FDP|
04.12.2013 - 09:15LINDNER-Interview für die „Süddeutsche Zeitung/sueddeutsche.de“
Berlin. Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Süddeutschen Zeitung“ und „sueddeutsche.de“ (Mittwoch-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte STEFAN BRAUN:
Frage: Die FDP sitzt nicht mehr im Bundestag. Hat der Wähler falsch gewählt?
LINDNER: Die Niederlage ist ein klares Signal, dass die Wähler in der FDP nicht mehr jene liberale Partei gesehen haben, die sie im Parlament haben wollten. Das ist bitter, aber eine klare Botschaft und Diagnose.
Frage: Was lernen Sie daraus?
LINDNER: Die FDP muss sich als die liberale Partei erneuern, die in der ganzen Bandbreite für die Lebenschancen eines jeden Einzelnen arbeitet. Es schien, als würde sie sich nur noch um einzelne Gruppen oder Interessen kümmern. Wir haben außerdem fachlich nicht mehr überzeugt, insbesondere bei den Aufgaben, die wir zu zentralen Kompetenzen zählen müssen. Ich denke zum Beispiel an die Energiepolitik, wo es nicht gelungen ist, im Interesse aller Stromkunden einen marktwirtschaftlichen Ansatz durchzusetzen. Und die FDP hat in der Art ihres Auftretens abstoßend gewirkt. Durch unsensible Formulierungen und durch falsch gewählte Prioritäten, sodass die Wähler und selbst manches Mitglied einen Neustart erzwingen wollten.
Frage: Die FDP hat nicht nur eine Wahl verloren. Sie ist mit Häme vom Hof gejagt worden. Hat sie sich einen Teil dieser Häme selbst zuzuschreiben?
LINDNER: Die Kritik war teilweise maßlos. Insbesondere, weil diejenigen, die uns so aggressiv kritisiert haben, schon jetzt viel zurückhaltender klingen. Gewiss war dies aber auch eine Reaktion auf unangemessene Äußerungen aus der FDP. Wenn wir gesagt haben, alle Sozialdemokraten sind Sozialisten, dann wird sich nicht nur Klaus von Dohnanyi in Hamburg wundern. Viele werden sich gefragt haben, wie es um die Urteilsfähigkeit der FDP bestellt ist.
Frage: Wie wollen Sie das abstellen?
LINDNER: Ich empfehle uns mehr Souveränität im Auftreten. Das ist nicht Defensive, sondern das Bemühen, dass es bei der Formulierung der eigenen Position und bei der Abgrenzung zu anderen substanziell zugeht.
Frage: Es gab in der FDP führende Politiker, die jedes Abweichen vom kühlen Kurs der Steuersenker als Säusel-Liberalismus diffamierten. Hätten da nicht alle Alarmglocken läuten müssen?
LINDNER: Auch ich habe nichts gegen klare Prioritäten, aber darüber andere gesellschaftliche Fragen auszublenden, war ein offensichtlicher Fehler. Man muss daraus lernen. Übrigens auch, was den Umgang miteinander angeht. Wenn man diejenigen, die innerhalb der eigenen Partei ein anderes Bild von Liberalität haben, diskreditiert, dann hat das noch eine ganz andere, viel schmerzhaftere Wirkung.
Frage: Welche?
LINDNER: Wenn eine Partei miteinander umgeht als seien das alles Ego-Taktiker, dann entsteht der Eindruck, dass diese Partei kalt ist und offensichtlich auch für das Gesellschaftsbild einer Wolfsgemeinschaft, eines Rudels steht. Wer will so leben in einer zivilisierten, liberalen, toleranten, wohlhabenden Gesellschaft? Der Eindruck der Kühle und der mangelnden Sensibilität ist in meinen Augen also nicht mit unseren politischen Positionen verbunden, sondern viel stärker mit der Art und Weise, wie wir miteinander umgegangen sind.
Frage: Guido Westerwelles Worte von der spätrömischen Dekadenz haben viele Menschen als verletzende Provokation empfunden.
