeitet massiv gegen die Interessen der künftigen Leistungsträger, und nun tut es auch noch die Politik!
Nicht besser sieht es beim geplanten Mindestlohn von 8,50 Euro je Arbeitsstunde aus. Er wird durch den Staat ein Mindestniveau setzen, das die Tarifpartner in allen Branchen als eine untere Basislinie interpretieren, die man deutlich überschreiten muss, will man als Gewerkschaft oder auch Arbeitgeberverband die jeweiligen Besonderheiten der Branche berücksichtigen. Staat und Tarifparteien werden zu gleichzeitigen Akteuren in der Lohnpolitik. Ein gefährlicher Weg, der an den Grundfesten der Sozialen Marktwirtschaft samt Tarifvertragsgesetz von 1949 rüttelt.
Schließlich die Energiepolitik. Zwar soll das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) auf den Prüfstand, um den scharfen Anstieg der Energiekosten für die privaten Verbraucher ein wenig zu bremsen. Nicht im Blick der Politik ist dagegen die neue Dimension industrieller Standortkonkurrenz, die sich längst weltweit abzeichnet. So schaffen die USA heute mit Spitzentechnik und billiger Energie aus „shale gas“ (Schiefergas) einen machtvollen Wiederaufstieg der Industrie – in frontaler Konkurrenz zu Deutschland. Die Politik verkennt völlig die Tragweite dieses Prozesses.
Hinzu kommt die Abhängigkeit vom russischen Gas – als Ergebnis der überhasteten deutschen Flucht aus Kernkraft, Kohle und Öl. Dies zeigt sich aktuell im russisch-ukrainischen Konflikt. Balten, Polen, Slowaken, Tschechen und Ungarn drängen aus leidvoller Erfahrung auf eine klare geostrategische Antwort auf den russischen Expansionismus an der EU-Ostgrenze. Deutschland wird dabei zum Bremser – durch falsche Energiepolitik! Es ist allerdings nicht nur die Bundesregierung, die es sich in einer Traumwelt gemütlich einrichtet. Es ist auch der Stammtisch der Bürger. Beispiel dafür ist die Haltung zu den Herausforderungen in Europa, allen voran die Skepsis gegenüber den Euro-Rettungsprogrammen. Alle wollen, dass die deutsche Wirtschaft als Exportkraft par excellence und als mächtiger Direktinvestor in den Ländern der Europäischen Union weiter von der Integration des Wirtschaftsraums profitiert. Aber immer weniger wollen, dass Deutschland dafür, soweit nötig, politische und finanzielle Verantwortung übernimmt, denn die hat Kosten – in Form einer gewissen Haftung und einer unbequemen politischen Frontstellung, in der man auch einmal als ungeliebter Apostel von stabilitätsorientierten Reformen beschimpft wird. Kurzum: Wir Deutsche müssen endlich zurück zur Wahrnehmung der Realität – wirtschaftlich, politisch und geostrategisch. Mit Selbstzufriedenheit werden wir schnell wieder zu dem, was wir schon einmal waren: der kranke Mann Europas.
PAQUÉ-Gastbeitrag für das „Handelsblatt“
Berlin. Das FDP-Bundesvorstandsmitglied KARL-HEINZ PAQUÉ schrieb für das „Handelsblatt“ (Dienstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Zu Beginn des letzten Jahrzehnts galt Deutschland als kranker Mann Europas. Hohe Kosten, verkrustete Arbeitsmärkte, zerrüttete Finanzen, stockender Aufbau Ost – das war das Bild, das die Nation abgab. Alles lief schief, so damals die selbstkritische Mehrheitsmeinung in Politik und Gesellschaft. Und siehe da: Das Land bewegte sich. Eine Welle von marktorientierten Reformen, weit mehr noch als nur Hartz IV und die Rente mit 67, gab der deutschen Wirtschaft ein Stück Dynamik zurück. Die Soziale Marktwirtschaft blieb im Kern erhalten, rückte aber ein Stück weg vom europäischen Wohlfahrtsstaat in Richtung des amerikanischen Kapitalismus.
