FDP|
14.08.2013 - 10:45Die digitale Welt braucht einen Ordnungsrahmen
FDP-Vize Lindner zieht aus der Datenspähaffäre Konsequenzen: Im „FAZ“-Gastbeitrag fordert er eine staatliche Agenda zur Zivilisierung des Datenmarkts.
Der Landes- und Fraktionschef der FDP in NRW, Christian Lindner, kritisiert, dass die Debatte um die Datenausspähung durch US-amerikanische und britische Geheimdienste sich in Deutschland nur auf Schuldzuweisungen zwischen den Regierungslagern konzentriert.
Denn eigentlich gehe es gerade jetzt um Fragen, die unser aller Leben zukünftig empfindlich beeinflussen werden. „Es geht um die Gestaltung eines Bereichs, den die Bundeskanzlerin allen besserwisserischen Gegenrufen zum Trotz völlig zu Recht als „Neuland“ bezeichnet hat: den Strukturwandel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Digitalisierung aller Lebensbereiche“, schreibt Lindner. Ihn zu gestalten, um individuelle Freiheit und fairen Wettbewerb zu verteidigen, sei eine der wesentlichen Gestaltungsaufgaben der nächsten Jahre.
Fünf Ansatzpunkte nennt er hierzu in seinem Beitrag: Zum Beispiel sollen Sicherheitspolitiker respektieren, dass kein Zweck jedes Mittel heiligt und das Recht auf Privatheit nicht verhandelbar ist. Ganz klar sei auch, dass die Verfügungsgewalt über Daten bei ihren Besitzern liegen müsse. Lindners zentrale Forderung ist ein Ordnungsrahmen für den Datenmarkt. Die Debatte um staatlichen Missbrauch von Daten durch Geheimdienste sei nicht von der Debatte um das unbeschränkte Treiben privater Datenkonzerne zu trennen, so Lindner. Um dies zu verdeutlichen zieht er den Vergleich zur Situation der Finanzmärkte vor der Krise.
Lesen Sie hier den gesamten Gastbeitrag in der „FAZ“
Christian Lindner
Ordnung für den Datenmarkt - eine erste Agenda
von Christian Lindner
"Die Debatte um PRISM und Tempora, die amerikanischen und britischen Spähprogramme, ist in Deutschland zu einem Gegenstand des politischen Bodenturnens zwischen Regierung und Opposition verkommen. Dabei geht es gerade jetzt um Fragen, die unser aller Leben zukünftig empfindlich beeinflussen werden. Es geht um die Gestaltung eines Bereichs, den die Bundeskanzlerin allen besserwisserischen Gegenrufen zum Trotz völlig zu Recht als „Neuland“ bezeichnet hat: den Strukturwandel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Digitalisierung aller Lebensbereiche. Ihn zu gestalten, um individuelle Freiheit und fairen Wettbewerb zu verteidigen, ist eine der wesentlichen Gestaltungsaufgaben der nächsten Jahre.
Erstens. Die digitale Welt braucht einen Ordnungsrahmen. Die Folgen seines Fehlens an den Kapitalmärkten sind zuletzt bei ihrer noch nicht überwundenen Implosion schmerzlich verdeutlicht worden. Das der Finanzkrise vorausgehende Staatsversagen und die anstehende Debatte über Big Data sind tatsächlich systematischer verbunden, als zunächst scheinen mag.
Zur Erinnerung: Die stagnierende Lebenssituation der amerikanischen Mittelschicht sollte durch die Halluzinationen der Notenbankpolitik des billigen Geldes ("Eigenheim ohne Eigenkapital") vergessen gemacht werden. Exzesse der Kapitalriesen wurden darüber lange in Kauf genommen. Vor allem in Europa hat sich die öffentliche Hand in die Abhängigkeit ihrer Gläubiger begeben, die die Differenz zwischen realem Wohlstand und nur auf Pump zu realisierenden Wohlfahrtsversprechen der Politik schließen sollten. Die Staaten des "Westens" von Washington über Berlin und Athen bis Tokio wurden so erpressbar, weil einzelne Kapitalriesen im Falle ihres Scheiterns mit dem Absturz ganzer Volkswirtschaften und damit auch der Finanzierungsbasis der Staaten drohen konnten. Sozialdemokratische Verschuldungspolitik und neokonservatives Laissez faire haben im Zusammenwirken aus der Marktwirtschaft eine fragile und nervöse "Bastardökonomie" (Gabor Steingart) gemacht, in der die Grenzen zwischen Staat und Privat verwischt wurden. Die Tätigkeit angelsächsischer Nachrichtendienste lässt für das begonnene Zeitalter des "Big Data" bereits vergleichbare Symptome ahnen: Staaten nutzen die monopolistischen Datenriesen des Internets wie Google für Sicherheitspolitik, so wie die Staaten symbiotisch mit den Kapitalriesen für ihre Wohlfahrtspolitik verbunden sind.