LINDNER: Das hat Guido Westerwelle selbst öffentlich bedauert. Unsere liberale Idee ist nicht gegen sozial Schwächere gerichtet. Sie geht im Gegenteil davon aus, dass man sich um jeden Einzelnen bemüht und ihm oder ihr eine echte Chance bieten will. Das ist der Grund, warum wir in der Wirtschaft Ordnungspolitik betreiben, also eine funktionierende Marktwirtschaft haben wollen. Wir sind keine Kapitalisten. Der Kapitalist liebt nicht den Markt und den Wettbewerb. Er will das Monopol, um die größtmöglichen Gewinne zu erzielen. Der Marktwirtschaftler liebt den Wettbewerb, der die Macht Einzelner über viele begrenzt.
Frage: Wo ist da ,,der Einzelne‘‘?
LINDNER: Wenn man vom Einzelnen her denkt, muss man natürlich über die Chancengerechtigkeit in einer Gesellschaft sprechen. Das heißt zum einen ein freier, aber geordneter Markt, der den Einzelnen vor fremder Dominanz schützt. Wenn zum anderen so stark wie heute die Herkunft aus der Familie und damit letztlich der natürliche Zufall entscheidet über die Position, die jemand in der Gesellschaft einnehmen kann, dann ist das für eine Partei der Leistungsgerechtigkeit untragbar. Wenn in manchen Gegenden fast zehn Prozent eines Jahrgangs ohne Schulabschluss bleibt, dann ist das ein Skandal. Das ist nicht nur sozialer Sprengstoff und volkswirtschaftlich eine enorme Belastung für die Zukunft. Es ist auch ethisch nicht vertretbar. Ralf Dahrendorf hat von Bildung als Bürgerrecht gesprochen. Unser Anspruch muss es daran anknüpfend sein, die Voraussetzungen für Freiheit zu schaffen, indem wir alles tun, um jedem eine faire Startchance zu sichern. Das ist für mich die menschenbejahendste Form der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.
Frage: Das kann man nicht ohne Staat, nicht ohne staatliche Bildungs- und Schulpolitik hinbekommen. Wollen Sie mehr staatliche Gelder und Ressourcen investieren?
LINDNER: Wo wir in Verantwortung standen oder stehen, haben wir das getan. Es ist zudem eine Frage der Organisation von Bildung – zu viel Ideologie, zu wenig Pragmatismus. Wir haben erlebt, dass seit vierzig Jahren der Wohlfahrtsstaat in Deutschland enorm viel größer geworden ist und inzwischen ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung beansprucht. Trotzdem gibt es Menschen, die dauerhaft alimentiert werden. Das zeigt: Wir setzen die Gelder falsch ein.
Frage: Wie wäre es richtig?
LINDNER: Je früher wir in Bildungschancen investieren, konkret im Alltag, also in Kitas, Kindergärten, Grundschulen und Schulen, desto besser. Und desto weniger wird man später den Umverteilungsapparat des Staates anschmeißen müssen. Dort, wo heute ergänzende Hilfen für den Lebensunterhalt bezahlt werden, haben wir es meistens mit Menschen zu tun, die eine geringe Qualifikation haben. 1,5 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 25 und 35 haben weder eine Schul- noch eine Berufsausbildung. Da ist doch klar, dass die sich im Niedriglohnbereich bewegen. Auch bei Menschen mit 25 muss viel mehr in die Qualifikation investiert werden. Das hilft mehr als ein starrer gesetzlicher Mindestlohn, der am Ende die Einstiegsjobs gefährden könnte.
Frage: Sie haben auf einem kleinen Parteitag in Niedersachsen erklärt, die Partei müsse vom Fundament aus neu aufgebaut werden. Was ist das Fundament der FDP?
