27.03.2020FDPFDP

THEURER-Interview: Abstand und Zusammenrücken

Das FDP-Präsidiumsmitglied Michael Theurer gab der „Südwest Presse“ (Freitag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Manuel Fuchs.

Frage: Herr Theurer, was genau hat der Bundestag am Mittwochabend beschlossen?

Theurer: Wir haben gestern mit einer sehr breiten Mehrheit einen Nachtragshaushalt des Bundes mit einer Neuverschuldung von 156 Milliarden Euro beschlossen – das ist ein halber Bundeshaushalt. Insgesamt belaufen sich die Garantien, Kredite und Direkthilfen auf mehr als 1,3 Billionen Euro.

Frage: Sie sagen „sehr breite Mehrheit“ – wie lief die Abstimmung?

Theurer: Wir haben körperlich Abstand gehalten, sind aber politisch zusammengerückt. 469 Abgeordnete haben dafür gestimmt, 55 haben sich enthalten, drei waren dagegen (Anmerkung der Redaktion: Die Enthaltungen und Gegenstimmen kamen aus der AfD-Fraktion und von einer jetzt fraktionslosen ehemaligen AfD-Abgeordneten.)

Frage: Wohin soll das Geld fließen?

Theurer: Etwa 600 Milliarden Euro sind Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), etwa 600 Milliarden der neue Wirtschaftsstabilisierungsfonds. Er soll die Liquiditätsversorgung der Unternehmen sichern, und damit die Arbeitsplätze. Es gibt Unternehmen, die von jetzt auf gleich keinen Umsatz mehr haben. In normalen Wirtschaftskrisen geht der Umsatz über einen gewissen Zeitraum um fünf, 20 oder 50 Prozent runter, aber einen Sturz auf Null gibt es selten. Das ist leider jetzt in einigen Branchen der Fall, zum Beispiel im stationären Einzelhandel. Nehmen Sie ein Modegeschäft: Es muss wegen Corona schließen, hat also keine Umsätze mehr. Die Miete wird trotzdem fällig. Die meisten mittelständischen Unternehmen haben nur für etwa einen Monat finanzielle Reserven; da droht jetzt eine Pleitewelle. Zu glauben, hinterher – wann auch immer das ist – wären die Unternehmen alle wieder oder immer noch da, das ist ein Trugschluss.

Frage: Also fließt das Geld an Unternehmen, damit die ihre Angestellten weiterbezahlen können und die privaten Haushalte liquide bleiben?

Theurer: Jein. Die beschlossenen Hilfen ruhen auf drei Säulen: erstens Gesundheitsschutz, zweitens Sozialschutz und drittens die genannten Liquiditätshilfen für die Wirtschaft. Beim Sozialschutz haben wir das Kurzarbeitergeld wieder in Gang gesetzt, das in der Wirtschafts- und Finanzkrise schon geholfen hat. Über Nacht haben aktuell deutschlandweit über 11 000 Unternehmen bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) einen Antrag auf Kurzarbeit eingereicht. Für die Größenordnung: 2018 hatten in Baden-Württemberg 60 Unternehmen Kurzarbeit gemeldet; nach Eintrübungen in der Konjunkturkrise waren es 600. Aktuell reden wir von etwa 2000 Unternehmen, allein in Baden-Württemberg. Da gehen die Sozialkassen rein und der Staat, damit werden Einkommen sichergestellt. Man darf aber nicht vergessen: Arbeitnehmer müssen Einbußen von bis zu 40 Prozent hinnehmen.

Frage: Welche Unterstützung erhalten private Arbeitnehmerhaushalte?

Theurer: Der Familienzuschlag wird verbessert, indem der Berechnung nur noch das aktuelle Einkommen in Kurzarbeitsphasen zugrundeliegt. Der Zugang zur Grundsicherung und zum Wohngeld ist erweitert worden, damit Mieter ihre Miete bezahlen können. Man merkt, wie da eine Kettenreaktion ausgelöst wird. Für viele Soloselbstständige, Freiberufler und Kleinstunternehmer ist oft die Grundsicherung das letzte Mittel. Für sie gibt es aber auch einen Notfallfonds, fünf Milliarden Euro Soforthilfe aus dem Land, der Bund schüttet in den Bundesländern insgesamt 50 Milliarden aus. Die helfen zumindest, ein paar Monate über Wasser zu bleiben. Denken Sie an Dolmetscher, Reiseleiter, Künstler – denen wird es schwerfallen, das jemals wieder reinzuholen. Ein Orchestermusiker zum Beispiel kann im nächsten Jahr nicht einfach doppelt so viele Konzerte geben, das funktioniert schon rein physisch nicht.

Frage: Wo sehen Sie den zentralen Hilfebedarf im Nordschwarzwald, im Landkreis Freudenstadt, in Horb?

