WESTERWELLE-Interview für den "Stern"
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende und Spitzenkandidat für die Bundestagswahlen 2005
DR. GUIDO WESTERWELLE gab dem "Stern" (Donnerstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten HANS-ULRICH JÖRGES und HANS-MARTIN TILLACK:
Frage: Herr Westerwelle, die Zeichen stehen eher auf Schwarz-Gelb denn auf große Koalition. Fragt sich bloß: Wie sichtbar wird die FDP in einer kleinen Koalition überhaupt sein?
WESTERWELLE: Deutschland ist nach sieben Jahren Rot-Grün ein Sanierungsfall. Seien Sie sicher: Bei der notwendigen Sanierungsarbeit wird die FDP die Architektin sein.
Frage: Was ist für Sie unverzichtbar in einer Koalitionsvereinbarung?
WESTERWELLE: Ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem ist die Mutter aller Reformen. Wir dürfen nicht flickschustern, wir müssen das Steuersystem neu gründen. Daß das Konzept von Paul Kirchhof schon nach wenigen Tagen aus CDU und CSU infrage gestellt wurde, ist ein weiteres Argument für die Stärkung der FDP in einem schwarz-gelben Bündnis.
Frage: Machen Sie sich Kirchhofs Vorstellungen von 25 Prozent Flat Tax voll zu Eigen?
WESTERWELLE: Paul Kirchhof ist, was die Steuerpolitik angeht, ein Verbündeter im Geiste. Aber wir werben für unser Programm mit dem Solms-Tarif. Wir sagen: Das Fernziel ist die Flat Tax, die sich in Europa langfristig durchsetzen wird. Aber zum 1. Januar 2007 werden wir zunächst das machen, was geht: ein Steuersystem mit drei niedrigeren Stufensätzen und einheitlich hohen Freibeträgen für Erwachsene und endlich auch für Kinder, damit die Familien nicht länger diskriminiert werden. Einschließlich der Altersvorsorge wird bei unserem Steuermodell eine vierköpfige Familie erst ab einem Jahreseinkommen von 38 800 Euro Steuern zahlen. Eine Million rote Fahnen der SPD sind nicht so sozial wie das Steuermodell der FDP.
Frage: Wollen Sie Kirchhofs Flat Tax als Ziel in den Koalitionsvertrag schreiben?
WESTERWELLE: Selbstverständlich. Und so haben sich auch Frau Merkel und verschiedene andere Unionsspitzenpolitiker geäußert.
Frage: Wann wäre die Flat Tax möglich?
WESTERWELLE: Es wäre nicht seriös, wenn man für den zweiten Schritt einen Termin nennen würde, bevor man den ersten getan hat. Das ist davon abhängig, wie schnell der erste die Wirtschaft belebt.
Frage: Der von der Union geplanten Mehrwertsteuererhöhung müssen Sie sich aber beugen
WESTERWELLE: Sie unterschätzen die Entschlossenheit der FDP, die Mehrwertsteuererhöhung zu verhindern. Wir sind in bester Gesellschaft, auch von Herrn Kirchhof.
Frage: Stellt sich darüber die Koalitionsfrage?
WESTERWELLE: Wir werden die Union nicht in eine Situation bringen, daß sie in Koalitionsverhandlungen nur mit Gesichtsverlust auf unseren Kurs einschwenken könnte. Damit wäre das Scheitern programmiert. Deshalb tue ich das nicht. Aber wenn der Hamburger Wirtschaftssenator Gunnar Uldall sagt, die Union werde in Koalitionsverhandlungen steuerpolitisch auf die FDP zugehen müssen, dann weiß jeder genau, was er meint. Ich sehe gute Chancen. Denn in der CDU denkt mancher auch an die Landtagswahlen des nächsten Jahres.
Frage: Kirchhof schlägt zur Reform des Rentensystems die verbindliche Einführung einer privaten Zusatzvorsorge vor - wie bei einer Kfz-Versicherung. Übernimmt das die FDP?
WESTERWELLE: Wir sollten zunächst auf freiwillige Vorsorge setzen, stimuliert durch Anreize. Reicht das nicht aus, können wir über Weiteres nachdenken. Wir sind für drei Säulen der Alterssicherung, die umlagefinanzierte, die betriebliche und die kapitalgedeckte.
Frage: Die FDP tritt für die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit ein. In Ihrer Wahlkampfvereinbarung mit der Union ist aber nur von einer "grundlegenden Reform" die Rede.
WESTERWELLE: Wenn Florian Gerster, der frühere Chef der Bundesagentur für Arbeit, erklärt, diese Mammutbehörde sei nicht reformierbar, dann hat er Recht. Damit hat die FDP einen weiteren Kronzeugen. Wir wollen eine neue, effiziente Arbeitsvermittlung vor Ort in den Kommunen.
Frage: Können Sie die Blockaden gegen Biotechnologie und Stammzellforschung mit dieser
klerikal gelähmten Union auflösen?
WESTERWELLE: Ein Teil wird leichter gehen, ein anderer schwierig werden. Die Veränderung des Agrargentechnikgesetzes kann zügig vereinbart werden, schon zum 1. Januar 2006. In der Stammzellforschung will meine Partei die Chancen nutzen, um Krebs, Aids, Parkinson und Alzheimer besser bekämpfen zu können. Ich habe aber zu respektieren, daß Teile der Union an dieses Thema mit einer fast schon moraltheologischen Haltung herangehen. Also können wir hier ein ähnliches Verfahren wählen wie seinerzeit bei der Reform des Schwangerschaftsabbruchs und in der Koalitionsvereinbarung die Abstimmung als Gewissensentscheidung jedes Abgeordneten freigeben.