LINDNER: Wir sind keine Honoratiorenpartei mehr. Wir sind eine Partei mit 59 000 Mitgliedern, 5000 kommunalen Mandatsträgern, 104 Abgeordneten in Landtagen und im Europäischen Parlament. Das ist die Basis, die ich mobilisieren will. Von hier aus müssen wir uns neu aufbauen. Mit der Orientierung am Einzelnen, an seiner Freiheit. Das unterscheidet den Liberalen von anderen, die vom Staat oder sozialen Gruppen her denken.
Frage: Die FDP soll nicht mehr die Partei der Apotheker, der Ärzte, der Anwälte, der Architekten sein?
LINDNER: Wenn jemand unsere Überzeugung teilt, also Selbstbestimmtheit und den Wunsch, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, dazu eine Großzügigkeit hat gegenüber anderen Menschen, dann ist doch egal, welcher Einkommensklasse er angehört oder in welcher Berufsgruppe er aktiv ist. Ich glaube, dass ein aktiver Zugang zum eigenen Leben, also etwas bewegen zu wollen und Freude an den Ergebnissen der eigenen Arbeit zu haben, nichts mit dem Erwerbsstatus zu tun hat. Das haben viele Menschen, ob sie Angestellte sind oder selbständig; ob sie viel Geld haben oder wenig. Ob es bei Senioren sind, die sich ehrenamtlich engagieren, oder Jugendliche in Ausbildung, die einfach mehr als ihre Pflicht tun wollen.
Frage: Philipp Rösler hat am vergangenen Wochenende gesagt, ihm seien 4,8 Prozent lieber als 5,1 Prozent, weil man jetzt neu aufbauen könne. Sehen Sie das auch so?
LINDNER: Ich hätte mir gewünscht, dass die FDP weiter im Bundestag vertreten ist. Unsere Niederlage hat viel politische und menschliche Härte gebracht. Aber wir müssen jetzt die Lage, wie sie ist, nutzen. Schon ist eine Lücke sichtbar. Das schreiben selbst unsere Kritiker beim Blick auf die Wirtschaftspolitik oder die Bürgerrechte und die von Schwarz-Rot sofort beschlossene Vorratsdatenspeicherung.
Frage: Das mag Ihnen gefallen. Aber steckt da nicht eine Gefahr drin? So schnell die neue Sympathie nun kommen mag – so schnell wäre sie auch wieder weg.
LINDNER: Absolut. Wir haben zwar den Auftrag, eine andere Politik zu verfolgen als die Große Koalition. Die wahre Opposition sind ja jetzt wir, weil wir für Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit einstehen und die linksgrüne Opposition im Bundestag das so nicht tut. Beschränkten wir uns aber auf ein „Dagegen“, würden wir den eigentlichen Wählerauftrag zur Erneuerung verfehlen.
Frage: Was soll das heißen?
LINDNER: Wir müssen auf die großen Fragen eigene Antworten geben. Erstens müssen wir uns der Aufgabe zuwenden, die Privatheit in Zeiten der totalen Digitalisierung des Alltags zu verteidigen. Neue Grenzen zu ziehen, neue Regeln zu beschreiben. Das hat noch niemand auch nur annähernd getan. Zweitens müssen wir für echte Marktwirtschaft kämpfen. Wir leben in einer Zeit, in der kreditsüchtige Staaten, Finanzindustrie und international tätiger Konzernkapitalismus zusammengewachsen sind. Selbst für große Familienunternehmen wird es in diesem Umfeld immer schwieriger. Das ist eine Verformung der Idee der Marktwirtschaft, weil auf Wettbewerb und Haftung ausgerichtete Regeln kaum mehr gelten. Die Politik konzentriert sich dagegen darauf, viele kleine Fußfesseln im wirtschaftlichen Alltag auszulegen. Drittens müssen wir uns konzeptionell Europa widmen. Wir sind mit großem Enthusiasmus für Europa, weil wir Wohlstand und unseren westlichen Lebensstil verteidigen wollen, aber wir müssen realistischer in der Bestandsaufnahme sein. Wer Europa will, muss es marktwirtschaftlicher, demokratischer und bürgernäher machen. Es besteht die Gefahr, dass eurokritische Bauernfängerparteien wie LePen in Frankreich, UKIP in Großbritannien oder hierzulande die AfD Konjunktur bekommen, weil selbst bürgerliche Wähler den Eindruck haben, dass bestimmte Strukturdefizite Europas von den etablierten Parteien nicht mehr gesehen werden. Das müssen wir verhindern.
