LINDNER/BUTTERWEGGE-Streitgespräch über zehn Jahre Hartz IV
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER und der Armutsforscher CHRISTOPH BUTTERWEGGE im Streitgespräch für die „Rheinische Post“ (Montag-Ausgabe). Die Fragen stellten MARTIN KESSLER und MAXIMILIAN PLÜCK:
Frage: Zehn Jahre nach der Einführung der Hartz-IV-Gesetze ist Deutschland auf dem Weg zur Vollbeschäftigung. Ist das nicht ein grandioser Erfolg, Herr Butterwegge?
BUTTERWEGGE: Hartz IV hat mit dem Rückgang der Massenarbeitslosigkeit, die zudem immer noch besteht, nicht viel zu tun. Menschen, die bis Ende 2004 Arbeitslosenhilfe erhielten, hatten zuvor Versicherungsbeiträge bezahlt. Seit dem Inkrafttreten von Hartz IV behandelt man sie wie Sozialhilfeempfänger. Sie gelten gemeinhin als Faulenzer, Drückeberger und Schmarotzer. Auf jeden Fall sind sie Fürsorgeempfänger und leiden darunter, dass die Gesellschaft sie mehr oder weniger abgeschrieben hat. So gibt es Witze über „Hartzer“, die an Zynismus kaum zu überbieten sind.
Frage: Ist das der Preis, den man für die Reformen bezahlen muss, Herr Lindner?
LINDNER: Die Bilanz der Agenda 2010 ist positiv. Das Mehr an Freiheit hat unser Land wettbewerbsfähiger gemacht und Menschen in Arbeit gebracht. Und niemand muss sich schämen, Hartz IV zu bekommen, wenn er sich als Gegenleistung um Arbeit bemüht. Da verteidige ich jeden. Die neue Flexibilität am Arbeitsmarkt hat dafür bessere Einstiegschancen gebracht. Deshalb verdienen die Menschen in Minijobs, Teilzeit oder Zeitarbeit auch allen Respekt. Denn Arbeit ist nicht nur eine Quelle für Einkommen, sondern sie gibt auch das Gefühl, gebraucht zu werden.
BUTTERWEGGE: Bei dem Letzteren stimme ich dir voll zu. Es ist aber falsch zu behaupten, dass sich die Einstiegschancen für Arbeitslose verbessert hätten. Trotz Hartz IV ist jeder dritte Mensch ohne Job ein Langzeitarbeitsloser. Jeder zweite Hartz-IV-Bezieher bekommt die Fürsorgeleistung schon vier Jahre oder noch länger. Das soziale Aufstiegsversprechen, das mit Hartz IV verbunden war, ist gebrochen worden. Statt zu fördern und zu fordern gibt es nur Druck. Dazu passt auch, dass die Ausgaben für berufliche Weiterbildung massiv gekürzt wurden. Schon bald wurden bloß noch ein Drittel der früher Anspruchsberechtigten gefördert.
LINDNER: Die Rekordbeschäftigung spricht für sich. 3,3 Millionen Menschen haben einen neuen Job gefunden. Unser Problem ist die Langzeitarbeitslosigkeit. Die hängt auch damit zusammen, dass es beispielsweise im Osten Regionen gibt, die eine wirtschaftsfreundliche Politik für Arbeitsplätze brauchen. Wie du bin ich mit der Bilanz beim Fördern unzufrieden. Aber aus anderen Gründen. Ich halte es für würdelos, wenn jemand das dritte Bewerbungstraining absolviert. Das ist Verschwendung von Geld der Beitragszahler und Lebenszeit des Arbeitslosen.
BUTTERWEGGE: Kurze Trainings liegen jetzt im Trend. Vorher wurden mehrjährige Umschulungen bezahlt. Arbeitsagenturen und Jobcenter setzen hauptsächlich auf jene, die leicht vermittelbar sind. Um die anderen – Junge, Alte, Migranten, Behinderte – kümmert sich niemand.