Voraussetzung für nachhaltigen Wohlstand und Stabilität ist aber, dass der Rechtsstaat den Markt durch Regeln ordnen kann, weil er nicht selbst ins Getümmel verstrickt ist - dieses Konzept heißt übrigens Neoliberalismus. Der Staat muss also wieder Ordnungsgeber und Wächter des freien und fairen Wettbewerbs sein, statt hier wie dort freiwillig oder unfreiwillig Kollaborateur ökonomischer Machtstrukturen zu werden, die unsere individuelle Freiheit und die Freiheit des Marktes gleichermaßen bedrohen.
Zweitens. Die Sicherheitspolitiker haben zu respektieren, dass kein Zweck jedes Mittel heiligt. Das Recht auf Privatheit ist unser vornehmstes Bürger- und Menschenrecht. In der liberalen Demokratie gewährt nicht der Staat uns Freiheit, sondern wir gestatten dem Staat Einschränkungen unserer Freiheit, wenn und soweit sie verhältnismäßig sind.
Eine breitere Öffentlichkeit - übrigens auch in den Vereinigten Staaten - ist dabei zu erkennen, dass das technisch Mögliche im Informationszeitalter in vielen Fällen das moralisch, politisch und rechtlich Gebotene überschreitet. Denn wo die Interessen von staatlichen und kommerziellen Datensammlern verschmelzen, entsteht die Möglichkeit des totalitären Zugriffs auf jeden Einzelnen. Diese Debatte muss auf globaler Ebene geführt werden. Ein wichtiger Schritt ist, dass Bundesaußenminister Guido Westerwelle und Bundesjustizministern Sabine Leutheusser-Schnarrenberger dieser Tage eine Initiative ergriffen haben, den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte um den Schutz der Privatsphäre im digitalen Zeitalter zu ergänzen. So wie europäische Staaten sich selbst Schuldenregeln unterwerfen mussten, müssen sich demokratische Staaten beim Zugriff auf Daten unbescholtener Bürger selbst beschränken.
Drittens. Die Verfügungsgewalt über Daten muss bei ihren Besitzen liegen: den Bürgerinnen und Bürgern.
Wer ein Mobiltelefon benutzt, wer in den Sozialen Netzwerken postet, wer eine Kreditkarte verwendet, wer online bestellt, wer eine Kundenkarte nutzt, der gibt Informationen preis – oft ohne es zu bemerken. 2,5 Quintillionen Bytes – das, so schätzt IBM, ist die Menge an neuen Daten, die wir tagtäglich generieren. Daten sind die neue Leitwährung – sie bewegen Märkte und Menschen. Ihre systematische Nutzung hat das Potenzial für zivilisatorischen Fortschritt. Die passende Werbung neben unserer Google-Suche ist dabei die trivialste Anwendung. Denn Big Data offenbart darüber hinaus bislang unerkannte Zusammenhänge, die beispielsweise wirtschaftliches Handeln effizienter, Therapien in der Medizin wirksamer und am Ende den Alltag komfortabler machen können. Nur, wo sind die Grenzen? Heute bewirbt eine amerikanische Supermarktkette bei Frauen bereits Schwangerschaftsprodukte, sobald das Unternehmen die Schwangerschaft aus Veränderungen im Kaufverhalten per Kreditkartenabrechnung statistisch herleiten kann. Ein amerikanischer Telekommunikationskonzern hat sich laut Medienberichten ein System patentieren lassen, das Facebook-Einträge daraufhin auswertet, ob sich Paare streiten oder frisch verliebt sind – um passgenau entweder Anzeigen für Paartherapie oder für romantische Wochenendtrips zu schalten. Was morgen folgt, ist offen: Können abstrakte Korrelationen oder statische Nebensächlichkeiten darüber entscheiden, ob der Einzelne einen Arbeitsplatz, einen Versicherungsvertrag oder einen Immobilienkredit erhält – weil das automatische Rating wichtiger wird als das reale Individuum? Wird unser Leben sublim in Schablonen gezwungen, weil wir beispielsweise lernen müssen, dass viele Postings über Sportaktivitäten bei Facebook zu günstigeren Tarifen bei der Krankenversicherung führen?