Frage: Wo war die FDP nicht realistisch?
LINDNER: Wir haben vor allem unsere langfristigen Ziele nicht verdeutlicht. Seit April 2010 haben wir ordnungspolitisch auch bedenkliche Stabilisierungsmaßnahmen mitgetragen, um Schaden abzuwenden. Das würde ich heute wieder tun, aber dabei das Ziel stärker hervorheben, dass am Ende die finanzpolitische Eigenständigkeit der Euro-Mitgliedsstaaten wiederhergestellt werden muss. Das heißt auch: Rückkehr zu den Regeln des Maastrichtvertrages wie dem no-bail-out, sobald es möglich ist. Jenseits der Währung müssen wir uns viel klarer dazu bekennen, dass es Themen gibt, wo Europa gemeinsam handeln muss, weil es keine Lösung im nationalen Rahmen mehr gibt. Nehmen Sie die Finanzmarktordnung, den Datenschutz oder die Energiepolitik. Andererseits gibt es Bereiche, aus denen Brüssel sich zurückziehen sollte, weil dort die nationalen Parlamente besser entscheiden oder gar nicht regeln wollen. Staubsauger und Frauenquote gehen die EU-Kommission nichts an.
Frage: Auf dem Parteitag der Bayern-FDP hat völlig überraschend ein unbekannter Unternehmer kandidiert und ist prompt Parteichef geworden. Können Sie ausschließen, dass Ihnen das am Samstag passiert?
LINDNER: Nein. Die FDP ist lebendig, es gibt andere Kandidaten. Möge der Parteitag weise entscheiden und der beste gewinnen.
LINDNER-Interview für die „Süddeutsche Zeitung/sueddeutsche.de“
Berlin. Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Süddeutschen Zeitung“ und „sueddeutsche.de“ (Mittwoch-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte STEFAN BRAUN:
Frage: Die FDP sitzt nicht mehr im Bundestag. Hat der Wähler falsch gewählt?
LINDNER: Die Niederlage ist ein klares Signal, dass die Wähler in der FDP nicht mehr jene liberale Partei gesehen haben, die sie im Parlament haben wollten. Das ist bitter, aber eine klare Botschaft und Diagnose.
Frage: Was lernen Sie daraus?
LINDNER: Die FDP muss sich als die liberale Partei erneuern, die in der ganzen Bandbreite für die Lebenschancen eines jeden Einzelnen arbeitet. Es schien, als würde sie sich nur noch um einzelne Gruppen oder Interessen kümmern. Wir haben außerdem fachlich nicht mehr überzeugt, insbesondere bei den Aufgaben, die wir zu zentralen Kompetenzen zählen müssen. Ich denke zum Beispiel an die Energiepolitik, wo es nicht gelungen ist, im Interesse aller Stromkunden einen marktwirtschaftlichen Ansatz durchzusetzen. Und die FDP hat in der Art ihres Auftretens abstoßend gewirkt. Durch unsensible Formulierungen und durch falsch gewählte Prioritäten, sodass die Wähler und selbst manches Mitglied einen Neustart erzwingen wollten.
Frage: Die FDP hat nicht nur eine Wahl verloren. Sie ist mit Häme vom Hof gejagt worden. Hat sie sich einen Teil dieser Häme selbst zuzuschreiben?
LINDNER: Die Kritik war teilweise maßlos. Insbesondere, weil diejenigen, die uns so aggressiv kritisiert haben, schon jetzt viel zurückhaltender klingen. Gewiss war dies aber auch eine Reaktion auf unangemessene Äußerungen aus der FDP. Wenn wir gesagt haben, alle Sozialdemokraten sind Sozialisten, dann wird sich nicht nur Klaus von Dohnanyi in Hamburg wundern. Viele werden sich gefragt haben, wie es um die Urteilsfähigkeit der FDP bestellt ist.
