WESTERWELLE-Gastbeitrag für die "Frankfurter Rundschau"
Berlin. Das FDP-Präsidiumsmitglied Bundesaußenminister DR. GUIDO WESTERWELLE schrieb gemeinsam mit dem tunesischen Außenminister RAFIK BEN ABDESSALEM für die "Frankfurter Rundschau" (Montag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Mit Freiheit verantwortungsvoll umgehen
"Die Bilder, die in den vergangenen Tagen verbreitet wurden, haben uns aufgeschreckt und verstört. Sie machen traurig und wütend zugleich. Auf der einen Seite eine verletzende und wohl mit dem Ziel der bewussten Provokation verbreitete Darstellung des Propheten des Islam. Andererseits aufgehetzte Menschenmassen vor den Botschaften westlicher Staaten, die weder vor Gewalt noch Mord zurückschreckten. Wir haben mitansehen müssen, was religiös motivierter Extremismus und Fanatiker anzurichten vermögen.
Diese Bilder präsentieren eine verzerrte Wirklichkeit: In der westlichen Welt ebenso wie in den islamischen Staaten Nordafrikas, im Nahen Osten und in Asien sind es nur Minderheiten, die sich der Sprache der Konfrontation und der Bilder der Provokation bedienen, die Hass säen und blinde Gewalt ernten wollen.
In Wahrheit ist es anders als die Bilder suggerieren: Die große Mehrheit der Menschen auf beiden Seiten wünscht sich - wie wir - Demokratie und sucht wirkliche Lebenschancen. Die Menschen empfinden - wie wir - Abscheu für ein Video, das Menschen anderen Glaubens verunglimpft und mit üblen Vorurteilen beleidigt. Sie lehnen - wie wir - die hässliche Welle der Gewalt ab, die das ausgelöst hat.
Wir stellen dagegen gemeinsam eine Botschaft der Verständigung und der Toleranz. Wir sprechen im Namen der ganz großen Mehrheit der Menschen. Wir wenden uns in aller Entschiedenheit gegen Extremisten in unseren Ländern, die nur das Ziel verfolgen, einen tiefen Keil zwischen unsere islamisch und christlich geprägten Gesellschaften zu treiben.
Wir haben Verständnis für die Empörung vieler Muslime in der ganzen Welt. Wir verstehen die vielen Menschen, die friedlich gegen die Verunglimpfung ihrer Religion protestieren. Aber wir sind uns auch einig: Es gibt keine Rechtfertigung für die Ausbrüche von Gewalt der letzten Tage. Gewalt ist die falsche Antwort auf Praktiken, die ihrerseits verfehlt sind.
Wir müssen mit unserer Freiheit verantwortungsvoll umgehen. Die Meinungsfreiheit ist eines der höchsten Güter in jeder Demokratie. Gerade weil sie so bedeutend ist, darf sie nicht missbraucht werden, um Hass und Fanatismus zu verbreiten und die Voraussetzungen des Zusammenlebens anzutasten.
Der arabische Frühling hat in Tunesien und einigen anderen arabischen Staaten autoritäre Regime hinweggefegt. Es besteht die vielleicht einmalige Chance, auf den Trümmern der alten autokratischen Ordnung neue demokratische und pluralistische Gemeinwesen entstehen zu lassen. Das gelingt aber nur, wenn das mit Ernsthaftigkeit angegangen wird. Deshalb darf auch die hart erkämpfte neue Freiheit nicht als Einladung zu gewaltsamen Übergriffen gegen Andersdenkende und zur Erschütterung der Grundlagen der öffentlichen Ordnung missbraucht werden.
In Tunesien hat die Revolution ihren Anfang genommen und sich von Tunis aus in Windeseile in andere arabische Länder ausgebreitet. Der mit der Jasmin-Revolution in Gang gesetzte tiefgreifende Wandel ist erfolgreich auf den Weg gebracht. Damit besteht auch die historische Chance auf eine neue Qualität in den besonderen Beziehungen zwischen den Kulturen auf beiden Seiten des Mittelmeers, aufbauend auf Toleranz und gegenseitigem Respekt.
Wir stehen gemeinsam vor großen Aufgaben und Herausforderungen: Es geht um die Suche nach friedlichen Lösungen für die Konflikte im Nahen Osten, allen voran für die schreckliche Krise in Syrien. Es geht um die Schaffung von wirklichen Chancen für ein Leben in Würde und Sicherheit. Und es geht um die kontinuierliche Arbeit an einer Kultur der Toleranz, des Dialogs und des Respekts in unseren Gesellschaften und zwischen unseren Völkern.
Wir dürfen nicht zulassen, dass radikale Kräfte die großen Chancen verspielen, die in der Kraft unserer Zusammenarbeit und im Wunsch nach einem partnerschaftlichen Zusammenleben als Nationen und Völker liegen.
Wir alle streben nach einer Welt, die auf den Werten der Toleranz, der Integration und der gegenseitigen Anerkennung beruht, weit entfernt von jeder Art von Hass, Gewalt und Fanatismus."