Big Data ist ambivalent. Es kann zu Fortschritt führen – oder eine eminente Freiheitsbedrohung werden. Jede Sammlung von Daten zu verbieten, wäre naiv. Nötig werden aber neue Regeln für die Auswertung und Anwendung von Daten, die Missbrauch beschränken. Eine Lehre der Finanzkrise ist, dass sich systemrelevante Kapitalmarktakteure Regeln beugen und öffentlicher Finanzaufsicht öffnen müssen. Wenn es im Internet Quasi-Monopolanbieter gibt, die wie Google nahezu den Charakter von Infrastruktur gewinnen, brauchen auch sie Datenaufsicht: welche Algorithmen werden zu welchem Zweck verwendet? Wer speichert was und wie lange? Und da unsere Daten unser Eigentum sind, müssen wir darüber auch individuell Auskunft verlangen und rechtlich gesichert darüber verfügen können.
Viertens. Die digitalen Märkte müssen für neue Player offen bleiben. Denn Wettbewerb bricht Macht. Vor zwanzig Jahren fürchtete mancher die Dominanz von Microsoft und bewunderte später den Erfolg von Nokia - dann kamen Apple und die Neugründungen Google, Facebook, Amazon. In der jetzigen Evolutionsstufe elektronischer Medien mögen sie führend sein. Für die nächste ist das nicht garantiert. Nichts ist für die Großen gefährlicher als innovative Start-up’s, die technologisch überlegen sind - die den besseren Algorithmus nutzen. Der staatliche Ordnungsgeber muss also der Außenseiterkonkurrenz einen diskriminierungsfreien Zugang zu den Online-Märkten und Foren offen halten (Netzneutralität). Kartellbehörden werden zu prüfen haben, ob ein marktbeherrschendes Unternehmen nicht entflochten werden muss, um wieder faire Bedingungen für alle zu schaffen. Den Ideen beispielsweise von einer gemeinnützigen oder genossenschaftlichen Google-Alternative, die kaum je konkurrenzfähig und damit von den Nutzern akzeptiert wäre, sollten wir in Deutschland und Europa allerdings nicht nachhängen. Die Bedingungen für Forschung und Unternehmensgründungen in der Informationstechnologie zu verbessern, wie Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler es sich stattdessen zum Ziel gemacht hat, verspricht größere Chancen. Insbesondere die private Finanzierung von Wachstum nach den ersten Schritten der Unternehmensgründung ist in Europa und zumal in Deutschland unverändert eine Herausforderung. Die aktuell gewachsene Sensibilität für Datensicherheit ist jedoch im Wettbewerb mit den USA geradezu eine Einladung an europäische Anbieter.
Fünftens. Freiheit braucht mehr Selbstbewusstsein, denn sie ist ein zutiefst analoges Konzept: Es setzt auf den mündigen Bürger, der eigenverantwortlich aktiv wird und das Anwachsen seines persönlichen Datenbestandes durch Selbstdatenschutz begrenzt. Die Resignation einer Post-Privacy-Mentalität würde dem bürgerlichen Emanzipationsgedanken widersprechen. Die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Umgang mit unseren Daten kann in einer Informationsgesellschaft auch nicht der Totalverzicht auf Fortschritt sein. Vielmehr muss gelten: Wer seine Werte in der analogen Welt in den Safe einschließt, der muss sich auch online sichere Räume schaffen können. Es gibt bereits eine wachsende Anzahl von Nutzern, die das Internet als öffentlichen Raum begriffen haben und auf Vertraulichkeit achten – sie wissen, dass die E-Mail sonst eine Postkarte ist und dass bei der Online-Transaktion preisgegebene Daten für andere von Wert sind.
Die wichtigste Konsequenz der aktuellen Debatte sollte also das gewachsene Bewusstsein für den Wert von Freiheit und Privatheit sein. Und sie zu verteidigen, erfordert eine digitale Agenda der liberalen Ordnungspolitik."