Frage: Wie wollen Sie das abstellen?
LINDNER: Ich empfehle uns mehr Souveränität im Auftreten. Das ist nicht Defensive, sondern das Bemühen, dass es bei der Formulierung der eigenen Position und bei der Abgrenzung zu anderen substanziell zugeht.
Frage: Es gab in der FDP führende Politiker, die jedes Abweichen vom kühlen Kurs der Steuersenker als Säusel-Liberalismus diffamierten. Hätten da nicht alle Alarmglocken läuten müssen?
LINDNER: Auch ich habe nichts gegen klare Prioritäten, aber darüber andere gesellschaftliche Fragen auszublenden, war ein offensichtlicher Fehler. Man muss daraus lernen. Übrigens auch, was den Umgang miteinander angeht. Wenn man diejenigen, die innerhalb der eigenen Partei ein anderes Bild von Liberalität haben, diskreditiert, dann hat das noch eine ganz andere, viel schmerzhaftere Wirkung.
Frage: Welche?
LINDNER: Wenn eine Partei miteinander umgeht als seien das alles Ego-Taktiker, dann entsteht der Eindruck, dass diese Partei kalt ist und offensichtlich auch für das Gesellschaftsbild einer Wolfsgemeinschaft, eines Rudels steht. Wer will so leben in einer zivilisierten, liberalen, toleranten, wohlhabenden Gesellschaft? Der Eindruck der Kühle und der mangelnden Sensibilität ist in meinen Augen also nicht mit unseren politischen Positionen verbunden, sondern viel stärker mit der Art und Weise, wie wir miteinander umgegangen sind.
Frage: Guido Westerwelles Worte von der spätrömischen Dekadenz haben viele Menschen als verletzende Provokation empfunden.
LINDNER: Das hat Guido Westerwelle selbst öffentlich bedauert. Unsere liberale Idee ist nicht gegen sozial Schwächere gerichtet. Sie geht im Gegenteil davon aus, dass man sich um jeden Einzelnen bemüht und ihm oder ihr eine echte Chance bieten will. Das ist der Grund, warum wir in der Wirtschaft Ordnungspolitik betreiben, also eine funktionierende Marktwirtschaft haben wollen. Wir sind keine Kapitalisten. Der Kapitalist liebt nicht den Markt und den Wettbewerb. Er will das Monopol, um die größtmöglichen Gewinne zu erzielen. Der Marktwirtschaftler liebt den Wettbewerb, der die Macht Einzelner über viele begrenzt.
Frage: Wo ist da ,,der Einzelne‘‘?
LINDNER: Wenn man vom Einzelnen her denkt, muss man natürlich über die Chancengerechtigkeit in einer Gesellschaft sprechen. Das heißt zum einen ein freier, aber geordneter Markt, der den Einzelnen vor fremder Dominanz schützt. Wenn zum anderen so stark wie heute die Herkunft aus der Familie und damit letztlich der natürliche Zufall entscheidet über die Position, die jemand in der Gesellschaft einnehmen kann, dann ist das für eine Partei der Leistungsgerechtigkeit untragbar. Wenn in manchen Gegenden fast zehn Prozent eines Jahrgangs ohne Schulabschluss bleibt, dann ist das ein Skandal. Das ist nicht nur sozialer Sprengstoff und volkswirtschaftlich eine enorme Belastung für die Zukunft. Es ist auch ethisch nicht vertretbar. Ralf Dahrendorf hat von Bildung als Bürgerrecht gesprochen. Unser Anspruch muss es daran anknüpfend sein, die Voraussetzungen für Freiheit zu schaffen, indem wir alles tun, um jedem eine faire Startchance zu sichern. Das ist für mich die menschenbejahendste Form der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.