Frage: Sie haben bis jetzt nur Absichten der FDP beschrieben. Worauf kann sich der Wähler
wirklich verlassen?
WESTERWELLE: Auf einen Neuanfang, auf einen wirtschaftlichen Aufschwung, auf einen Aufbruch. Wir werden beispielsweise das Ladenschlußgesetz zum 1. Januar nächsten Jahres abschaffen. Wenn wir bei der Fußball-WM 2006 die Welt zu Gast haben, sollen die Menschen die Freiheit haben, einkaufen zu können, wann sie wollen. Das ist Vorfahrt für Arbeit.
Frage: Wird es einen Regierungsbeauftragten für den Abbau der Bürokratie geben?
WESTERWELLE: Ich habe viel Sympathie dafür, einen Bürokratie-TÜV einzurichten. Er kann im Justizministerium angesiedelt sein. Wir sollten sämtliche wirtschaftslenkenden Gesetze und Verordnungen, bis hin zu den Zwangsstatistiken, künftig mit einem Verfallsdatum versehen. Jeder, der die Verlängerung eines Gesetzes will, muß das dann vor der Öffentlichkeit plausibel begründen. Außerdem möchte ich erreichen, daß wir Genehmigungsverfahren durch Anmeldeverfahren ersetzen. Reagiert die Behörde nicht innerhalb einer bestimmten Frist, gilt das, was angemeldet wurde, auch als genehmigt.
Frage: Was wollen Sie in der Innen- und Rechtspolitik erreichen?
WESTERWELLE: Das Zugriffsrecht aller Leistungsbehörden auf die Stammdaten jedes Bankkontos, ohne daß ein Staatsanwalt oder Richter gefragt wird, muß fallen.
Frage: Und das Recht des Staates, entführte Flugzeuge abzuschießen?
WESTERWELLE: Ich bin, wie der Herr Bundespräsident, der Überzeugung, daß der Staat nicht gesetzlich Leben von Unschuldigen abwägen darf. Hier rechne ich ohnehin mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, das uns Liberalen Recht geben wird.
Frage: Adoptionsrecht für Schwule und Lesben?
WESTERWELLE: Die bayerische Staatsregierung hat gegen diese so genannte Stiefkindadoption bei gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften geklagt. Aber das wird nicht Haltung einer schwarz-gelben Regierung werden. Absoluten Vorrang hat das Wohl der Kinder, die behütet aufwachsen sollen. Mit der FDP als Partei der Toleranz wird es keine gesellschaftspolitische Rolle rückwärts in die 50er Jahre geben.
Frage: Welche Ministerposten braucht die FDP, um ihre Vorstellungen durchzusetzen?
WESTERWELLE: Ich bin der Überzeugung, daß das bewährte so genannte Spiegelprinzip in einer schwarz-gelben Regierung sinnvoll ist. Wenn der große Koalitionspartner das Kanzleramt hat, dann sollte der kleinere für das Auswärtige Amt Verantwortung übernehmen. Ebenso sinnvoll ist es, die Verantwortung für Wirtschaft und Finanzen zwischen den Partnern zu verteilen. Und es ist natürlich auch klug, wenn sowohl Union wie FDP Verantwortung für die Innen- und Rechtspolitik tragen.
Frage: Das heißt, die FDP übernimmt neben dem Außenministerium auch das Wirtschaftsressort, wenn Paul Kirchhof Finanzminister wird, und das Justizministerium, wenn Günther Beckstein Innenminister wird?
WESTERWELLE: Ich werde unsere Personalvorschläge auf dem FDP-Parteitag am Sonntag konkretisieren. Nur so viel: Wenn ich von Herrn Fischer höre, der Frieden sei in Gefahr, wenn die Opposition zum Zug komme, dann ist das ein peinliches Abschiedsgejammer. Der Frieden war bei liberalen Außenministern - von Walter Scheel über Hans-Dietrich Genscher bis Klaus Kinkel - in den allerbesten Händen.
Frage: Beanspruchen Sie als FDP-Chef das erste Zugriffsrecht auf die Ämter der Liberalen?
WESTERWELLE: Jeder Parteivorsitzende hat unbestritten dieses Recht, aber eben auch die Freiheit, es nicht wahrzunehmen.
Frage: Wollen Sie unbedingt in die Regierung, oder können Sie sich auch vorstellen, den Fraktionsvorsitz im Bundestag zu übernehmen?
WESTERWELLE: Ich bin mit meinen 43 Jahren, was meine persönlichen Ziele angeht, sehr gelassen und weiß: Ich werde die Aufgabe übernehmen, die am besten dazu beiträgt, daß es in Deutschland zu einem echten Neuanfang kommt.
Frage: Wo halten Sie sich denn für qualifiziert?
WESTERWELLE: Das soll man, schon aus Gründen der Bescheidenheit, nicht über sich selbst sagen.
Frage: Wir schließen messerscharf, daß Wolfgang Gerhardt Außenminister werden soll.
WESTERWELLE: Geduld bitte.
Frage: Und Sie Justizminister?
WESTERWELLE: Noch ein bißchen Geduld, nur bis zum Sonntag!