WISSING-Interview: Soli-Abbau ist eine Frage der Glaubwürdigkeit
Das FDP-Präsidiumsmitglied und Landeswirtschaftsminister Dr. Volker Wissing gab der „Welt“ (Donnerstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Jan Dams und Thorsten Jungholt:
Frage: Herr Wissing, früher trugen Sie an Ihrem Handgelenk einen Fitness-Tracker. Wo ist er hin?
Wissing: Er hat den Geist aufgeben.
Frage: Im Moment brauchen Sie den ohnehin nicht. Zeit für Sport bleibt doch während der Jamaika-Sondierungen nicht?
Wissing: Da haben Sie Recht. Wenn ich nicht direkt nach dem Aufstehen um sechs Uhr mal loslaufe, kommt Sport derzeit zu kurz angesichts der vielen Gesprächsrunden.
Frage: Was haben denn die vielen Runden gebracht? Wird Jamaika in Berlin Realität?
Wissing: Das hängt von der Bereitschaft unserer Gesprächspartner ab, sich auf unsere Kernanliegen einzulassen. Wir haben mit der Forderung, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen, eine finanzpolitische Trendwende vorgeschlagen. Unser Ziel ist es, die stark angestiegenen Steuereinnahmen zu nutzen, um Druck auf den Haushalt auszuüben. Wir wollen die ausufernden Staatsausgaben begrenzen und zugleich die Steuerzahler entlasten, damit mehr private Investitionen möglich werden.
Frage: Würden Sie sich vor die FDP-Parteibasis trauen, ohne die Abschaffung des Soli bis 2021 erreicht zu haben?
Wissing: Eine Beteiligung der Liberalen an einer Bundesregierung, die nicht wesentliche finanzpolitische Weichen neu stellt, ist für mich unvorstellbar. Das würde ich nicht unterstützen.
Frage: Die Soli-Streichung würde rund 20 Milliarden Euro weniger Staatseinnahmen bedeuten. Verstehen Sie, dass die anderen Parteien fragen: Was bleibt dann für unsere Projekte übrig?
Wissing: Der Abbau des Soli ist von allen Parteien versprochen worden und damit eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig ist dieser Schritt verfassungsrechtlich geboten, denn der Grund für diese Abgabe ist entfallen. Wir können niemandem vermitteln, dass der Soli-Abbau erst dann möglich wird, wenn der Staat so hohe Überschüsse erzielt, dass keinem Politiker mehr einfällt, wofür man das ganze Geld sonst ausgeben könnte. Und zu Ihrer Frage: Nicht nur die Steuermehreinnahmen der nächsten Jahre müssen in den Blick genommen werden, sondern auch die Ausgabenberge, die in den letzten Jahren aufgehäuft worden sind.
Frage: Sehen Sie eine Bereitschaft bei der Union, Projekte der großen Koalition wieder abzuwickeln?
Wissing: Ansonsten müssten sie die Gespräche mit uns nicht führen. Ich habe gleich zu Beginn der Sondierungen deutlich gemacht, dass für uns nicht nur die Spielräume der Zukunft Verhandlungsgegenstand sein können, sondern auch die haushaltsrelevanten Entscheidungen von Union und SPD. Für eine Fortführung der Politik der großen Koalition steht die FDP nicht zur Verfügung. Das ist Grundlage unserer Gespräche.
Frage: Ist eine Abfederung der Mindereinnahmen durch Anpassungen beim Spitzensteuersatz denkbar?
Wissing: Die FDP möchte Entlastungen durchsetzen, keine Erhöhungen.
Frage: Die Gespräche sind bislang von politischen Gegensätzen geprägt. Wie wollen Sie den Bürgern vermitteln, dass eine Jamaika-Regierung auch etwas Konstruktives sein, gar Charme entwickeln könnte?
Wissing: Ich habe in Rheinland-Pfalz eine Dreierkoalition zustande gebracht, die sich dadurch auszeichnet, in zentralen politischen Fragen einen Mehrwert für die Gesellschaft zu schaffen. Ein Bündnis aus vier Parteien auf Bundesebene kann nur erfolgreich sein, wenn man mehr erreicht als den kleinsten gemeinsamen Nenner. Ziel muss es sein, sich auf ein politisches Zukunftskonzept zu verständigen. Dazu gehört zum Beispiel, ökologische Nachhaltigkeitsziele mit den Prinzipien der Ökonomie in Einklang zu bringen. Das wäre der Mehrwert, den ich meine. Wenn wir klug verhandeln und zu Geschlossenheit finden, könnten wir gesellschaftliche Diskussionen befrieden und dem Land damit Stabilität und Planungssicherheit verschaffen – was für einen Wirtschaftsstandort essenziell ist.
Frage: Sie gelten als sehr rationaler Mensch,…
Wissing: …was meine Familie anders sieht. Dort heißt es immer, ich sei sehr emotional.
Frage: Da sind Sie doch bei Jamaika genau richtig. In den Sondierungen scheint es oft eher gefühlsgetrieben zuzugehen.
Wissing: In meinen Runden werbe ich dafür, dass sich jeder ehrlich macht, seine Position faktengestützt formuliert und dann auslotet, ob es auf dieser Grundlage Kompromisse gibt. Je detailgenauer man arbeitet, desto einfacher ist es, Konflikte aufzulösen. Der Kompromiss übrigens wird ja von vielen als schändlich diffamiert. Und gerade das ist er nicht. Er ist der Weg zum gesellschaftlichen Ausgleich und zum sozialen Frieden.
Frage: Nicht alle Herausforderungen einer Legislatur lassen sich in einem Koalitionsvertrag regeln. Nach den Erfahrungen der ersten Wochen: Gibt es mittlerweile einen Vorrat an Vertrauen unter den Handelnden, dass sich unerwartete Probleme gemeinsam werden lösen lassen?
Wissing: Ich kann nur hoffen, dass ein solches Vertrauen überall entsteht. Denn Sie haben recht: Ob Finanzkrise in der vorletzten oder Migrationskrise in der letzten Legislatur: Keine dieser dominierenden Herausforderungen stand im Koalitionsvertrag. Eine Regierung funktioniert nur, wenn es einen Willen zum gemeinsamen Gestalten gibt – im Idealfall über vier Jahre hinaus. Das heißt, jeder muss im Auge haben, auch dem Partner Erfolge zu gönnen. Wenn das nicht gelingt, sollten wir es lassen. Deshalb sind die langen Sondierungen nicht mal so falsch. Die Alternative wäre, sich schnell hinzusetzen, Unterschiede mit Formelkompromissen zuzukleistern und dann zu sagen: Wir schaffen das.
Frage: Christian Lindner sagte kürzlich, dass jede Partei das Finanzministerium führen dürfe in einer Jamaika-Koalition – nur die CDU nicht. Das ist eine nach den Erfahrungen von 2009 nachvollziehbare Position, nur spricht sie nicht für Vertrauen.
Wissing: Ich argumentiere anders. Ich habe keine Sorgen oder Ängste davor, dass die Union uns etwas Böses antut. Ich vertraue darauf, dass die FDP stark genug ist, ihre Anliegen in der Regierung durchzusetzen. Der FDP geht es darum, nicht den alten Fehler zu wiederholen, andere Ressorts zu übernehmen als die, für die man im Wahlkampf inhaltlich geworben hat. Es ist ein Selbstbetrug zu glauben, dass man in Ressorts, die eine andere Partei führt, wesentlich mitregieren kann.