Frage: Das kann man nicht ohne Staat, nicht ohne staatliche Bildungs- und Schulpolitik hinbekommen. Wollen Sie mehr staatliche Gelder und Ressourcen investieren?
LINDNER: Wo wir in Verantwortung standen oder stehen, haben wir das getan. Es ist zudem eine Frage der Organisation von Bildung – zu viel Ideologie, zu wenig Pragmatismus. Wir haben erlebt, dass seit vierzig Jahren der Wohlfahrtsstaat in Deutschland enorm viel größer geworden ist und inzwischen ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung beansprucht. Trotzdem gibt es Menschen, die dauerhaft alimentiert werden. Das zeigt: Wir setzen die Gelder falsch ein.
Frage: Wie wäre es richtig?
LINDNER: Je früher wir in Bildungschancen investieren, konkret im Alltag, also in Kitas, Kindergärten, Grundschulen und Schulen, desto besser. Und desto weniger wird man später den Umverteilungsapparat des Staates anschmeißen müssen. Dort, wo heute ergänzende Hilfen für den Lebensunterhalt bezahlt werden, haben wir es meistens mit Menschen zu tun, die eine geringe Qualifikation haben. 1,5 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 25 und 35 haben weder eine Schul- noch eine Berufsausbildung. Da ist doch klar, dass die sich im Niedriglohnbereich bewegen. Auch bei Menschen mit 25 muss viel mehr in die Qualifikation investiert werden. Das hilft mehr als ein starrer gesetzlicher Mindestlohn, der am Ende die Einstiegsjobs gefährden könnte.
Frage: Sie haben auf einem kleinen Parteitag in Niedersachsen erklärt, die Partei müsse vom Fundament aus neu aufgebaut werden. Was ist das Fundament der FDP?
LINDNER: Wir sind keine Honoratiorenpartei mehr. Wir sind eine Partei mit 59 000 Mitgliedern, 5000 kommunalen Mandatsträgern, 104 Abgeordneten in Landtagen und im Europäischen Parlament. Das ist die Basis, die ich mobilisieren will. Von hier aus müssen wir uns neu aufbauen. Mit der Orientierung am Einzelnen, an seiner Freiheit. Das unterscheidet den Liberalen von anderen, die vom Staat oder sozialen Gruppen her denken.
Frage: Die FDP soll nicht mehr die Partei der Apotheker, der Ärzte, der Anwälte, der Architekten sein?
LINDNER: Wenn jemand unsere Überzeugung teilt, also Selbstbestimmtheit und den Wunsch, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, dazu eine Großzügigkeit hat gegenüber anderen Menschen, dann ist doch egal, welcher Einkommensklasse er angehört oder in welcher Berufsgruppe er aktiv ist. Ich glaube, dass ein aktiver Zugang zum eigenen Leben, also etwas bewegen zu wollen und Freude an den Ergebnissen der eigenen Arbeit zu haben, nichts mit dem Erwerbsstatus zu tun hat. Das haben viele Menschen, ob sie Angestellte sind oder selbständig; ob sie viel Geld haben oder wenig. Ob es bei Senioren sind, die sich ehrenamtlich engagieren, oder Jugendliche in Ausbildung, die einfach mehr als ihre Pflicht tun wollen.
Frage: Philipp Rösler hat am vergangenen Wochenende gesagt, ihm seien 4,8 Prozent lieber als 5,1 Prozent, weil man jetzt neu aufbauen könne. Sehen Sie das auch so?
LINDNER: Ich hätte mir gewünscht, dass die FDP weiter im Bundestag vertreten ist. Unsere Niederlage hat viel politische und menschliche Härte gebracht. Aber wir müssen jetzt die Lage, wie sie ist, nutzen. Schon ist eine Lücke sichtbar. Das schreiben selbst unsere Kritiker beim Blick auf die Wirtschaftspolitik oder die Bürgerrechte und die von Schwarz-Rot sofort beschlossene Vorratsdatenspeicherung.