Die digitale Welt braucht einen Ordnungsrahmen
FDP-Vize Lindner zieht aus der Datenspähaffäre Konsequenzen: Im „FAZ“-Gastbeitrag fordert er eine staatliche Agenda zur Zivilisierung des Datenmarkts.
Der Landes- und Fraktionschef der FDP in NRW, Christian Lindner, kritisiert, dass die Debatte um die Datenausspähung durch US-amerikanische und britische Geheimdienste sich in Deutschland nur auf Schuldzuweisungen zwischen den Regierungslagern konzentriert.
Denn eigentlich gehe es gerade jetzt um Fragen, die unser aller Leben zukünftig empfindlich beeinflussen werden. „Es geht um die Gestaltung eines Bereichs, den die Bundeskanzlerin allen besserwisserischen Gegenrufen zum Trotz völlig zu Recht als „Neuland“ bezeichnet hat: den Strukturwandel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Digitalisierung aller Lebensbereiche“, schreibt Lindner. Ihn zu gestalten, um individuelle Freiheit und fairen Wettbewerb zu verteidigen, sei eine der wesentlichen Gestaltungsaufgaben der nächsten Jahre.
Fünf Ansatzpunkte nennt er hierzu in seinem Beitrag: Zum Beispiel sollen Sicherheitspolitiker respektieren, dass kein Zweck jedes Mittel heiligt und das Recht auf Privatheit nicht verhandelbar ist. Ganz klar sei auch, dass die Verfügungsgewalt über Daten bei ihren Besitzern liegen müsse. Lindners zentrale Forderung ist ein Ordnungsrahmen für den Datenmarkt. Die Debatte um staatlichen Missbrauch von Daten durch Geheimdienste sei nicht von der Debatte um das unbeschränkte Treiben privater Datenkonzerne zu trennen, so Lindner. Um dies zu verdeutlichen zieht er den Vergleich zur Situation der Finanzmärkte vor der Krise.
Lesen Sie hier den gesamten Gastbeitrag in der „FAZ“
Christian Lindner
Ordnung für den Datenmarkt - eine erste Agenda
von Christian Lindner
"Die Debatte um PRISM und Tempora, die amerikanischen und britischen Spähprogramme, ist in Deutschland zu einem Gegenstand des politischen Bodenturnens zwischen Regierung und Opposition verkommen. Dabei geht es gerade jetzt um Fragen, die unser aller Leben zukünftig empfindlich beeinflussen werden. Es geht um die Gestaltung eines Bereichs, den die Bundeskanzlerin allen besserwisserischen Gegenrufen zum Trotz völlig zu Recht als „Neuland“ bezeichnet hat: den Strukturwandel von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Digitalisierung aller Lebensbereiche. Ihn zu gestalten, um individuelle Freiheit und fairen Wettbewerb zu verteidigen, ist eine der wesentlichen Gestaltungsaufgaben der nächsten Jahre.
Erstens. Die digitale Welt braucht einen Ordnungsrahmen. Die Folgen seines Fehlens an den Kapitalmärkten sind zuletzt bei ihrer noch nicht überwundenen Implosion schmerzlich verdeutlicht worden. Das der Finanzkrise vorausgehende Staatsversagen und die anstehende Debatte über Big Data sind tatsächlich systematischer verbunden, als zunächst scheinen mag.
Zur Erinnerung: Die stagnierende Lebenssituation der amerikanischen Mittelschicht sollte durch die Halluzinationen der Notenbankpolitik des billigen Geldes ("Eigenheim ohne Eigenkapital") vergessen gemacht werden. Exzesse der Kapitalriesen wurden darüber lange in Kauf genommen. Vor allem in Europa hat sich die öffentliche Hand in die Abhängigkeit ihrer Gläubiger begeben, die die Differenz zwischen realem Wohlstand und nur auf Pump zu realisierenden Wohlfahrtsversprechen der Politik schließen sollten. Die Staaten des "Westens" von Washington über Berlin und Athen bis Tokio wurden so erpressbar, weil einzelne Kapitalriesen im Falle ihres Scheiterns mit dem Absturz ganzer Volkswirtschaften und damit auch der Finanzierungsbasis der Staaten drohen konnten. Sozialdemokratische Verschuldungspolitik und neokonservatives Laissez faire haben im Zusammenwirken aus der Marktwirtschaft eine fragile und nervöse "Bastardökonomie" (Gabor Steingart) gemacht, in der die Grenzen zwischen Staat und Privat verwischt wurden. Die Tätigkeit angelsächsischer Nachrichtendienste lässt für das begonnene Zeitalter des "Big Data" bereits vergleichbare Symptome ahnen: Staaten nutzen die monopolistischen Datenriesen des Internets wie Google für Sicherheitspolitik, so wie die Staaten symbiotisch mit den Kapitalriesen für ihre Wohlfahrtspolitik verbunden sind.