Theurer: Am Anfang war für diesen Fonds die Grenze bei 2000 Beschäftigten. Da wären ganz viele Unternehmen unserer Region nicht zum Zug gekommen. Es gibt jetzt noch eine Lücke für Unternehmen mit mehr als zehn und weniger als 250 Beschäftigten, die leider nur an die KfW verwiesen werden. Hier besteht noch Handlungsbedarf. Im Nordschwarzwald sind alle auf die eine oder andere Art betroffen, keiner ist ausgenommen. Ich gehe davon aus, dass die großen Player der Region einen gewissen Puffer haben. Aber es wird sehr viel davon abhängen, dass die Produktion nicht komplett zusammenbricht.

Frage: Welche Gefahren sehen Sie, dass das geschehen könnte?

Theurer: Zum Beispiel könnten Zulieferketten aus Italien oder Frankreich für längere Zeit unterbrochen werden. Die Versorgung mit Strom und Wasser, die Entsorgung von Abwasser und Abfall funktionieren hierzulande im Moment zum Glück noch gut. Da sind auch besondere Vorkehrungen getroffen worden, zum Beispiel Wechselschichten, deren Mitglieder einander nicht begegnen dürfen. Gleiches gilt für die Lebensmittelversorgung und die Herstellung medizinischer Produkte. Die Bundesregierung hat beschlossen, die Beatmungsplätze zu verdoppeln. Der Weltmarktführer in Norddeutschland fährt Sonderschichten und braucht auch Mitarbeiter. Da entsteht dann kein Bedarf an staatlicher Hilfe; die unbürokratische Arbeitnehmerüberlassung ist entscheidend. Not am Mann ist in der Produktion von Schutzausrüstung, Masken und Desinfektionsmitteln. Arbeitsminister Hubertus Heil hat zugesagt, dass die BA hier sehr flexibel agieren wird.

Frage: Wie lange wird der aktuelle Ausnahmezustand nach Ihrer Schätzung noch andauern?

Theurer: Das ist die ganz große und entscheidende Frage. Ich weiß es nicht. Die aktuellen drakonischen Maßnahmen, diese Eingriffe in Grundrechte und in unternehmerische Freiheiten sind absolut notwendig, um eine Überlastung unseres Gesundheitssystems zu verhindern. Das ist natürlich für die gesamte deutsche Wirtschaft, für die Arbeitsplätze und für unsere Einkommen ein Stresstest mit ungewissem Ausgang. Ich weiß aber, dass wir den Shutdown nicht ein halbes Jahr oder ein Jahr durchhalten, ohne unsere Wirtschaft zu ruinieren. Wenn andere Länder weitermachen, könnte es sein, dass wir sehr nachhaltig Marktanteile verlieren. Deshalb muss man sich China jetzt genau anschauen, die lassen das ja unter schweren Sicherheitsbedingungen langsam wieder anlaufen.

Frage: Wie stellen Sie sich das mit dem „genau anschauen“ denn vor?

Theurer: Wir müssen mal sehen, wie die Einschränkungen wirken und wie diszipliniert sich die Bevölkerung verhält und wie schnell Impfstoffe und Schnelltests entwickelt werden können. Vielleicht lässt sich eine CNC-Maschine ja in Schutzkleidung und mit Mundschutz bedienen? Wie das mit Montageteams zum Beispiel am Band beim Daimler ist, kann im Moment niemand beantworten.
Die Fachleute setzen sehr stark darauf, dass die Tests besser werden, auch Antikörpertests sollen entwickelt werden. Dass es gelingt, zielgenauere Tests zu entwickeln und Laborkapazitäten dafür umzuwidmen, wird eine Grundvoraussetzung sein, um zumindest Teile unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wieder hochzufahren. Ich rechne aber damit, dass Einschränkungen bei Versammlungen und Zusammenkünften noch länger bestehen bleiben. Vielleich finden wir aber auch Chancen in der Krise, zum Beispiel bei der Digitalisierung: Wir hatten kürzlich eine Fraktionssitzung mit 70 anwesenden Mitgliedern über Video. Da wird natürlich sofort die Bandbreitendiskussion wieder aktuell. Deshalb dürfen wir auch in der jetzigen Situation nicht aufhören, solche Baustellen voranzutreiben.

Frage: Haben die politisch Verantwortlichen anfangs zu lange gezögert, bis Maßnahmen ergriffen wurden?

Theurer: Vielleicht haben viele Entscheidungsträger den Ernst der Lage unterschätzt. Ich habe früh gewarnt und schon Mitte Februar einen Krisengipfel gefordert. Jetzt ist aber nicht der Zeitpunkt, um zu lamentieren, dass am Anfang vielleicht wertvolle Zeit verloren gegangen ist. Das klären wir wann anders und ziehen Schlüsse daraus. Jetzt ist der Zeitpunkt, da wir als Oppositionspartei in Stuttgart, Berlin und anderswo die Maßnahmen der Regierungen beherzt unterstützen und mit konstruktiver Kritik begleiten.

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