Der Erfolg ist heute zu besichtigen: starke Innovationskraft der Industrie, moderate Lohnkosten, hoher Beschäftigungsstand, gesunde Finanzen, gut gefüllte Sozialkassen. Mit dem Erfolg kam aber auch ein Wandel der Mentalität: aus Selbstkritik wurde Selbstzufriedenheit, aus dem Erkennen der Herausforderungen wurde Realitätsverweigerung. Allein schon die drei zentralen Baustellen der Großen Koalition – Rentenreform, Mindestlohn und Energiepolitik – machen dies überdeutlich.
Das sogenannte Rentenpaket der Bundesregierung ignoriert die bei weitem größte Herausforderung, vor der die Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten steht: ihre Alterung. Diese verlangt die Förderung längerer Lebensarbeitszeiten und nicht kürzerer, wie sie die geplante abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Jahren Beitragszahlung gewährleistet. Und sie fordert Entlastung der Beitragszahler, wo es nur irgendwo geht, und nicht die Ausweitung von Ansprüchen bei der Mütter- und Erwerbsminderungsrente wie vorgesehen. Die Demografie arbeitet massiv gegen die Interessen der künftigen Leistungsträger, und nun tut es auch noch die Politik!
Nicht besser sieht es beim geplanten Mindestlohn von 8,50 Euro je Arbeitsstunde aus. Er wird durch den Staat ein Mindestniveau setzen, das die Tarifpartner in allen Branchen als eine untere Basislinie interpretieren, die man deutlich überschreiten muss, will man als Gewerkschaft oder auch Arbeitgeberverband die jeweiligen Besonderheiten der Branche berücksichtigen. Staat und Tarifparteien werden zu gleichzeitigen Akteuren in der Lohnpolitik. Ein gefährlicher Weg, der an den Grundfesten der Sozialen Marktwirtschaft samt Tarifvertragsgesetz von 1949 rüttelt.
Schließlich die Energiepolitik. Zwar soll das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) auf den Prüfstand, um den scharfen Anstieg der Energiekosten für die privaten Verbraucher ein wenig zu bremsen. Nicht im Blick der Politik ist dagegen die neue Dimension industrieller Standortkonkurrenz, die sich längst weltweit abzeichnet. So schaffen die USA heute mit Spitzentechnik und billiger Energie aus „shale gas“ (Schiefergas) einen machtvollen Wiederaufstieg der Industrie – in frontaler Konkurrenz zu Deutschland. Die Politik verkennt völlig die Tragweite dieses Prozesses.
Hinzu kommt die Abhängigkeit vom russischen Gas – als Ergebnis der überhasteten deutschen Flucht aus Kernkraft, Kohle und Öl. Dies zeigt sich aktuell im russisch-ukrainischen Konflikt. Balten, Polen, Slowaken, Tschechen und Ungarn drängen aus leidvoller Erfahrung auf eine klare geostrategische Antwort auf den russischen Expansionismus an der EU-Ostgrenze. Deutschland wird dabei zum Bremser – durch falsche Energiepolitik! Es ist allerdings nicht nur die Bundesregierung, die es sich in einer Traumwelt gemütlich einrichtet. Es ist auch der Stammtisch der Bürger. Beispiel dafür ist die Haltung zu den Herausforderungen in Europa, allen voran die Skepsis gegenüber den Euro-Rettungsprogrammen. Alle wollen, dass die deutsche Wirtschaft als Exportkraft par excellence und als mächtiger Direktinvestor in den Ländern der Europäischen Union weiter von der Integration des Wirtschaftsraums profitiert. Aber immer weniger wollen, dass Deutschland dafür, soweit nötig, politische und finanzielle Verantwortung übernimmt, denn die hat Kosten – in Form einer gewissen Haftung und einer unbequemen politischen Frontstellung, in der man auch einmal als ungeliebter Apostel von stabilitätsorientierten Reformen beschimpft wird. Kurzum: Wir Deutsche müssen endlich zurück zur Wahrnehmung der Realität – wirtschaftlich, politisch und geostrategisch. Mit Selbstzufriedenheit werden wir schnell wieder zu dem, was wir schon einmal waren: der kranke Mann Europas.