Voraussetzung für nachhaltigen Wohlstand und Stabilität ist aber, dass der Rechtsstaat den Markt durch Regeln ordnen kann, weil er nicht selbst ins Getümmel verstrickt ist - dieses Konzept heißt übrigens Neoliberalismus. Der Staat muss also wieder Ordnungsgeber und Wächter des freien und fairen Wettbewerbs sein, statt hier wie dort freiwillig oder unfreiwillig Kollaborateur ökonomischer Machtstrukturen zu werden, die unsere individuelle Freiheit und die Freiheit des Marktes gleichermaßen bedrohen.
Zweitens. Die Sicherheitspolitiker haben zu respektieren, dass kein Zweck jedes Mittel heiligt. Das Recht auf Privatheit ist unser vornehmstes Bürger- und Menschenrecht. In der liberalen Demokratie gewährt nicht der Staat uns Freiheit, sondern wir gestatten dem Staat Einschränkungen unserer Freiheit, wenn und soweit sie verhältnismäßig sind.
Eine breitere Öffentlichkeit - übrigens auch in den Vereinigten Staaten - ist dabei zu erkennen, dass das technisch Mögliche im Informationszeitalter in vielen Fällen das moralisch, politisch und rechtlich Gebotene überschreitet. Denn wo die Interessen von staatlichen und kommerziellen Datensammlern verschmelzen, entsteht die Möglichkeit des totalitären Zugriffs auf jeden Einzelnen. Diese Debatte muss auf globaler Ebene geführt werden. Ein wichtiger Schritt ist, dass Bundesaußenminister Guido Westerwelle und Bundesjustizministern Sabine Leutheusser-Schnarrenberger dieser Tage eine Initiative ergriffen haben, den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte um den Schutz der Privatsphäre im digitalen Zeitalter zu ergänzen. So wie europäische Staaten sich selbst Schuldenregeln unterwerfen mussten, müssen sich demokratische Staaten beim Zugriff auf Daten unbescholtener Bürger selbst beschränken.
Drittens. Die Verfügungsgewalt über Daten muss bei ihren Besitzen liegen: den Bürgerinnen und Bürgern.
Wer ein Mobiltelefon benutzt, wer in den Sozialen Netzwerken postet, wer eine Kreditkarte verwendet, wer online bestellt, wer eine Kundenkarte nutzt, der gibt Informationen preis – oft ohne es zu bemerken. 2,5 Quintillionen Bytes – das, so schätzt IBM, ist die Menge an neuen Daten, die wir tagtäglich generieren. Daten sind die neue Leitwährung – sie bewegen Märkte und Menschen. Ihre systematische Nutzung hat das Potenzial für zivilisatorischen Fortschritt. Die passende Werbung neben unserer Google-Suche ist dabei die trivialste Anwendung. Denn Big Data offenbart darüber hinaus bislang unerkannte Zusammenhänge, die beispielsweise wirtschaftliches Handeln effizienter, Therapien in der Medizin wirksamer und am Ende den Alltag komfortabler machen können. Nur, wo sind die Grenzen? Heute bewirbt eine amerikanische Supermarktkette bei Frauen bereits Schwangerschaftsprodukte, sobald das Unternehmen die Schwangerschaft aus Veränderungen im Kaufverhalten per Kreditkartenabrechnung statistisch herleiten kann. Ein amerikanischer Telekommunikationskonzern hat sich laut Medienberichten ein System patentieren lassen, das Facebook-Einträge daraufhin auswertet, ob sich Paare streiten oder frisch verliebt sind – um passgenau entweder Anzeigen für Paartherapie oder für romantische Wochenendtrips zu schalten. Was morgen folgt, ist offen: Können abstrakte Korrelationen oder statische Nebensächlichkeiten darüber entscheiden, ob der Einzelne einen Arbeitsplatz, einen Versicherungsvertrag oder einen Immobilienkredit erhält – weil das automatische Rating wichtiger wird als das reale Individuum? Wird unser Leben sublim in Schablonen gezwungen, weil wir beispielsweise lernen müssen, dass viele Postings über Sportaktivitäten bei Facebook zu günstigeren Tarifen bei der Krankenversicherung führen?