Frage: Das mag Ihnen gefallen. Aber steckt da nicht eine Gefahr drin? So schnell die neue Sympathie nun kommen mag – so schnell wäre sie auch wieder weg.
LINDNER: Absolut. Wir haben zwar den Auftrag, eine andere Politik zu verfolgen als die Große Koalition. Die wahre Opposition sind ja jetzt wir, weil wir für Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit einstehen und die linksgrüne Opposition im Bundestag das so nicht tut. Beschränkten wir uns aber auf ein „Dagegen“, würden wir den eigentlichen Wählerauftrag zur Erneuerung verfehlen.
Frage: Was soll das heißen?
LINDNER: Wir müssen auf die großen Fragen eigene Antworten geben. Erstens müssen wir uns der Aufgabe zuwenden, die Privatheit in Zeiten der totalen Digitalisierung des Alltags zu verteidigen. Neue Grenzen zu ziehen, neue Regeln zu beschreiben. Das hat noch niemand auch nur annähernd getan. Zweitens müssen wir für echte Marktwirtschaft kämpfen. Wir leben in einer Zeit, in der kreditsüchtige Staaten, Finanzindustrie und international tätiger Konzernkapitalismus zusammengewachsen sind. Selbst für große Familienunternehmen wird es in diesem Umfeld immer schwieriger. Das ist eine Verformung der Idee der Marktwirtschaft, weil auf Wettbewerb und Haftung ausgerichtete Regeln kaum mehr gelten. Die Politik konzentriert sich dagegen darauf, viele kleine Fußfesseln im wirtschaftlichen Alltag auszulegen. Drittens müssen wir uns konzeptionell Europa widmen. Wir sind mit großem Enthusiasmus für Europa, weil wir Wohlstand und unseren westlichen Lebensstil verteidigen wollen, aber wir müssen realistischer in der Bestandsaufnahme sein. Wer Europa will, muss es marktwirtschaftlicher, demokratischer und bürgernäher machen. Es besteht die Gefahr, dass eurokritische Bauernfängerparteien wie LePen in Frankreich, UKIP in Großbritannien oder hierzulande die AfD Konjunktur bekommen, weil selbst bürgerliche Wähler den Eindruck haben, dass bestimmte Strukturdefizite Europas von den etablierten Parteien nicht mehr gesehen werden. Das müssen wir verhindern.
Frage: Wo war die FDP nicht realistisch?
LINDNER: Wir haben vor allem unsere langfristigen Ziele nicht verdeutlicht. Seit April 2010 haben wir ordnungspolitisch auch bedenkliche Stabilisierungsmaßnahmen mitgetragen, um Schaden abzuwenden. Das würde ich heute wieder tun, aber dabei das Ziel stärker hervorheben, dass am Ende die finanzpolitische Eigenständigkeit der Euro-Mitgliedsstaaten wiederhergestellt werden muss. Das heißt auch: Rückkehr zu den Regeln des Maastrichtvertrages wie dem no-bail-out, sobald es möglich ist. Jenseits der Währung müssen wir uns viel klarer dazu bekennen, dass es Themen gibt, wo Europa gemeinsam handeln muss, weil es keine Lösung im nationalen Rahmen mehr gibt. Nehmen Sie die Finanzmarktordnung, den Datenschutz oder die Energiepolitik. Andererseits gibt es Bereiche, aus denen Brüssel sich zurückziehen sollte, weil dort die nationalen Parlamente besser entscheiden oder gar nicht regeln wollen. Staubsauger und Frauenquote gehen die EU-Kommission nichts an.
Frage: Auf dem Parteitag der Bayern-FDP hat völlig überraschend ein unbekannter Unternehmer kandidiert und ist prompt Parteichef geworden. Können Sie ausschließen, dass Ihnen das am Samstag passiert?
LINDNER: Nein. Die FDP ist lebendig, es gibt andere Kandidaten. Möge der Parteitag weise entscheiden und der beste gewinnen.