LINDNER: Mehr tun müssen wir für die 1,5 Millionen jungen Leute zwischen 25 und 35 Jahren, die keine Schul- und Berufsabschlüsse besitzen. Um die nachzuholen, brauchen wir eine Qualifikationsoffensive. Das ist gut investiertes Geld. Stattdessen kommt der flächendenkende Mindestlohn, der für diese Gruppe die Hürde noch höher legt. Davor hat sogar die Caritas gewarnt. Bei Umschulungen für Menschen, die schon eine Ausbildung haben, bin ich dagegen skeptisch. Das geht oft am Markt vorbei. Wir müssen vielmehr allen einen schrittweisen Wiedereinstieg ermöglichen, die aufgrund geringer Qualifikation, eines Schicksalsschlags oder einer Erkrankung ohne Arbeit waren. Das geht eben nicht auf einen Schlag – von 0 auf 40 Stunden, unbefristet, gut bezahlt. Deshalb bin ich gegen die Verteufelung von Teilzeit, Zeitarbeit, befristeten Verträgen oder Minijobs, die die Grünen zuletzt gleich ganz verbieten wollten.
Frage: Gerade mit diesen Instrumenten haben die Arbeitgeber großen Missbrauch getrieben.
LINDNER: Wo Freiheiten missbraucht werden, etwa um Lohnsubventionen einzustreichen, muss man faire Regeln durchsetzen. Deshalb hatte ja die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung untersagt, ganze Belegschaften zu entlassen und in Zeitarbeit wieder einzustellen.
Frage: Was wollen Sie dann aber zusätzlich noch tun?
LINDNER: Es geht momentan darum, die Flexibilität zu erhalten. Wir erleben ja den Trend, dass alles zurückgedreht wird. Der Mindestlohn quer durch alle Branchen ohne Rücksicht auf regionale Besonderheiten ist nur ein Beispiel. Auch Zeitarbeit und Werksverträge sollen stranguliert werden. Wer die Agenda 2010 noch verteidigt gegen SPD, CDU, Grüne und Linkspartei, ist fast avantgardistisch.
BUTTERWEGGE: Avantgardistisch waren diese Reformen höchstens für Unternehmer, Manager und Aktionäre. Heute befindet sich fast jeder vierte Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Außerdem ist der Mindestlohn kein Einheitslohn – jeder Arbeitgeber kann gern mehr zahlen. Den Langzeitarbeitslosen hilft der Mindestlohn am wenigsten. Arbeitgeber haben nämlich die Möglichkeit, den Langzeitarbeitslosen nach einem halben Jahr durch einen anderen zu ersetzen, weil sie sonst fortan den Mindestlohn bezahlen müssten. Das ist Lohndumping durch die Drehtür. Nur fünf Prozent der Arbeitslosengeld-II-Bezieher gelangen übrigens durch den Mindestlohn aus Hartz IV heraus. Das ist ein Armutszeugnis für den Mindestlohn der große Koalition.
Frage: Warum soll ein Unternehmer Leute einstellen soll, die ihm wegen ihrer niedrigen Produktivität weniger bringen als sie an Mindestlohn kosten?
BUTTERWEGGE: Das ist doch ein Ammenmärchen. Hat der Top-Manager, der 15 Millionen Euro im Jahr verdient, wirklich eine Produktivität, die ein paar hundert Mal höher ist als die eines Hilfsarbeiters? Die deutsche Volkswirtschaft ist aufgrund des Zusammenwirkens aller Beschäftigten hochproduktiv, wie man an ihren Exporterfolgen sieht.
Frage: Danach wäre die Agenda 2010 gar nicht nötig gewesen, Herr Lindner?
LINDNER: Geringe Löhne sind in der Exportwirtschaft oder im Handwerk gar kein Thema – da wird ordentlich gezahlt. Beim Niedriglohnsektor geht um Menschen mit geringer Qualifikation. Es geht um diejenigen, die als Rentner oder Student etwas dazuverdienen wollen. Oder um die Frau, die mit dem Minijob in der Bäckerei etwas zum Familieneinkommen beitragen will, um die Wohnung schneller abzubezahlen. Das ist in Millionen Fällen der Niedriglohnsektor, den du beklagst.