Big Data ist ambivalent. Es kann zu Fortschritt führen – oder eine eminente Freiheitsbedrohung werden. Jede Sammlung von Daten zu verbieten, wäre naiv. Nötig werden aber neue Regeln für die Auswertung und Anwendung von Daten, die Missbrauch beschränken. Eine Lehre der Finanzkrise ist, dass sich systemrelevante Kapitalmarktakteure Regeln beugen und öffentlicher Finanzaufsicht öffnen müssen. Wenn es im Internet Quasi-Monopolanbieter gibt, die wie Google nahezu den Charakter von Infrastruktur gewinnen, brauchen auch sie Datenaufsicht: welche Algorithmen werden zu welchem Zweck verwendet? Wer speichert was und wie lange? Und da unsere Daten unser Eigentum sind, müssen wir darüber auch individuell Auskunft verlangen und rechtlich gesichert darüber verfügen können.
Viertens. Die digitalen Märkte müssen für neue Player offen bleiben. Denn Wettbewerb bricht Macht. Vor zwanzig Jahren fürchtete mancher die Dominanz von Microsoft und bewunderte später den Erfolg von Nokia - dann kamen Apple und die Neugründungen Google, Facebook, Amazon. In der jetzigen Evolutionsstufe elektronischer Medien mögen sie führend sein. Für die nächste ist das nicht garantiert. Nichts ist für die Großen gefährlicher als innovative Start-up’s, die technologisch überlegen sind - die den besseren Algorithmus nutzen. Der staatliche Ordnungsgeber muss also der Außenseiterkonkurrenz einen diskriminierungsfreien Zugang zu den Online-Märkten und Foren offen halten (Netzneutralität). Kartellbehörden werden zu prüfen haben, ob ein marktbeherrschendes Unternehmen nicht entflochten werden muss, um wieder faire Bedingungen für alle zu schaffen. Den Ideen beispielsweise von einer gemeinnützigen oder genossenschaftlichen Google-Alternative, die kaum je konkurrenzfähig und damit von den Nutzern akzeptiert wäre, sollten wir in Deutschland und Europa allerdings nicht nachhängen. Die Bedingungen für Forschung und Unternehmensgründungen in der Informationstechnologie zu verbessern, wie Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler es sich stattdessen zum Ziel gemacht hat, verspricht größere Chancen. Insbesondere die private Finanzierung von Wachstum nach den ersten Schritten der Unternehmensgründung ist in Europa und zumal in Deutschland unverändert eine Herausforderung. Die aktuell gewachsene Sensibilität für Datensicherheit ist jedoch im Wettbewerb mit den USA geradezu eine Einladung an europäische Anbieter.
Fünftens. Freiheit braucht mehr Selbstbewusstsein, denn sie ist ein zutiefst analoges Konzept: Es setzt auf den mündigen Bürger, der eigenverantwortlich aktiv wird und das Anwachsen seines persönlichen Datenbestandes durch Selbstdatenschutz begrenzt. Die Resignation einer Post-Privacy-Mentalität würde dem bürgerlichen Emanzipationsgedanken widersprechen. Die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Umgang mit unseren Daten kann in einer Informationsgesellschaft auch nicht der Totalverzicht auf Fortschritt sein. Vielmehr muss gelten: Wer seine Werte in der analogen Welt in den Safe einschließt, der muss sich auch online sichere Räume schaffen können. Es gibt bereits eine wachsende Anzahl von Nutzern, die das Internet als öffentlichen Raum begriffen haben und auf Vertraulichkeit achten – sie wissen, dass die E-Mail sonst eine Postkarte ist und dass bei der Online-Transaktion preisgegebene Daten für andere von Wert sind.
Die wichtigste Konsequenz der aktuellen Debatte sollte also das gewachsene Bewusstsein für den Wert von Freiheit und Privatheit sein. Und sie zu verteidigen, erfordert eine digitale Agenda der liberalen Ordnungspolitik."