BUTTERWEGGE: Drei Viertel aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor haben eine abgeschlossene Berufsausbildung, elf Prozent sogar einen Hochschulabschluss. Der Rückgang der statistisch erfassten Arbeitslosigkeit hat mit Hartz IV so viel zu tun wie die höhere Zahl der Geburten mit der höheren Zahl in Deutschland nistender Störche. Hingegen hat sich die Kinderarmut seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 bis zum Jahr 2007 verdoppelt. Zugleich ist die Armutsquote in Deutschland heute deutlich höher als damals. Insofern hat die US-Amerikanisierung des Arbeitsmarktes und des Sozialstaates zu einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur geführt. Unsere Gesellschaft hat sich tiefer in Arm und Reich gespalten.
LINDNER: Tatsache ist, dass die Sozialausgaben gestiegen sind, wir zwischen Arm und Reich enorm umverteilen und ein Drittel der gesamten Wirtschaftskraft für soziale Zwecke verwenden. Das größte Risiko für Armut ist nicht der Niedriglohnsektor, sondern die Arbeitslosigkeit. Und die ist ein Ergebnis von Bildungsarmut. Wer Armut beseitigen will, muss nicht immer mehr vom Wohlfahrtsstaat umverteilen lassen, sondern Bildung stärken und Arbeitsplätze schaffen.
Frage: Herr Butterwegge, wie würden Sie das Hartz-IV-System reformieren?
BUTTERWEGGE: Am liebsten würde ich es rückabwickeln. Wir benötigen eine den Lebensstandard sichernde Lohnersatzleistung – ganz so, wie es früher die Arbeitslosenhilfe war. Ich bin aber kein Phantast, deshalb ist die realistischere Forderung ein Regelsatz von 500 Euro plus Erstattung der Miet-, Energie- und Heizkosten. Zudem muss die Sanktionspraxis liberalisiert werden. Einem Unter-25-Jährigen bei der zweiten Pflichtverletzung die Regelleistungen wie auch die Miet- und Heizkosten zu streichen bedeutet, dass der Staat selbst Obdachlosigkeit produziert. Jährlich gibt es ungefähr 10 000 Totalsanktionen.
Frage: Und wo bleibt das Fordern?
BUTTERWEGGE: Ich bin kein Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens. Wer aufgrund seiner Ausbildung, seiner gesundheitlichen Konstitution und seiner psychischen Verfasstheit in der Lage ist, einer Arbeit nachzugehen, sollte dies auch tun. Ich bin aber dagegen, dass man einen arbeitslosen Ingenieur zwingt, den Park zu fegen, damit er „freiwillig“ auf staatliche Leistungen verzichtet. Wir benötigen wieder einen Berufs- und Qualifikationsschutz auch für länger Arbeitslose.
Frage: Herr Lindner, welche Systemänderungen wünschen Sie sich?
LINDNER: Wir sollten wir die Flexibilität am Arbeitsmarkt erhalten und zusätzliche Anreize schaffen, damit Menschen diese Flexibilität auch nutzen – etwa durch verbesserte Hinzuverdienstmöglichkeiten zu Hartz IV. Wer arbeitet, muss am Ende auch spürbar mehr in der Tasche haben. Außerdem sollten wir die vielen Sozialleistungen mit der großen Bürokratie vereinfachen. Am besten wäre ein transparentes System beim Finanzamt, also eine Art negative Einkommenssteuer, bei der man bei geringem Einkommen etwas ausbezahlt bekommt.
Frage: Muss der Diplomingenieur in Ihrem System auch den Park fegen?
LINDNER: In Zeiten des Fachkräftemangels wird der Ingenieur woanders gebraucht. Die Frage nach der Zumutbarkeit sollte man demjenigen stellen, der den Park schon seit Jahren fegt. Wie denkt er wohl darüber, dass er Steuern und Sozialabgaben zahlen muss, während seine Arbeit für einen anderen als unzumutbar gilt?